In den abgelegenen Höhenzügen des Schwarzwaldes, tief im südlichen Baden, verschwanden zwischen den Jahren 1897 und 18992 Fallensteller spurlos. Die Schwestern Magdalena und Friederike Albrecht, zurückgezogen lebende Brennerinnen auf dem alten Hof ihres verstorbenen Vaters, wohnten etwa 25 km vom nächsten Dorf entfernt, als im Herbst des Jahres 1899 ein halb verhungerter sterbender Fallensteller ins Tal hinabstolperte und von unterirdischen Kammern und einem Zuchtprogramm faselte, stieß der Bezirkswachtmeister Ernst Riedel auf Ein
Grauen, das jedes menschliche Verständnis sprengte. Unter dem alten Albrechthof erstreckte sich ein unterirdisches Labyrinth aus Gängen und Kammern, in denen Männer angekettet waren. Versuchspersonen in einem wahnhaften göttlichen Plan eine reine Blutslinie der Berge zu erschaffen. Wie konnte solch ein Entsetzen unbemerkt gedeihen? Welche Dunkelheit entsteht, wenn Glaube und Isolation zu einem einzigen tödlichen Fieber verschmelzen.
Die Region um den oberen Lauf der Kinszig, nahe der Grenze zu Würtenberg war gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein Landstrich, der außerhalb der Reichweite der Zivilisation zu liegen schien. Dichte Buchen und Fichtenwälder überzogen Berge so steil, daß selbst am helligten Tag kaum Sonnenlicht in die Täl drang.
Vereinzelte Höfe lagen verstreut zwischen dunklen Schluchten und moosbewachsenen Felsen. Kleine Inseln menschlicher Existenz in einem Meer aus grünem Schatten. Es gab keine Telegraphenleitung, keine Eisenbahnstrecke, die sich durch diese Wildnis schlängelte und die nächste Gendarmestation lag Tage entfernt. Wenn in diesen Bergen jemand verschwand, blieb er meist für immer fort, verschluckt von einer Landschaft, die seit Jahrhunderten Menschenleben gefordert hatte.

Nach dem Krieg von 7071 und den schweren Jahren der wirtschaftlichen Not war das Gebiet zurückgeblieben, unbeugsam gegenüber der Modernisierung, die im übrigen Reich längst Einzug gehalten hatte. Für viele Familien, die dort ums Überleben kämpften, bot der Wald eine der letzten Einkommensquellen, den Handel mit Pelzen. Jeden Herbst zogen die Männer in die entlegensten Täler, entlang der rauschenden Bäche, auf der Suche nach Biebern, Madern und Ottern.
Sie verkauften ihre Fälle in den kleinen Handelsposten, die in den Dörfern von Trieberg bis Haslach verstreut lagen. Ein gefährliches einsames Leben, aber eines, das sie kannten. In dieser rauen Umgebung hatten die Albrechtschwestern ihr Dasein gefestigt. Ihr Vater Johann Albrecht war ein weithin bekannter Schwarzbrenner gewesen.
Tief in einer Waldlichtung hatte er eine illegale Brennerei betrieben, wo er Schnaps aus Mais und Kirschen herstellte, den er heimlich in die umliegenden Dörfer verkaufte. Als er im Winter 1895 bei einem Jagdunfall starb, erbten Magdalena und Friederike den Hof, ein hundert Hektar großes Stück Land, umgeben von dichtem Forst. Die beiden Frauen setzten die Arbeit fort, fern ab jeder Kontrolle und führten ein zurückgezogenes Leben, dass die Dorfbewohner als Wunduan sonderbar, aber harmlos betrachteten.
Ein wandernder Händler, Georg Wittmann, traf sie im Herbst 1896 auf einer seiner Touren. Später erinnerte er sich mit Unbehagen an den Besuch. Der Hof wirkte, als sei er aus dem Felsen selbst gewachsen. Ein grauer verwitterter Bau, dahinter mehrere Schuppen und in den Hang eingelassen, dunkle Öffnung, die Witman für Erdkeller hielt.
Magdalena, die Ältere, erledigte alle Geschäfte. Friederke hingegen sprach kein Wort. Sie stand nur in der Tür, blickte ihn mit starren, hellen Augen an und Widmann spürte ein Frösteln, das er sich nicht erklären konnte. Was ihn besonders stutzig machte, waren die Einkäufe der Schwestern. Trotz ihrer Armut kauften sie hochwertige Stoffe, gutes Werkzeug und eiserne Beschläge, Dinge, die weit über das Notwendige hinausgingen. Magdalena bezahlte stets mit blanken Silbermünzen.
Besonders bestand sie auf schweren Ketten und stabilen Haken, die sie, wie sie erklärte, zum Schutz gegen Wölfe benötigte. Widmann hielt das für eine Marotte. Doch noch im selben Jahr begannen die ersten Verschwinden. Im Oktober 1897 kehrte der Fallensteller Robert Fink nicht von seiner Jagdsaison zurück.
Seine Familie in Würtemberg wartete über den Winter vergeblich, glaubte an einen Unfall oder daran, dass er weiter nach Westen gezogen sei. Doch als im Frühjahr kein Lebenszeichen kam, meldeten sie ihn als vermisst. Männer verschwanden in diesen Bergen oft gestürzt. erfroren oder von Tieren zerrissen. Niemand wunderte sich, wenn einer nicht zurückkehrte.
Die Berge nahmen, was sie wollten. Doch bis zum Frühjahr 1899 waren sieben Männer im gleichen Gebiet spurlos geblieben. Alle erfahrene Fallensteller, alle kannten das Terrar und keiner hinterließ Spuren, keine Lagerstätte, keine Ausrüstung, keine Leiche. Im Frühjahr des Jahres9 lagen die Akten der Vermissten auf dem Tisch von Bezirkswachtmeister Ernst Riedel in der Kreisstadt Willingen.
Riedel, ein Mann von 42 Jahren, trug die Ruhe und Härte eines Menschen, der mehr sah, als er je erzählen würde. Er hatte 15 Jahre in der Landarmerie gedient, nachdem er als junger Soldat aus dem Krieg von 70 mit einer Verletzung am Bein zurückgekehrt war, die ihn Zeitlebens humpeln ließ.
Doch seine Augen, kalt, wachsam, unerbittlich, entging nichts. Er war ein Mann, der Muster sah, wo andere Zufall witterten. Sieben erfahrene Männer, alle in weniger als zwei Jahren verschwunden. Alle in einem Gebiet von kaum 50 Quadrkm entlang des oberen Kindsigtals. Riedel wusste, dass das kein Zufall war.
Er verbrachte Wochen damit, jede Meldung durchzugehen, mit Angehörigen zu sprechen, alte Karten zu studieren. Bald ergab sich ein Muster. Alle Männer waren in der Nähe des abgelegenen Albrechthofs verschwunden. Einige Dorfbewohner hatten in jener Gegend seltsame Lichter gesehen, Rauch aus dem Wald aufsteigen, Stimmen gehört, wo keine Menschen lebten. Aber niemand hatte sich näher herangewagt.
Die Berge dort waren steil, von Felsen durchzogen und nur ein einziger Pfad führte in das Tal, in dem die Schwestern lebten. Riedel beschloss, der Sache selbst nachzugehen. Ende April machte er sich mit einem einheimischen Führer, dem alten Holzfäller Hans Ketterer, auf den Weg. Der Pfad war beschwerlich.
Zwei Tage lang kletterten sie über rutschige Hänge und durch Nebel, der sich wie kalter Atem aus dem Wald wälzte. Die Albrechts, sagte Ketterer während des Aufstiegs, sind nicht recht von dieser Welt. Der Alte war schon wunderlich, aber die Töchter, sie reden von Engeln und Blut, als wä es dasselbe. Riedel schwieg, doch das Unbehagen nagte an ihm.
