Der Horror ist nicht versteckt. Er steht ihm gegenüber, atmet, zittert. Thorn kann keinen Ton hervorbringen. Er streckt nur die Hand aus. Die älteste Frau, grauhaarig, die Haut pergamentd dünn, hebt zögerlich ihre Finger. Sie berühren sich. Warm, echt. Ein Beweis, dass dies kein Albtraum ist. Es ist Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit, die jahrzehntelang unter einem Dach aus Schwarzwaldannen eingesperrt war.
Die Dachkammer ist kein Raum, sondern ein über Jahrzehnte gewachsener Albtraum, der die Form eines Zimmers angenommen hat. Erst als Kum mit der Laterne nachkommt, wird das Ganze sichtbar und das fahle Licht lässt nichts milderscheinen. Im Gegenteil, es enthüllt die Grausamkeit mit einer Klarheit, die Torn körperlich schwanken lässt.
Die drei Frauen sitzen auf dünnen Strohlagen, deren Färbung zeigt, dass sie unzählige Male ausgemärgelte Körper getragen haben. Ihre Gliedmaßen sind so hager, dass die Knochen unter der Haut hervortreten wie die Rippen alter Frachtkisten. Die Haut an ihren Handgelenken ist wund, vernt, eingefallen, direkt in die Dielenbretter geschlagen.
Sieht torn drei eiserne Ringe, an denen alte Ledermanschetten befestigt sind. Die Riemen sind so abgewetzt, als hätten sie tausende Male Zug ausgehalten. Die Lederkanten sind dunkel von altem Blut und Schweiß. Die Ketten reichen gerade weit genug. Zum Eimer in der Ecke, zu den Kindern, zur Tür, die sie nie öffnen konnten. Aber nicht einen Schritt weiter.
Thorn kämpft gegen das Brennen in seiner Kehle. Wut, Ekel, Mitgefühl und der lähmende Schock mischen sich zu einer aufgeheizten Stille, die selbst der Atem der Frauen nicht durchbricht. Kellum hebt die Laterne höher und das Licht trifft einen Teil der Wand. Zuerst wirken die Linien chaotisch, dann erkennt Thorn das Muster.
Es sind Striche, tausende, zehntausende in Fünfergruppen eingeritzt, Woche um Woche, Jahr um Jahr, aufgetragen wie die Jahresringe eines Baumes, der nicht wachsen durfte. Torn tritt näher, berührt vorsichtig die Holzoberfläche. Die Kerben sind glatt geworden wie polierte Rillen, als hätte jemand immer wieder darüber gestrichen. Er zählt grob.
Er kommt auf überzehntausend Markierungen, zehntausend Tage, sie Jahre, fast drei Jahrzehnte. Die älteste Frau, sie sieht alt aus, doch Thorn weiß, es ist der Hunger, der sie alt gemacht hat. Hebt langsam den Kopf. Ihre Stimme ist brüchig, kaum mehr als ein Hauch. Wir haben gewartet. Thorn muß sich niederknieen, um sie überhaupt zu verstehen, bevor er antworten kann.
spricht eine der jüngeren Frauen, kaum älter als 20, doch mit Augen, die das Alter von Leid reflektieren. Sie flüstert: “Heute ist Dienstag.” Thorn sieht Kellum an, der ebenso ratlos wirkt. Dienstag. Was bedeutet das? Die Antwort kommt aus dem Mund der ältesten Frau, deren Stimme von jahrelanger Stille zerschnitten wurde.
Dienstag ist mein Tag. Ihr Tonfall ist nicht erklärend, nicht entschuldigend. Es ist die nüchterne Benennung eines Systems. Thorn versteht zuerst nicht. Doch als er den Blick über die Kinder schweifen lässt, über ihre deformierten Hände, die verkrümmten Beinchen, die gespaltenen Gaumen, die verdrehten Wirbelsäulen, sickert die Bedeutung in ihn hinein wie Eis in offene Wunden.
Ein Zeitplan, ein Rotationsprinzip, eine Ordnung. So kalt, so methodisch, daß ihm der Atem stockt. Kellum geht zum Fenster, einem winzigen Spalt unter dem Dach und entdeckt eine alte Truhe aus Zedernholz. Er öffnet sie und beide erstarren. Darin liegt ein großes in ledergebundenes Buch. Schwer, abgenutzt, das Leder eingerissen und speckig von Jahrzehntelangem Gebrauch.
Torn hebt es heraus wie etwas heiliges und abscheuliches zugleich. Auf der ersten Seite steht in alter Schrift die Blutordnung Aufzeichnung der Linie Rodenbacher. Begonnen im Jahre des Herrn 1832. Thorn blättert weiter und das was er dort sieht schlimmer als die Realität der Dachkammer selbst. Es ist der Beweis, dass diese Hölle nicht zufällig entstand.
Sie wurde geplant, über Generationen weitergegeben, dokumentiert. Das Buch enthält Stammbäume, nicht als bloße Familienchronik, sondern als religiöses Manifest. Das Blut reinhalten, dem göttlichen Plan folgen, fremdes Meiden. Das Fleisch erwählt sich seines gleichen. Darunter Tabellen, Namen, Geschwisterpaare, Geburten, die wie Viehzucht festgehalten sind, Notizen über Kinder, die als unrein oder untauglich markiert wurden, durchgestrichen mit einem stoischen Strich Todesdaten.