Der Schwarzwald-Fall von 1890: Geschwister auf dem Dachboden gefangen gehalten

Es ist unheimlich wie ein Ritual, wie ein einziger Geist, verteilt auf vier Körper. Während Silas spricht, wandert Thorns Blick zur Seite des Hauses. Dort befindet sich eine Feuerstelle, die wie eine einfache Grube aussieht. Doch die Erde rundherum ist schwarz und glatt, als wäre dort oft und viel verbrannt worden.

Etwas Weißes ragt aus dem verkohlten Boden. Ein kleines Stück Papier, halb im Aschebrei vergraben. Torn stellt eine absichtlich überkomplizierte Frage zu Wasserrechten. Die Brüder wenden gleichzeitig die Köpfe, um auf einen Bach in der Ferne zu deuten. Genau in diesem Augenblick tritt Thorn zwei Schritte näher an die Feuerstelle.

Das Stück Papier ist angekohlt, aber nicht vollständig zerstört. Er erkennt Linien darauf. Linien und Namen. Ein Stammbaum. Ein Stammbaum, der sich in Schleifen zieht. Er berührt das Papier nicht, doch das Bild brennt sich in seinen Gedanken ein, wie ein Brandzeichen. Die Brüder drehen sich wieder zu ihm um, alle gleichzeitig. Es ist als falle eine Tür ins Schloss.

Silas erklärt mit glatter Stimme, daß sie keine Hilfe des Bezirks benötigen, daß sie rechtschaffende, gottesfürchtige Männer sein, dass sie ihre Ruhe wollten. Thorn nickt, als sei alles zufriedenstellend. Dann wendet er sich zum Gehen, lässt seinen Fuß beiläufig durch die Asche streifen, sodass das Stück Pergament sich tiefer in den Boden schiebt. Versteckt sicher für später.

Auf dem Rückweg spürt Thorn den Nebel wie ein feuchtes Tuch auf seinem Gesicht. Er reitet schneller als beim Hinweg und hält erst an, als das Haus hinter ihm im Weiß verschwunden ist. In seinem Büro angekommen, holt er den einzigen Menschen, dem er vorbehaltlos vertraut, seinen stellvertretenden Beamten Kellum Bergner, einen schweigsamen Mann, der mehr sieht, als er sagt.

Gemeinsam kehren sie noch in derselben Nacht zur Feuerstelle zurück. Der Nebel ist dünner geworden. Torn kniet sich nieder und löst vorsichtig die verbrannte Seite aus der Asche. Sie bricht an einer Ecke, aber der wichtigste Teil bleibt erhalten. Die Linien, die Namen und diese furchtbare Struktur, die sich immer wieder um sich selbst windet. Zurück im Büro breiten sie das Blatt unter drei Lampen aus.

Kellum sagt nichts, aber seine Hände zittern. Thorn liest, bis er sicher ist. Sechs Generationen, Bruder und Schwester, wieder und wieder. Ein Stammbaum wie eine Schlinge, eine Geschlechterfolge, die absichtlich verkrümmt wurde, nicht verwahrlost, nicht irrtümlich, sondern geplant.

Thorn schreibt einen einzigen Satz in sein Fallbuch. Beweise für absichtsvolle, wiederholte Blutsverwandtschaft. Durchsuchungsbefehl sofort erforderlich. Rettungseinsatz. Denn jetzt weiß er es. Das Gesicht im Fenster war kein Geist. Es war ein Gefangener. Und irgendwo hinter diesen eisenbeschlagenen Türen warten Menschen, deren Leben in der Stille begraben wurde.

Drei Wochen vergehen und jede Stunde davon nagt Anrichter Elias Thorn wie ein unaufhörlicher Zahn. Während er auf den Durchsuchungsbefehl wartet, schläft er kaum, ist schlecht und liest das verkohlte Fragment des Stammbaums so oft, dass er einzelne Strichführungen auswendig kennt. Die Linien darin winden sich wie Adern, die nicht Leben transportieren, sondern verderben.

Der Bezirksrichter Whitfield, ein erfahrener Mann, der seit zwei Jahrzehnten im südlichen Badenverfahren leitet, zögert zunächst, so ungeheuerlich erscheinen die Anschuldigungen. Erst nach einer zweiten detaillierten Durchsicht aller Dokumente setzt er seine Unterschrift unter den Befehl und schreibt am Randiz, deren zittrige Schrift von seiner inneren Erschütterung zeugt.

Zum ersten Mal fürchte ich, was das Gesetz finden wird. Mehr als das, was es verfehlen könnte. An einem trübgrauen Morgen im Dezember sattorn sein Pferd. Neben ihm reitet Kalum Bergner. Sie sind zu zweit. Und Thorn hat bewußt auf weitere Beamte verzichtet.

Er weiß, zu viele Männer würden die Brüder warnen, würden Lärm machen, würden das fragile Gleichgewicht stören. Die Wahrheit, das spürt er, darf sich nicht im Tumult verstecken können. Das Dunkelgrundtal empfängt sie mit derselben schweigenden Nebeldecke wie zuvor. Doch heute ist die Luft härter, kälter und Thorn hat das Gefühl, der Wald halte den Atem an.

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