Am Abend des zweiten Tages erreichten sie den Hof. Das Haus war aus dunklem Tannenholz gebaut, das Dach schwer vom Moos, als habe es seit Jahren keinen Sonnenstrahl gesehen. Aus dem Schornstein stieg dünner Rauch. Die Schwestern traten hinaus, als sie Schritte hörten.
Magdalena Albrecht war groß, ungewöhnlich groß, fast man hoch, mit schmalem Gesicht und grauen Augen, die riedelräuch und ohne Furcht musterten. Friederike stand einen Schritt hinter ihr. mager, schweigsam, die Hände fest ineinander verschränkt. Ried stellte sich vor, erklärte, dass er Nachforschung zu einigen verschwundenen Männern anstelle. Magdalena nickte, zeigte kein Anzeichen von Überraschung.
“Fallensteller kommen hier oft vorbei”, sagte sie mit ruhiger Stimme. “Manche trinken einen Schluck, manche fragen nach Wegweisern. Wir sehen sie kommen und gehen.” Sie sprach langsam, beinahe feierlich und streute Bibelzitate in ihre Antworten, als wären sie Schutzformeln. Wer in den Wald geht, der Vertraue auf den Herrn.
Nicht jeder, der hinauszieht, kehrt zurück. Ried fragte weiter, nannte Namen der Vermissten. Magdalena erinnerte sich an einige, gab plausible Erklärungen. Einer habe von einer Reise nach Bayern gesprochen, ein anderer sei mit der Bahn nach Frankreich aufgebrochen. Alles klang vernünftig, zu vernünftig.
Riedel fiel auf, dass die Frauen einfache geflickte Kleider trugen. Doch im Inneren des Hauses glänzten gute Werkzeuge, feines Porzellan und auf dem Tisch lagen Stoffe, wie man sie nur in der Stadt bekam. Er bat, den Hof zu sehen. Magdalena willigte sofort ein, führte ihn in die Scheune, in den Stall, zeigte ihm den alten Kupferkessel ihres Vaters.
Doch jedes Mal, wenn der Weg zum Hang hinter dem Haus führte, lenkte sie ihn unauffällig ab. Dort zwischen den Wurzeln der Fichten ragten schwere Holztüren in den Felsen, zu niedrig und zu massiv, um bloß Vorratsräume zu sein. Als Riedel darauf zusteuerte, sagte sie sanft: “Nur kalte Erde da hinten, erwachtmeister, nichts, was Sie sehen müssten.
” Er bemerkte, wie Friederike bei diesen Worten kurz die Luft anhielt. Am Abend brachen er und Ketter auf, ohne daß sie etwas Verdächtiges fanden. Doch Riedel wußte, daß etwas an diesem Ort nicht stimmte. Es war nicht das, was er gesehen hatte, sondern das, was er nicht sehen durfte. Der Durchbruch in der Affäre Albrecht kam nicht durch planmäßige Ermittlungsarbeit, sondern durch Zufall, Leid und den Überlebenswillen eines einzigen Mannes. Am frühen Morgen des 12.
September 1899 schleppte sich ein halb nackter, schwer verletzter Mann durch die Hauptstraße von Trieberg. Seine Kleidung hing in Fetzen, seine Haut war aufgeschörft, von Dornen und Felsen zerrissen. Er stürzte vor dem Haus des Arztes Heinrich Falkenstein zu Boden und verlor das Bewusstsein. Der Arzt, ein erfahrener Mann mit eiserner Ruhe, ließ ihn sofort hereintragen.
Was er vorfand, ließ selbst ihn erschauern. Tiefe entzündete Wunden an Hand und Fußgelenken, als wären dort über Wochen schwere Eisen angelegt gewesen. Abmagerung bis auf die Knochen, Biss und Kratzspuren, die aussahen, als habe der Mann sich in Panik selbst verletzt. Stundenlang kämpfte Dr. Falkenstein um sein Leben, gab ihm Brühe, reinigte die Wunden, legte Verbände.
Der Mann sprach kaum, brabbelte wirres Zeug in fieberhafter Erregung, doch einzelne Worte wiederholte er immer wieder: “Die Kammern, das Zuchtzimmer, die Schwestern, das Licht, die Schreie.” Falkenstein hielt ihn zunächst für delirierend. Doch als die Worte immer klarer wurden, ließ er den Bezirkswachtmeister rufen. Riedel traf noch am selben Abend ein.
Der Verletzte stellte sich als Samuel Maurer vor, ein 29-jähriger Fallensteller aus Thüringen, der im Frühjahr in den Schwarzwald gekommen war. Seine Stimme war brüchig, aber seine Erinnerung erstaunlich präzise. Er berichtete, daß er Ende August in der Nähe des Albrechthofes unterwegs gewesen sei, um Fallen auszulegen.
Magdalena Albrecht habe ihn angesprochen, freundlich, mit einem Krug Schnaps in der Hand. Sie lud ihn ein, sich am Feuer zu wärmen. Er nahm den Becher, trank, dann Dunkelheit. Als er erwachte, lag er in völliger Finsternis. an Hand und Fußgelenken in Ketten gelegt, auf kaltem Stein. Er war nicht allein.
Um ihn herum hörte er Stimmen, Männerstimmen, manche nur noch ein Keuchen, andere schreiend, bettelnd, flüsternd. Er sah sie nie richtig, doch er wußte, daß sie da waren. Magdalena kam manchmal hinab, trug eine Lampe und sprach von Gottes Plan und reingezüchteten Kindern des Berges. Friederike folgte ihr schweigend, hielt Schalen mit Wasser, Brot und rohem Fleisch.
Maura berichtete von Geburtskammern, in denen Kinder geboren wurden. Kinder, die nie das Tageslicht gesehen hatten. Er sprach von Männern, die verschwanden, von Schreien, die von Stein zu Stein halten. Mehrmals verlor er das Bewusstsein während der Erzählung und Dr. Falkenstein schrieb jedes Wort nieder.
Am dritten Tag nach seiner Ankunft starb Maurer an einer Blutvergiftung, doch seine letzten klaren Sätze waren präzise genug, um Riedel zu überzeugen. Unter dem Haus eine Tür im Fels, zwei eiserne Riegel, hinter der dritten Kammer die Kinder. Riedel zögerte nicht. Noch in derselben Nacht stellte er eine Eingabe an den Landrat, verlangte einen Haftbefehl und Unterstützung durch das Reichsjustizamt.
Doch die Beamten in Freiburg lachten. Zwei Frauen, die Männer fangen und züchten wollten. Das klang wie Spinnerei. Riedel schrieb Berichte wieder und wieder, bis endlich ein höherer Beamter im Innenministerium die Sache ernst nahm. Zwei Wochen vergingen. In dieser Zeit bewachten Riedel und drei Freiwillige aus Willingen den Zugang zum Tal.
Sie wagten sich nicht hinein aus Angst, die Schwestern könnten fliehen. Am 8. Oktober erhielt Riedel endlich Genehmigung und Verstärkung. Sechs Reichsmarchelle aus Karlsruhe. Noch am selben Tag brachen sie auf, schwer bewaffnet, geführt von Hans Ketterer, der sich weigerte, unbewaffnet, auch nur einen Fuß in dieses Tal zu setzen.
Gegen Nachmittag erreichten sie den Albrechhof. Es war still. Kein Vogel sang, kein Hund bälte, nur dünner Rauch stieg aus dem Schornstein. Riedel rief laut, nannte seinen Namen, forderte die Schwestern auf, herauszukommen. Da öffnete sich im Hang hinter dem Haus eine Holztür und Magdalena Albrecht trat hervor.
Sie war blass, fast weiß, ihre grauen Haare flatterten im Wind. Für einen Moment sah sie die Männer schweigend an. Dann griff sie in ihr Mieder, zog ein kleines Fläschchen hervor und trank den Inhalt in einem Zug. Riedel stürzte vor, doch es war zu spät. Sie fiel zu Boden, krampfte, Schaum trat aus ihrem Mund. Binnen Minuten war sie tot.
