Der Mann, der gegen die Wut kämpft: Andreas Om und die Macht der Zweifel
GÜSTRO/ROSTOCK. In Güstro wächst die Unruhe mit jedem Tag, doch niemand steht so sehr im Zentrum des wachsenden Zweifels wie Rechtsanwalt Andreas Om – der Mann, der verteidigt, während ein ganzer Landesteil seine Mandantin Gina H. (29) längst moralisch verurteilt hat. Seit dem Tag ihrer Festnahme beobachtet der erfahrene Strafverteidiger eine gefährliche Dynamik: die Mischung aus medialer Empörung, öffentlicher Erwartung und der ungeduldigen Suche nach einem schnellen Täter.
Om wirkt äußerlich gefasst, doch hinter seinen präzise gesetzten Formulierungen liegt eine Botschaft, die kaum deutlicher sein könnte, ein juristisches Prinzip, das in diesem emotional aufgeladenen Fall seine volle Sprengkraft entfaltet: „Dringender Tatverdacht heißt nicht Schuld.“
Was für manche wie eine juristische Floskel klingt, ist in diesem Fall der Ausgangspunkt einer tiefgreifenden Revision. Denn Om hinterfragt das Fundament, auf dem der Haftbefehl basiert. Die Indizien, so sagt er, sind nur „Indizien, die belasten sollen“. Dieses eine Wort stellt das gesamte Narrativ der Staatsanwaltschaft in Frage: Sollen sie belasten, oder belasten sie wirklich? Er stellt die Frage, die niemand stellen will, aber die nun wie ein lauter Schatten über dem Fall liegt: Könnte in diesem Gefängnis wirklich die falsche Person sitzen?

Der Mythos vom dringenden Tatverdacht: Kampf gegen die Vorverurteilung
Für Andreas Om begann dieser Fall nicht erst mit der Verhaftung seiner Mandantin, sondern mit dem Moment des Leichenfundes, als sich das Klima in Güstro abrupt veränderte. Aus Fassungslosigkeit wurde Wut, aus Wut der kollektive Wunsch nach einer schnellen Antwort. Om, bekannt für seine sachliche Härte und seinen nüchternen Blick, wusste sofort, dass er nicht nur gegen die Anklage arbeitete, sondern gegen eine Atmosphäre, die seine Mandantin bereits moralisch verurteilt hat.
Sein Alltag wurde zur minutiösen Prüfung jedes Details, zum Versuch, die Fragmente dieses Falls neu zuzuordnen. Er warnte früh: Der Druck drohe, Ermittlungen zu beschleunigen, Indizien zu früh Bedeutung zu verleihen und alternative Szenarien vorschnell beiseite zu schieben. Om widerspricht der Staatsanwaltschaft, die von einer „eindeutigen Indizienkette“ spricht, indem er auf den Interpretationsspielraum verweist.
Die Essenz seiner Verteidigungsstrategie ist es, die Unschuldsvermutung als ein Schutzschild zu verteidigen, das erst dann fällt, wenn belastbare, eindeutige Beweise vorliegen. Sein bewusst gewählter Begriff „Indizien, die belasten sollen“ ist dabei nicht Konfrontation, sondern ein strategischer Schachzug: Er erinnert die Öffentlichkeit daran, dass die Kluft zwischen öffentlicher Erwartung und juristischer Realität so groß geworden ist, dass fast zwangsläufig jemand die Geschichte an den Rändern auseinanderziehen muss.
Om kämpft damit gegen einen „öffentlichen Vorverurteilungsdruck“, der in Zeiten von Social Media schnell fällt und dabei die juristische Sorgfalt außer Acht lässt.
Die Chronologie der Risse: Der Beweis der zweiten Person
Der eigentliche Wendepunkt in Oms Arbeit kam nicht in Form eines spektakulären neuen Beweises, sondern in Form eines Dokuments, das äußerlich unspektakulär wirkte, aber das Fundament der bisherigen Indizienkette in Frage stellte.
Om fand einen Teil der Ermittlungsakte, ein Protokoll aus einem frühen Ermittlungsinterview, das erst verspätet freigegeben wurde. Er bemerkte sofort, dass die Chronologie eines bestimmten Ablaufs nicht zu dem passte, was zuvor als gesichert dargestellt worden war. Es ging nicht um ein einzelnes Indiz, sondern um eine komplette Sequenz von Ereignissen, die nur dann schlüssig war, wenn eine zweite Person in unmittelbarer Nähe des mutmaßlichen Tatgeschehens anwesend gewesen wäre.
Diese Beobachtung brachte das Fundament der bisherigen Erzählung ins Wanken. Wenn eine komplette Sequenz nur mit einem weiteren Beteiligten funktionierte, dann öffnete sich ein ganz neues Feld an Fragen, die bisher nicht gestellt wurden. Om begann mit einer Akribie zu prüfen, die selbst für ihn ungewöhnlich war, verglich Zeitstempel von Telefonmasten, Nachbaraussagen und Standortdaten. Je tiefer er eintauchte, desto deutlicher wurde ihm: Eine enge Fixierung auf seine Mandantin war nicht nur riskant, sondern möglicherweise gravierend fehlerhaft.
Om erkannte, dass die Ermittlungen in eine Richtung liefen, die wenig Raum für alternative Erklärungen ließ. Der dringende Tatverdacht schien sich wie ein Magnet auf die Interpretation jedes Indizes auszuwirken. Om hingegen forderte die Staatsanwaltschaft auf, die Indizienkette, die den Haftbefehl stützte, als nicht alternativlos zu bewerten. Er forderte eine „Kurskorrektur“, da das Bild unvollständig war – und in der Strafverteidigung ist ein unvollständiges Bild oft gefährlicher als gar kein Bild.