Neben manchen Namen steht nur ein kleines Kreuz. Ein Satz lässt Thorn die Hände zittern. Nur die reinen Früchte bewahren, die Fehlgeborenen dem Wald zurückgeben, das heißt aussetzen, sterben lassen. Die elf Kinder hier oben, die Hälfte dessen, was geboren wurde. Die anderen elf verschwunden im Wald. Thorn spürt, wie sich ein kalter Schwindel in seinem Nacken sammelt.
Er schließt das Buch mit einem dumpfen Schlag. Wir bringen euch hinaus, preßt er hervor. Und auch wenn er weiß, es klingt unzureichend, ist es das einzige, was er sagen kann. Während Thorn liest, hilft Kellum bereits, die Frauen und Kinder einer nach dem anderen hinunterzuführen. Jede Berührung ist vorsichtig, fast ehrfürchtig. Die Frauen schrecken nicht zurück.
Sie sind zu müde, zu erschöpft, zu sehr an Schmerz gewöhnt, um noch Angst vor fremden Händen zu haben. Als sie das Freie erreichen, wirkt das graue Tageslicht wie ein Schlag. Einige Kinder kneifen die Augen fest zu, andere starren mit einem Ausdruck, der an Tiere erinnert, die nie Licht gesehen haben.
Vor der Haustür sitzen Hezekiel und Jubal bereits gefesselt. Kellum hatte sie ohne Widerstand festgenommen. Ihre Gesichter zeigen keine Regung, keine Wut, keine Scham. Jubal blinzelt gerade einmal. Hekkiel sieht Torn sogar fast mild an, als wolle er sagen: “Ihr versteht nicht, dass wir recht hatten.” Silas und Malachias kommen kurze Zeit später vom Feld zurück.
Auch sie leisten keinen Widerstand, kein Geschrei, keine Fluchtversuche, als hätte man ihnen vorher gesagt, dass dies geschehen würde und sie es ohne weiteres akzeptieren. Silas hebt den Blick, als Thorn an ihm vorbeigeht. Seine Worte sind ruhig, ohne Zittern. Wir haben getan, was Gott verlangte. Thorn ignoriert ihn, denn wenn er jetzt antwortet, würde er etwas sagen, was ein Richter nicht sagen darf.
Stattdessen befielt er Kem einen Boten zu schicken, um den Amtsarzt Dr. Abraham Galloway zu holen. Die Wahrheit, die Sie heute gefunden haben, muss dokumentiert werden, bevor die Nacht wiederkommt. Dr. Abraham Galloway trifft 3 Stunden später ein. Sein Pferd schweißnass, sein Mantel durchnäst vom Nebel, der im Dunkelgrundtal wie ein Lebewesen wirkt.
Galloway ist ein Mann mit festem Blick, ein Arzt, der im Schwarzwald mehr Unfälle, Säuchen und Geburten gesehen hat, als die meisten Menschen ertragen könnten. Doch als er die Frauen und Kinder erblickt, erstarrt er zuerst wegen ihres Zustands, dann wegen des Ausdrucks in ihren Augen, einer Mischung aus Erschöpfung und jenem dumpfen, stumpfen Schmerz, den nur Menschen kennen, die lange Zeit gelernt haben, nicht zu schreien.
Er sagt kein Wort, nicht einmal eine Begrüßung. Er kniet sich einfach vor die älteste Frau, prüft ihren Puls, berührt ihren ausgemärgelten Arm mit einer Vorsicht, die seine Entschlossenheit nicht schwächt. Dann geht er zu den Kindern eines nach dem anderen. Er untersucht sie gründlich, methodisch und je länger er arbeitet, desto mehr verfinstert sich sein Blick.
Kellum steht neben ihm schweigend, denn es gibt nichts, was man zu einem Mann sagen könnte, der gerade das Ausmaß einer jahrzehntelangen Greulgeschichte sichtbar macht. Während Galloway arbeitet, durchsucht Thorn weiterhin das Haus. Er dokumentiert alles, die Ketten, die geschnitzten Markierungen in den Balken, die Vorratskammer ohne Spuren von Frauen oder Kindern, die markellose Ordnung der Küche, die nicht die geringste Lebensspur trägt.
Er mißt die Länge der Ketten, er skizziert die Dachkammer. Er schreibt Notizen, die er später sauber ordnen wird. Doch jetzt zählt nur, dass keine Einzelheit verloren geht. Als Galloway endlich mit seinen Untersuchungen endet, ist die Dämmerung bereits hereingebrochen. Er bittet um Licht, setzt sich an Thorns Schreibtisch im Haus und beginnt seinen Bericht zu verfassen. Zwölf Seiten.
Zwölf Seiten, auf denen kein Satz beschönigt, kein Detail ausgelassen wird. Er dokumentiert die Knochenverformung, die Unterernährung, die Narben, die alten und neuen Verletzungen. Die Frauen schweigen währenddessen, die Kinder ebenfalls. Einige sind zu jung, um zu verstehen, was vor sich geht.