Aus der Finsternis hinter der Tür kam Friederike, in der Hand ein Jagdmesser, die Augen glühend vor Hass. Sie sprang auf den nächsten Marshall zu. Der Schuss fiel so schnell, daß niemand reagieren konnte. Friederike brach zusammen, getroffen in die Brust. Riedel kniete neben ihr, doch auch sie war Binnenugenblicken tot. Stille senkte sich über das Tal.
Niemand sprach, nur der Wind strich über das nasse Gras, als wolle er flüstern. Es ist noch nicht vorbei. Nachdem die Schwestern tot waren, blieb den Männern keine Zeit für Erleichterung. Sie standen vor der schwarzen Öffnung im Fels, aus der Friederike gekommen war. Ein widerlicher süßlicher Geruch drang heraus, eine Mischung aus feulnis, kaltem Stein und etwas, das keiner von ihnen benennen wollte.
Riedel befahl, Fackeln zu entzünden. Langsam stiegen sie hinab in eine Welt, die kein Sonnenstrahl je berührt hatte. Der Gang war schmal, kaum manns hoch, die Wände robe Hauen. In den Tropfen, die von der Decke fielen, glitzerte das Licht der Fackeln wie Blut. Nach wenigen Schritten stießen sie auf die erste Kammer, ein niedriger Raum, dessen Boden mit Stroh bedeckt war.
An den Wänden Eisenringe, daran Ketten. Leere Fesseln hingen herab, manche noch feucht von Schweiß oder Blut. Heilige Mutter Gottes”, murmelte einer der Marschelle. In der zweiten Kammer fanden sie einen Tisch, auf dem Metallinstrumente lagen. Grob, rostig, aber eindeutig chirurgisch. Schalen mit eingetrocknetem Inhalt, Bündel aus Stofffetzen, Spritzen, die aussahen, als seien sie aus einer anderen Zeit. Dr.
Falkenstein, der sie begleitet hatte, er bleichte. “Das hier war kein Zufall”, sagte er. “Das war Planung, System.” Weiter hinten, hinter einem niedrigen Durchgang, stießen sie auf Geräusche. Erst leises Wimmern, dann Kinderstimmen. Als sie die Fackel hoben, schrien drei Gestalten auf.
Kinder, nicht älter als sieben Jahre, nackt, blaß wie Knochen, die Augen weit geöffnet und rot vom Dunkel. Sie drängten sich in die Ecke, wichen dem Licht aus, als wäre es Feuer. Falkenstein ging langsam vor, sprach leise, reichte die Hand. Die Kinder zitterten, wichen zurück. Doch schließlich wagte eines, ein Mädchen mit verfilztem Haar, einen Schritt. Ihr Atem war kurz und rasselnd, als habe sie nie frische Luft geatmet.
Die Männer standen still. Keiner wagte zu sprechen. “Sie sind geboren hier unten”, flüsterte Falkenstein. “Diese Kinder haben nie das Tageslicht gesehen.” Als sie die Kleinen hinausführten, kreischten sie vor Angst. Der Himmel, das Licht, der Wind, all das war ihnen fremd, bedrohlich.
Sie klammerten sich aneinander, schrien wie Tiere. Draußen brach die Dämmerung an und die Fackeln flackerten im Wind. Riedel gab den Befehl, das gesamte System zu durchsuchen. Drei Stunden lang arbeiteten sich die Männer durch Tunnel und Kammern, immer tiefer, bis die Luft stickig wurde. Was sie fanden, überstieg jede Vorstellung.
In den hinteren Räumen lagen Körper, Männer, eingestürzt, skelettiert, einige noch mit Resten von Kleidung, an der Zahl, manche gefesselt, andere frei. Doch alle tot seit Monaten oder Jahren. Dr. Falkenstein notierte die Funde gewissenhaft. Einige Leichen konnte man durch persönliche Gegenstände identifizieren. Messer, Gürtelschnallen, Amulette.
Unter ihnen war auch der Name, der am längsten auf Riedels Liste gestanden hatte, Robert Fink. Sein Schädel lag neben einer zerbrochenen Falle aus Stahl. In einer der letzten Kammern fanden sie eine Holztruhe, darin Hefte, sorgfältig gebunden, auf dem Umschlag das Werk Gottes. Ma Riedel öffnete sie und die Luft schien stillzustehen.
Seite um Seite war ein feiner Handschrift beschrieben. Es war das Tagebuch von Magdalena Albrecht. Darin stand jedes Detail, die Entführung, die Auswahl der Opfer, die Begründung ihres Tuns. Der Herr hat mich auserwählt, das Blut reinzuhalten, schrieb sie. Die Welt da draußen ist verdorben. Nur wer in Dunkelheit geboren wird, bleibt frei von Versuchung.
Sie führte Listen über Geburten, über Kinder, die nach wenigen Tagen starben und andere, die überlebten. Sie schrieb über das Zuchtzimmer, über das, was sie wohl die Reinigung der Linie nannte. Kein Wort des Bedauerns, keine Reue, nur kalte sachliche Aufzeichnung, als führe sie Buch über ein landwirtschaftliches Experiment. Riedel las nicht weiter. Er ließ die Hefte einpacken, nahm sie als Beweismittel.
Wir bringen alles nach Freiburg”, sagte er knapp. “Das hier darf niemand mehr sehen.” Als sie die Kammern verließen, war die Nacht hereingebrochen. Die Fackeln warfen lange Schatten über den Hof. Hinter ihnen halte das Echo ihrer Schritte, als würden noch immer Stimmen in den Gängen flüstern. Bevor sie den Hang verließen, blickte Riedel zurück. Der Eingang lag schwarz im Fels, unbewegt.
Nur der Wind strich hindurch, leise wie ein Atemzug. Am nächsten Morgen kehrten die Männer in die Kreisstadt Willingen zurück. Sie brachten die drei Kinder, die Tagebücher und die wenigen Überreste der Opfer, die sich identifizieren ließen. Der Weg hinab aus dem Tal war still. Niemand sprach. Die Kinder wimmerten, wenn die Sonne sie traf und vergruben die Gesichter in den Jacken der Männer.
In Willing erwartete sie eine Menge, die sich vor dem Amtsgebäude versammelt hatte. Die Nachricht von den Geschehnissen hatte sich in Windeseile verbreitet. Als Riedel vom Pferd stieg, herrschte für einen Augenblick völlige Stille. Dann begannen die Menschen zu murmeln, sich zu bekreuzigen, den Kopf zu schütteln. Dr.
Falkenstein trug die Kinder in eine Decke gehüllt ins Hospital. “Sie sind halb verhungert”, sagte er zu Riedel. “Ihr Blut ist dünn, ihre Haut durchsichtig. Das ist das Ergebnis von Jahren ohne Licht.” Der Bezirkswachtmeister nickte nur. Er wusste nicht, wie man so etwas verarbeiten konnte. Noch am selben Tag schrieb er seinen Bericht an das Innenministerium.
Drei Tage und Nächte saß er über den Papieren, beschrieb akribisch jeden Fund, jedes Detail der Untersuchung, jede Leiche, jedes Zeichen des Grauens. “Ich habe nicht gewusst”, schrieb er am Ende, “dass der Mensch zu solchem Schweigen fähig ist, wenn er Böses tut. Diese Frauen haben gelächelt, gebetet und gemordet, ohne dass ein Nachbar es bemerkte.
” Die Regierung schickte eine Kommission aus Freiburg, doch die Beamten kamen nicht weiter. Die Berge machten jeden Transport mühsam und der Wille der Dorfbewohner, das Geschehen ruhen zu lassen, war stärker als jeder Befehl. Noch bevor die Untersuchungen abgeschlossen waren, versammelten sich Männer aus den umliegenden Dörfern, fuhren mit Wagen und Fackeln hinauf zum Hof der Albrechts.
Riedel erfuhr es zu spät. Als er eintraf, stand das Gehöft bereits in Flammen. Die Männer warfen Pechfackeln in die Gebäude, schlugen mit chten auf die Wände ein, schrien, dass kein Stein auf dem anderen bleiben dürfe. Der Rauch stieg wie eine Säule in den Himmel. “Verbrennt’s!”, rief einer. Kein Dämon soll da oben weiter hausen.
Innerhalb einer Stunde war alles zu Asche geworden. Das Wohnhaus, die Scheune, selbst die schweren Holztüren, die den Zugang zum Fels verschlossen hatten. Riedel stand abseits und sah zu. Niemand wagte ihn anzusprechen. Erst als das Feuer erlosch, ging er zu der Stelle, wo der Eingang gewesen war.
Er kniete nieder, nahm eine Handvoll Asche und ließ sie durch die Finger rieseln. Vielleicht, sagte er leise, ist das die einzige Gnade, die Sie verdient haben. Danach ließ er den Eingang mit Erde und Steinen verfüllen. Kein Zeichen sollte mehr bleiben, kein Hinweis auf das, was dort geschehen war. Die Leute im Tal nannten den Ort fort an, das verfluchte Loch.
Niemand sprach offen darüber und auf keiner Karte war die Stelle je wieder verzeichnet. Die drei Kinder brachte man wenige Tage später nach Freiburg in ein Weisenhaus. Dr. Falkenstein blieb eine Woche dort, um sie zu beobachten. Das älteste Mädchen, etwa sieben Jahre alt, begann nach und nach auf Worte zu reagieren. Sie konnte einfache Laute nachsprechen, aber keine Bedeutung begreifen.

Das mittlere Kind, ein Junge, reagierte auf nichts, blickte nur starr gegen die Wand. Das Jüngste, vielleicht drei Jahre alt, weinte ununterbrochen, bis es vor Erschöpfung einschlief. Falkenstein schrieb in seinem Bericht: “Sie sind wie Pflanzen, die nie Sonne gesehen haben. Sie wachsen, aber sie leben nicht wirklich.” Ried besuchte sie einmal, bevor er abreiste.
Er stand hinter der Glasscheibe des Krankensaals und sah, wie das Mädchen einen Holzlöffel in der Hand hielt, ihn drehte und betrachtete, als sei er etwas Unerklärliches. Da wusste er, dass kein Gericht, keine Strafe und kein Gebet jemals das wieder gut machen könnte, was in jenen Bergen geschehen war.
Die Monate nach dem Fund des Albrechhofes waren von einer unheimlichen Stille geprägt. Niemand wollte über das sprechen, was man entdeckt hatte. Die Männer, die an der Durchsuchung teilgenommen hatten, littten unter Schlaflosigkeit. Manche begannen zu trinken, andere verließen das Tal ganz. Bezirkswachtmeister Ernst Riedel schrieb seinen Abschlussbericht im November des Jahres 1899.
Er füllte mehr als 200 Seiten mit nüchternen Beschreibungen und akribischen Skizzen der Kammern. Doch hinter den sachlichen Worten lag eine Verzweiflung. die selbst seine Vorgesetzten spürten. Das Böse, schrieb er, lebt nicht nur in den Städten oder auf den Schlachtfeldern. Es kann Wurzeln schlagen in den still Tälern, dort, wo man nur das Rauschen der Bäume hört, und es trägt oft ein menschliches Gesicht.
Der Bericht ging an das Innenministerium in Berlin, wo er in den Archiven verschwand. Nur wenige Beamte lasen ihn je vollständig. Das Dorf Trieberg versuchte zur Normalität zurückzukehren, doch die Menschen mieden den Weg zum ehemaligen Hof. Selbst Jäger, die früher stolz auf ihre Ortskenntnis waren, machten einen weiten Bogen um das Tal.
Im Frühjahr des Jahres 1900 tauchten Gerüchte auf. Hirten hätten in der Nacht weinnd Kinderstimmen gehört. Andere berichteten von seltsam Licht, das aus dem Hang drang, wo eins die Holztür gestanden hatte. Niemand wagte nachzusehen. Der Winter kam und mit ihm eine Reihe von Krankheiten. Man sagte, der Rauch des Feuers habe etwas Unreines in die Luft getragen. Im Weisenhaus in Freiburg kämpfte Dr.
Falkenstein weiter um das Leben der drei Kinder. Er schrieb Briefe an Universitäten in Heidelberg und München, bat um Rat, um Hilfe. Doch niemand wollte sich mit einem solchen Fall befassen. Das sind Kinder des Dunkels”, schrieb ein Professor abweisend. “Sie sind medizinisch verloren.” Das älteste Mädchen, das Falkenstein Anna nannte, begann langsam zu sprechen.
Sie kannte nur wenige Worte, aber ihre Augen wirkten wach, als hätte sie mehr verstanden, als sie zeigen konnte. Manchmal zeichnete sie Linien auf Papier, immer dieselben, verschlungene Kreise, die sich im Zentrum kreuzten. “Es sieht aus wie die Kammern”, murmelte der Arzt einmal.
Der Junge, den sie Jakob nannten, war stumm geblieben. Er verbrachte Stunden damit, an den Wänden zu kratzen, als wolle er einen Ausgang finden. Das kleinste Kind, ein Mädchen, starb im Winter an Lungenentzündung. Ihr Körper war zu schwach, um die Kälte zu überstehen. Sie wurde auf dem Friedhof von Freiburg begraben, in einem anonymen Grab.
Die beiden anderen lebten weiter, aber sie blieben gebrochen. Falkenstein schrieb in sein Tagebuch: “Ich frage mich, ob sie Menschen sind, wie wir sie verstehen. Sie haben nie Sonne gesehen, nie den Klang von Glocken gehört, nie den Himmel über sich gespürt. Sie sind geboren aus Wahn und sie tragen ihn in sich.
” Im Sommer des Jahres 1902 kam ein junger Journalist aus Berlin, Friedrich Neumann, der von der Geschichte gehört hatte. Er wollte einen Bericht schreiben, um die Öffentlichkeit aufzurütteln. Riedel lehnte ein Gespräch ab, doch Neumann blieb hartnäckig. Schließlich führte ihn der alte Förster Ketterer zu dem verfluchten Ort. Nichts war geblieben, nur eine Senke, überwachsen von Fahn und Moos.
Doch als sie den Boden betraten, spürte Neumann etwas unter den Stiefeln, hart und unregelmäßig. Er kniete nieder, wischte den Boden frei und sah verrostetes Eisen, das Ende einer Kette, halb im Fels verankert. “Lassen Sie das liegen”, sagte Ketterer leise. “Es ruht besser, wenn man es nicht stört.
” Neumann schrieb seinen Artikel nie. Er kehrte nach Berlin zurück und trat kurz darauf einer Missionsgesellschaft bei, die nach Afrika zog. Niemand hörte je wieder von ihm. Im Herbst des Jahres 1903 wurde das Tal offiziell aus allen Karten gestrichen. Der Landrat von Willing ließ anordnen, dass die Wege dorthin aus Sicherheitsgründen geschlossen werden sollten. Niemand widersprach.
Die Bauern, die in den umliegenden Tälern lebten, erzählten nur flüsternnd von dem Ort und wenn Fremde nach dem Weg fragten, antworteten sie: “Dort ist nichts, nur Wald.” Bezirkswachtmeister Ernst Riedel blieb bis zu seiner Pensionierung im Dienst, doch der Fall ließ ihn nie los. Nachts, so sagten seine Nachbarn, hörte man ihn manchmal im Schlaf sprechen, als verhöre er jemanden, den nur er sehen konnte.
In seinem Haus sammelte er Zeitungsausschnitte über vermisste Personen, jedes Stück Papier ordentlich beschriftet. Im Jahr 1905 fand ihn sein Nachbar tot an seinem Schreibtisch. die Hand noch auf einem Brief, den er nicht beendet hatte. Darin stand: “Ich glaube, der Glaube kann töten, wenn er blind wird.
Und ich glaube, manche Orte behalten das Echo derer, die dort litten.” Der Brief wurde nie abgeschickt. Dr. Heinrich Falkenstein übernahm nach Riedels Todrung der Tagebücher von Magdalena Albrecht. Er hielt sie in einem verschlossenen Schrank in seinem Arbeitszimmer und zeigte sie nur einem einzigen Menschen, seinem Studenten Karl Brenner, der Medizin studierte und sich für Psychiatrie interessierte.
Im Frühjahr des Jahres 1907 las Brenner die Aufzeichnungen und schrieb später: “Ich habe viele Berichte über Wahnsinn gelesen, aber nichts vergleichbares gesehen.” Sie war überzeugt, dass Gott selbst durch sie sprach. Es war kein Schwindel, keine Berechnung. Es war echter, reiner Wahn. In denselben Jahren veränderte sich das Leben in Deutschland.
Die Eisenbahn erreichte die Täler, Telegraphenleitungen zogen sich über die Berge und selbst in den entlegensten Dörfern sprach man nun von Fortschritt und Elektrizität. Doch im Schwarzwald blieb das Tal, in dem der Albrechthof gestanden hatte, unberührt. Ein leerer Fleck auf der Karte, ein Schatten, in dem sich niemand mehr zu bewegen wagte.
Anna, das Älteste der Überlebenden Kinder, wurde mit 14 Jahren in einer Anstalt bei Heidelberg verlegt. Dort begann sie einfache Tätigkeiten zu erlernen, Nähen, Putzen, Gartenarbeit. Sie sprach wenig, aber sie hatte gelernt zu beten. Manchmal stand sie nachts am Fenster und murmelte leise Worte, die niemand verstand.
Eines Abends, im Frühjahr des Jahres 1911, sah man sie nicht mehr in ihrem Bett. Die Fenster waren geschlossen, die Tür verriegelt, doch das Bett war leer. Man fand keine Spur. Die Pfleger sagten: “Sie sei davon gegangen wie Rauch im Wind. Jakob, der Junge, überlebte noch ein weiteres Jahr. Er sprach nie, doch er begann Linien in den Boden zu ritzen, dieselben verschlungenen Kreise, die Ener einst gezeichnet hatte.
Als ein Pfleger ihn fragte, was das bedeute, kratzte der Junge ein Wort in den Steinboden. Licht. Kurz darauf bekam er hohes Fieber und starb innerhalb von drei Tagen. Dr. Falkenstein schrieb in sein Tagebuch: “Vielleicht wollte er heimkehren. Vielleicht war das Licht, das er suchte, nicht das Unsere.” Nach seinem Tod ließ der Arzt die Tagebücher der Albrechts in die Universitätsbibliothek von Freiburg bringen.
Sie wurden versiegelt mit der Anweisung, sie erst nach 50 Jahren wieder zu öffnen. Doch der Krieg kam und die Bibliothek wurde teilweise zerstört. Als man nach dem Zweiten Weltkrieg die Archive sichtete, waren die Hefte verschwunden. Niemand wusste, ob sie verbrannt waren oder jemand sie an sich genommen hatte. Ein alter Archivar behauptete später, ein Mann in schwarzem Mantel, habe sie kurz vor den Bombardierungen abgeholt, mit offiziellem Siegel.
Doch auf keiner Liste fand sich ein Eintrag. So blieb die Geschichte unvollständig, ein Echo, das nur in wenigen vergilbten Berichten und den Erinnerungen der Alten weiterlebte. Wenn im Winter der Nebel tief zwischen den Bergen hing, schworen manche: “Man könne dort oben noch Kinderstimmen hören. Ein Flüstern.
Leise, kaum hörbar wie das Atmenangenheit. Nach dem ersten Weltkrieg war die Erinnerung an den Fall Albrecht beinahe ausgelöscht. Die Menschen hatten anderes zu überleben. Hunger, Armut, politische Unruhe. Doch in den Dörfern rund um Trieberg erzählte man die Geschichte weiter als warnendes Märchen für Kinder.
“Geh nicht zu tief in den Wald”, sagten die Mütter, “Sonst holen dich die Schwestern von unten.” Manche nannten sie die grauen Frauen, andere die Töchter des Felsens. Das Tal blieb unberührt, überwachsen von Buchen und Fahren. Nur Jäger, die sich verirrten, berichteten gelegentlich von einem merkwürdigen Wind, der aus einer Richtung kam, wo es keinen Durchgang geben sollte, und von einem Geruch, der nach feuchtem Metall und Asche roch.
Im Jahr 1933, kurz nachdem das neue Regime in Deutschland an die Macht gekommen war, tauchte in den Akten der Freiburger Polizei ein Schreiben auf. Ein anonymer Absenderbot an Aufzeichnungen von wissenschaftlichem Wert zu verkaufen, die angeblich aus dem Besitz von Dr. Falkenstein stammten. Es handelte sich um Teile der Originaltagebücher von Magdalena Albrecht.
Der Käufer blieb unbekannt, doch in den Folgejahren verschwanden mehrere Aktenstücke über den Fall. Nach dem Krieg fand man in einem verlassenen Sanatorium in Bayern Fragmente von handschriftlichen Seiten mit der Überschrift Blutlinie Gottes. Versuch 15. Die Schrift war eindeutig dieselbe. Niemand konnte erklären, wie sie dorthinelangt waren.
In den 50er Jahren veröffentlichte ein Historiker aus Stuttgart, Professor Wilhelm Krämer, eine Studie über religiösen Warn in der deutschen Provinz. Darin widmete er den Schwestern Albrecht ein ganzes Kapitel. Krämer beschrieb sie als produktive Psychopathinnen, deren Glaubensvorstellungen sich mit Inzest, Isolation und fanatischem Sendungsbewusstsein vermischten.
Er zitierte aus den wieder aufgetauchten Fragmenten: “Wir sind das Werkzeug. Der Herr hat uns zu Stein gemacht, dass unser Blut nicht verderbe.” Das Buch löste Empörung aus. Viele hielten es für Gotteslästerung, andere für Sensationsgier. Doch der Name Albrecht tauchte erneut in der Öffentlichkeit auf und mit ihm die alte Angst.
Ein Journalist des Schwarzwälderboten Hans FT beschloss im Sommer 1958 das Tal selbst aufzusuchen. Er wollte prüfen, ob es dort tatsächlich noch Spuren gab. Mit einem Förster stieg er in die Wälder oberhalb der Kinzig. Zwei Tage lang suchten sie, fanden nur Geröll und umgestürzte Bäume.
Am dritten Tag entdeckten sie eine flache Vertiefung, halb von Moos bedeckt. Darunter ein Stück verrostetes Eisen, fest in den Boden eingewachsen. Vog toob es an und fand darunter Steinplatten von Menschenhand behauen. Eine war gespalten, als sei sie eins durch Feuer geborsten. Sie hörten nichts, aber der Förster schwor später: “Er habe ein fernes Echo vernommen.” wie Kinder, die leise singen.
Vogt schrieb seinen Bericht, doch die Redaktion druckte ihn nie. Der Chefredakteur meinte, die Geschichte sei zu krank, zu alt, zu abergläubisch. Vogt behielt seine Notizen, doch im folgenden Jahr wurde er bei einer Fahrt im Winter von einem umstürzenden Baum erschlagen. Seine Aufzeichnungen verschwanden. Nur ein Foto blieb.
Eine unscharfe Aufnahme, auf der eine dunkle Öffnung zwischen Felsen zu sehen war, halb im Schatten. Auf der Rückseite stand in seiner Handschrift das Tor. In den 70er Jahren tauchte die Geschichte erneut auf. Diesmal in einer Fernsehdokumentation über deutsche Volkslegenden. Der Erzähler sprach von den Schwestern von Trieberg und den Kindern aus der Tiefe.
Doch das Fernsehen machte daraus eine makabre Sage, ein Schauerstück ohne Wahrheitspruch. Nur wenige ahnten, dass alles einst wirklich geschehen war. Im Jahr8 starb ein alter Mann in Freiburg, der früher als Pfleger in der Heilandstalt Heidelberg gearbeitet hatte. Auf seinem Nachttisch fand man ein Heft mit Notizen in zittriger Schrift.
Darin stand: Anna kam nie fort. Wir haben sie unten gesucht, doch das Fenster war kalt. Manchmal höre ich sie noch. Sie ruft nicht nach Mutter, sie ruft nach Licht. Im Herbst des Jahres 197, kurz nach dem Tod des ehemaligen Pflegers, begann in Freiburg eine junge Historikerin namens Dr. Klara Weinmann mit der Erforschung lokaler Legenden.
Sie war rational, modern, an die Wissenschaft glaubend und hielt das Gerede über die Schwestern Albrecht für einen Aberglauben, der aus Hunger und Angst geboren worden war. Doch etwas in den Notizen, die man im Nachlaß des Pflegers gefunden hatte, weckte ihre Neugier. Sie beschloss, das Tal aufzusuchen, das in keiner Karte mehr verzeichnet war.
Nur durch alte topographische Aufnahmen und Berichte des 19. Jahrhunderts fand sie die ungefähre Lage zwischen Trieberg und Hornberg, dort, wo die Berge wie eine geschlossene Hand ineinander griffen. Im Oktober stieg sie mit zwei Studenten auf. Der Wald war still, fast unnatürlich still. Kein Vogel sang, kein Tier bewegte sich.
Nach zwei Stunden Marsch fanden sie einen Platz, an dem der Boden eingesunken war, wie ein alter Schacht. Der Wind, der daraus drang, war kalt und feucht, obwohl die Luft sonst mild war. Clara legte die Hand an den Boden. Er vibrierte leicht, als atme der Fels. “Das ist es”, flüsterte sie. Die Studenten lachten unsicher, aber sie spürten beide dieselbe Beklemmung.
Sie beschlossen, eine Kamera und Messgeräte zu holen und am nächsten Tag zurückzukehren. In jener Nacht schrieb Kara in ihr Notizbuch: “Ich weiß, dass es Unsinn ist, aber der Wind dort unten klingt, als würde er meinen Namen sprechen.” Am nächsten Morgen stiegen sie erneut hinauf. Es war neblig und der Wald wirkte verändert. An der Stelle, wo sie den Schacht gefunden hatten, lagen frische Äste, als hätte jemand versucht, ihn zu verdecken.
Einer der Studenten hob die Äste beiseite, darunter eine schmale Spalte im Fels, schwarz, kaum ein Meter breit. Ein Geruch von feuchtem Eisen und Moder stieg auf. Sie machten Fotos, dann rief Klara in die Dunkelheit hinab. Kein Echo, nur ein leises Tropfen tief unten. Sie beschloss, ein Seil zu holen und in den Spalt zu steigen.
Die Studenten protestierten, doch sie bestand darauf. “Nur kurz”, sagte sie, “ich will sehen, ob es tatsächlich Kammern gibt.” Sie knoteten das Seil an eine Wurzel. Klara befestigte es um ihre Teille und schaltete die Taschenlampe ein. Sie kroch hinein, langsam, Schritt für Schritt. Nach wenigen Metern senkte sich der Gang und der Boden wurde glitschig.
Sie roch etwas süßliches, metallisches, ihre Lampe flackerte und für einen Moment glaubte sie, eine Bewegung am Ende des Ganges zu sehen. Eine Gestalt, klein, blass, mit langen Haaren. Sie rief, doch das Licht erlosch. Die Studenten hörten einen Schrei, dumpf, kurz, dann stille. Sie riefen nach ihr, doch keine Antwort kam.
Nach einer Stunde wagte einer, das Seil einzuholen. Es war schlaf. Kein Widerstand. Am Ende hing abgerissene Schlaufe. Man suchte drei Tage lang mit Polizei, Hunden und Bergrettern. Man fand nichts. Kein Seil, keine Spur, keine Tasche, nur eine Fotokamera, deren Film vollständig belichtet war. Auf den Bildern, Bäume, Nebel, ihre Hand, die auf dem Boden ruht.
Und das letzte Bild zeigte eine dunkle Fläche, durchzogen von feinen Linien, als hätte jemand mit Fingern über Glas gestrichen. Der Fall Weinmann wurde nie aufgeklärt. Die Behörden erklärten ihn als Unfall durch Absturz in nichtkartiertes Gelände. Doch in der Universität kursierte bald eine Kopie ihrer letzten Notiz. Wenn ich nicht zurückkehre, sagt niemandem, daß ich etwas gesehen habe.
Sagt einfach, ich sei gefallen, denn was ich gehört habe, soll niemand hören. Ein Jahr später, im Herbst des Jahres 1979, berichtete ein Förster aus Hornberg, er habe in einer windstillen Nacht aus der Richtung des Altals Gesang gehört. Kinderstimmen, die ein Lied summten, langsam in einem Rhythmus, der nicht menschlich klang.
Er schwor: “Er habe deutlich Worte vernommen. Licht, Licht, Licht. Man nahm ihn nicht ernst, doch die wenigen, die die Geschichte kannten, wußten, dass dies das Wort war, dass Jakob Albrecht vor seinem Tod in Stein gekratzt hatte. Im Winter des Jahres senkte sich über den Schwarzwald ein Schnee, wie ihn die alten Leute seit Jahrzehnten nicht gesehen hatten.
Wochenlang war das Tal abgeschnitten, Straßen unpassierbar, ganze Dörfer von der Außenwelt getrennt. In jener Zeit verschwand ein Junge aus Trieberg, 12 Jahre alt. Paul Schneider, Sohn eines Försters. Er war mit Freunden Schlitten gefahren und kam nicht nach Hause. Man suchte tagelang, durchkämte den Wald, fand Spuren, die in Richtung der alten verbotenen Region führten, wo eins der Hof der Albrechts gestanden hatte.

Dann nichts mehr, keine Fußabdrücke, kein Kleidungsstück, keine Spur. Nach 10 Tagen gab man die Suche auf. Der Vater, halbwahnsinnig vor Verzweiflung, ging jede Nacht hinaus in den Wald und rief den Namen seines Sohnes, bis seine Stimme versagte. Er schwor, er habe eines Nachts Antwort gehört.
Ein leises Lachen, kindlich und doch fremd, tief aus dem Fels heraus. Im Frühjahr, als der Schnee schmolz, fand ein Wanderer an einem Bachlauf ein Stück Holz. Darauf waren Zeichen eingeritzt, Kreise ineinander verschlungen, dieselben Muster, die einst das Mädchen Anna Albrecht und später Jakob gezeichnet hatten. Das Holz war frisch geschnitten.
Die Behörden erklärten den Fund für bedeutungslos, doch im Dorf herrschte Furcht. Die Alten sagten: “Das Blut der Berge sei wieder erwacht. Es hieß, wenn der Wind in bestimmten Nächten aus dem Tal wehte, roch er nach Asche und kaltem Eisen. Hunde jaultten, Kinder bekamen Fieberträume. In jener Zeit begann ein Lehrer aus Trieberg, Herr Martin Hesse Notizen über die Vorkommnisse zu führen.
Er war ein nüchter Mann, kein Fantast, doch das, was sich abspielte, ließ sich nicht einfach erklären. Er schrieb: Am 3. März hörte ich kurz nach Mitternacht ein Klopfen. drei Schläge, dann Stille, dann wieder drei. Es kam nicht vom Dach, sondern vom Boden, als läge darunter etwas Lebendiges. Eine Woche später notierte er: “Ich träumte von einem Mädchen mit grauen Augen.
Sie stand im Schnee, barfuß und sprach kein Wort. Als ich erwachte, lag vor meinem Fenster ein Kreis aus kleinen Steinen. Hesse begann alte Berichte zu studieren. In der Bibliothek von Filling fand er eine Kopie von Riedelsbericht. Vergilbt, aber vollständig. Er las zwei Nächte lang. Am Rand einer Seite entdeckte er eine handschriftliche Notiz, offenbar von Riedel selbst.
Der Fels atmet. Er verstand nicht, was das bedeuten sollte, doch das Wort brannte sich in sein Gedächtnis. Im Sommer des Jahres 1980 besuchte ihn ein älterer Mann, der sich als ehemaliger Archivar der Universität Freiburg vorstellte. Er sagte, er habe etwas, das zu Hässes Nachforschungen passße.
Aus seiner Manteltasche zog er eine kleine ledergebundene Mappe. Auf dem Deckel stand in verblaster Tinte M a das Werk. Es war eines der verschollenen Tagebücher von Magdalena Albrecht. Der Archivarbot hesse es sicher aufzubewahren, bis die Zeit reif sei. Dann verschwand er. Niemand sah ihn je wieder. Hesse las in jener Nacht das Buch.
Später schrieb er in seinem eigenen Heft: “Ich habe verstanden, dass es nicht Wahnsinn war.” Sie glaubte wirklich, sie könne das Blut der Welt reinigen. In ihren Worten liegt eine Logik, dunkel, aber vollkommen. Und jetzt, da ich sie lese, höre ich sie. Nicht ihre Stimme, sondern das Flüstern. Es kommt aus der Erde. Von diesem Tag an unterrichtete Hesse nicht mehr. Er schloß sich in seinem Haus ein, miet die Menschen.
Die Dorfbewohner sagten, er habe begonnen, im Garten Löcher zu graben. Als die Polizei im Herbst nach ihm sah, fand man das Haus leer, die Möbel verstaubt, das Bett unbenutzt. Auf dem Tisch lag das Tagebuch der Albrechts offen. Auf der letzten Seite stand einziger Satz in Hesses Schrift. Sie schlafen nicht. Sie warten.
Nach dem Verschwinden von Lehrer Martin Hesse im Herbst des Jahres 1980 versuchte die Polizei den Fall als gewöhnliche Vermissten Meldung zu behandeln. Doch die Beamten, die sein Haus betraten, spürten sofort, dass hier etwas nicht stimmte. Der Raum war kalt, obwohl der Ofen noch glühte und aus dem Keller stieg ein eigenartiger säuerlicher Geruch.
Auf den Wänden des Arbeitszimmers hatte jemand mit Kreidekreise gezeichnet. Große ineinander verschlungene Ringe wie Spiralen, die sich endlos wiederholten. Auf dem Boden in der Mitte des größten Kreises lag Erde, feucht, schwarz, und darin steckte eine einzelne rostige Kette. In Hesses Tagebuch fanden die Ermittler seitenlange Aufzeichnungen über Träume.
Er beschrieb Stimmen, die ihn riefen und den Glauben, dass unter dem Fels das Blut noch lebt. Die letzten Einträge bestanden nur noch aus Zahlen, alle identisch. 23. Niemand wusste, was das bedeuten sollte. Der Fall wurde geschlossen und Hesse galt als verschollen, vermutlich erfroren oder verunglückt. Doch der Dorfahrer Pater Alo Gruber, der ihn kannte, schrieb später in seinen Memoiren: “Ich habe ihn in der Nacht gehört, nachdem er verschwand.
Eine Stimme an der Tür, leise, kaum mehr als ein Hauch. Licht! Vater, nur Licht. Als ich öffnete, war niemand da. Aber der Boden war nass, als hätte jemand dort gestanden. Im Winter jenes Jahres wurde der Boden in den höheren Lagen ungewöhnlich warm. Bauern berichteten, dass der Schnee in einem bestimmten Abschnitt oberhalb des alten Tals nicht liegen blieb.
Als käme die Wärme von unten, sagten sie: “Der Förster, der das Gebiet untersuchte, fand nichts, nur eine Senke, in der der Schnee dampfte, als atmete die Erde. In den folgenden Jahren versank die Geschichte erneut im Schweigen. Die Generationen wechselten und was geblieben war, wurde zur Sage zu einem Namen, den man nicht mehr aussprach.
Doch immer wieder kam es zu kleinen Ereignissen, die niemand erklären konnte. Vieh, das nachts aus den Stellen verschwand. Wasser, das in Brunnen plötzlich trüb wurde. Kinder, die im Schlaf dieselben Worte murmelten, dunkel, rein, Licht. Im Frühjahr des Jahres 1998, genau 100 Jahre nach den ursprünglichen Morden, führte eine Studentengruppe der Universität Freiburg ein Forschungsprojekt über Mythen des Deutschen Südwestens durch.
Unter ihnen war Lisa Gruber, eine Nachfahrin des Pfarrers Alo fand in alten Kirchenbüchern die Einträge über den Albrechtfall und beschloss, das Tal zu besuchen, trotz der Warnung ihres Professors. “Man kann die Dunkelheit nur verstehen, wenn man hineinsieht”, sagte sie. Am 10. Mai stieg sie mit drei Komelitonen in die Wälder oberhalb von Trieberg.
Sie hatten Karten, Lampen und Tonbandgeräte dabei. Der Tag war klar, der Himmel hellblau. Doch je näher sie der beschriebenen Stelle kam, desto dichter wurde der Nebel. Gegen Mittag fanden sie eine ungewöhnliche Stelle im Hang, eine Vertiefung, kreisrund von alten Baumwurzeln umschlungen. Der Boden dort war weich, fast wie feuchter Lehm. Lisa kniete nieder und drückte die Hand hinein. Der Boden warm.
Sie stellte das Tonbandgerät auf und begann die Umgebung zu beschreiben. Plötzlich flackerte das Licht ihrer Lampe. Auf der Aufnahme, die später sichergestellt wurde, hört man, wie sie leise sagt: “Da ist ein Geräusch. Wie atmen. Es kommt von unten.” Dann Stille. Danach ein dumpfer Schlag.
Ein Schrei und das Band reißt ab. Die Polizei fand am nächsten Tag zwei der Studenten bewusstlos, aber am Leben. Sie lagen etwa 50 m vom Fundort entfernt, mit leichten Verbrennungen an den Händen. Sie erinnerten sich an nichts, außer an einen Moment, in dem Erde sich geöffnet habe. Lisa blieb verschwunden. Man suchte eine Woche lang. Schließlich fand man nur Ihr Tonbandgerät halb im Schlamm vergraben.
Das Band war unbeschädigt, doch niemand wagte, es vollständig anzuhören. Der Polizeibeamte, der das Protokoll schrieb, notierte nur: “Die letzten 10 Sekunden bestehen aus Kinderstimmen. Sie singen und eine Frau lacht.” Der Fall von Lisa Gruber wurde zum letzten Versuch, das verfluchte Tal des Schwarzwalds zu betreten.
Nach ihrem Verschwinden schloss die Polizei die Gegend endgültig ab. Schilder wurden aufgestellt, betreten verboten, Lebensgefahr durch Bergstürze. Doch die Einheimischen wussten, dass die Warnung nichts mit Erdrutschen zu tun hatte. Sie sagten, die Berge dort hätten begonnen, wieder zu atmen. Der Sommer jenes Jahres war ungewöhnlich heiß.
Aus den Quellen in der Umgebung stieg rötliches Wasser auf, das nach Eisen und Schwefel roch. Die Bauern berichteten, daß das Vieh die Tränken miet und die Nächte unruhig wurden. Hunde bellten in die Dunkelheit, als sehen sie etwas, das die Menschen nicht sahen. Ein Forstarbeiter namens Ralph Meinhard wurde beauftragt, das Gelände zu überwachen, um eventuelle Brandgefahren zu vermeiden.
Am 27. Juli schrieb er in sein Notizbuch: “Ich war heute wieder oben. Nichts ungewöhnliches, außer dass der Boden vibriert hat, als ich stand. Kurz, aber deutlich, und ich schwöre, ich habe Stimmen gehört, Kinder vielleicht, sehr fern, als kämen sie durch Wasser.” Drei Tage später kehrte er nicht zurück.
Seine Kollegen fanden seine Ausrüstung am Rand des alten Pfades. Helm, Rucksack, Lampe, alles ordentlich hingelegt, als hätte er sie bewusst abgelegt. Der Boden um die Stelle war feucht und warm, obwohl es tagelang nicht geregnet hatte. Ein Jahr später, im Herbst 1999, also genauert Jahre nach dem Tod der Schwestern, kam es zu einem Erdbeben der Stärke 5,2 auf der Richterskala.
Das Epizentrum lag, wie seismologische Messungen ergaben, in der Nähe des alten Tals. Es war das stärkste Beben, das der Schwarzwald je erlebt hatte. Die Menschen in den umliegenden Dörfern wurden in der Nacht davon geweckt. Manche berichteten, sie hätten Stimmen gehört, nicht Schrei, sondern Gesang.
Der Pfarrer von Trieberg, Bruder Konrad, schrieb am nächsten Tag in das Kirchenbuch. Um Mitternacht bebte die Erde, die Glocken läuteten von selbst und in der Luft war ein Klang wie von Kindergören. Manche sagten, sie hätten eine Frau lachen gehört, doch ich hoffe, das war nur der Wind. Nach dem Beben kam ein Erkundungstrup aus Stuttgart, um das Gebiet zu untersuchen.
Der Leiter der Mission, Geologe Dr. Peter Hallstein, fertigte einen Bericht an, der später aus den Archiven verschwand. Ein Abschriftsfragment, das in den 2000er Jahren gefunden wurde, enthielt folgende Zeilen. Das Gestein im Zentrum der Senke ist unnatürlich hohl. Unter der Oberfläche verlaufen Kanäle, die eindeutig von Menschenhand geschaffen wurden.
Bei Bohrung in 17 m Tiefe trat warmer Dampf aus, schwefelig, aber nicht vulkanisch. Nach 2 Minuten begann das Gestein selbst zu vibrieren. Wir haben die Bohrung abgebrochen. Dr. Hallstein notierte handschriftlich am Rand. Der Fels atmet wieder. Drei Wochen nach der Untersuchung wurde er Tod in seiner Wohnung in Stuttgart gefunden.
Kein Zeichen von Gewalt, doch auf seinem Schreibtisch lag eine geöffnete Akte. Darin lag ein einziger Zettel mit einer Notiz in seiner Handschrift: “Sie haben uns nur schlafen lassen.” Nach seinem Tod ordnete das Innenministerium an, das Gelände großräumig zu sperren. Es hieß offiziell: Manolle die geologischen Risiken unter Kontrolle bringen.
In Wahrheit wurden alle Wege mit Steinen blockiert, die alten Pfade beseitigt und das Tal verschwand endgültig hinter Absperrungen und Legenden. Doch in den Jahren danach berichteten Wanderer, die sich verirrt hatten, von einer unerklärlichen Erscheinung, einem dünnen, weißen Nebel, der selbst bei Wind still in der Luft stand. Und in ihm, sagten sie, hörte man etwas wie das Atmenes Kindes, leise, regelmäßig, wie aus weiter Tiefe.
Zu Beginn des neuen Jahrtausends schien das Tal endgültig vergessen. Karten zeigten nur noch Waldfläche, keine Pfade, keine Senke, keine Spur der alten Höhlen. Doch Legenden verschwinden nie wirklich. Sie wechseln nur ihre Gestalt. Im Jahr 2010 kaufte eine Firma aus Stuttgart das Gebiet für angebliche geologische Forschung.
Ihr offizieller Name lautete geothermische Energie Baden GmbH. Aber die Einheimischen sagten von Anfang an, daß dort etwas anderes gesucht wurde. Im Frühjahr 2011 begann man mit schweren Maschinen den Boden zu bohren. Man wollte, wie es hieß, eine tiefe Energiequelle erschließen. Doch schon nach den ersten Wochen häuften sich seltsame Vorfälle.
Arbeiter klagten über Kopfschmerzen, Halluzinationen und Schlafstörungen. Einige berichteten, sie hätten Stimmen gehört, wenn sie die Borschächte betraten. Flüsternde kindliche Stimmen, die einzelne Worte wiederholten: “Licht, rein, bleiben.” Ein Arbeiter verließ mitten in der Nacht das Lager und wurde nie wieder gefunden. In seinem Zelt blieb nur ein Notizbuch zurück, auf dessen letzter Seite stand: “Es riecht nach Erde, aber die Erde lebt.
” Nach zwei Monaten stellte die Firma die Arbeiten ein. Offiziell hieß es, es gäbe unstabile Gesteinsschichten. Inoffiziell kursierten Gerüchte, dass einer der Ingenieure etwas gefunden habe. Eine Kammer mit Mauerwerk tief unter der Bohrstelle. Doch niemand durfte Fotos machen und alle Arbeiter mußten Verschwiegenheitserklärungen unterzeichnen.
Die Geräte wurden abgebaut, die Zufahrt versiegelt und das Gelände wieder an den Start übergeben. Ein Journalist aus Freiburg, Tobias Riemer, begann im Jahr 2013 mit Nachforschung. Er stieß auf alte Archivakten, auf Kopien der Berichte von Ernst Riedel und Dr. Hallstein und schließlich auf die Erwähnung des Namens Albrecht in einem vergilbten Verwaltungsdokument. Er besuchte das Gebiet trotz des Verbots, ausgerüstet mit einer Kamera und einem Aufnahmegerät.
Sein letzter Blockintrag lautete: “Ich habe es gefunden. Es ist nicht mehr verschüttet, nur überdeckt. Der Fels atmet noch und unter mir ist etwas warmes, als würde es sich bewegen.” Zwei Tage später fand man sein Auto auf einem Waldweg, den Schlüssel noch im Zündschloss. Das Aufnahmegerät lag auf dem Beifahrersitz. Auf der Datei waren kaum erkennbare Geräusche.
Wind, Schritte, dann eine Frauenstimme. Leise, ruhig, alt. Du bist gekommen. Es war Zeit. Danach Stille, dann ein Rascheln, als würde Sand über das Mikrofon rieseln und ein letztes Geräusch. Schwer zu deuten. Halb Atem, halb Lachen. Die Polizei erklärte Remer für vermisst.
Seine Familie zog nach Norddeutschland, um der Schande zu entgehen und das Landratsamt Willingenschwenningen ließ das Tal erneut sperren. Diesmal nicht nur mit Schildern, sondern mit einem Metallzaun, bewacht von privaten Sicherheitsdiensten. Die offizielle Begründung: Gefährdung durch geothermische Instabilität. Doch der alte Förster Konrad Meinhard, der Sohn des verschwundenen Waldarbeiters Ralph Meinhard, erzählte später, daß man in jener Zeit nachts Licht zwischen den Bäumen sah. “Kein Feuer”, sagte er, “Kein Scheinwerfer.
Es war als ob etwas unter der Erde glühte und der Boden vibrierte, als würde jemand darin gehen. Er sagte auch, dass er in einer Winternacht, als er sich dem Zaun näherte, eine Kinderhand im Nebel sah, klein, durchsichtig, wie aus Dampf geformt. “Sie hat mich nicht berührt”, sagte er, aber sie hat sich bewegt und ich schwöre, ich habe ihre Lippen gesehen.
Sie hat gelächelt. Nach dieser Begegnung sprach Konrad Meinhard nie wieder über das Tal. Ein Jahr später starb er an Herzversagen. Auf seinem Nachttisch fand man ein Blatt Papier. Darauf stand in schwacher Schrift: “Drei Stimmen im Fels, zwei warten, eine führt.

” Im Herbst des Jahres 2025 beschloss eine Gruppe unabhängiger Dokumentarfilme, eine Serie über ungelöste deutsche Legenden zu drehen. Eine Episode sollte den Fall der Schwestern Albrecht behandeln. Der Leiter des Projekts Jonas Keller war fasziniert von der Mischung aus Religion, Wahnsinn und Isolation. Trotz aller Warnung beantragte er eine einmalige Drägenehmigung für das gesperrte Gebiet.
Der Antrag wurde überraschend genehmigt mit dem Hinweis: “Die Crew müsse von einem Vertreter des Innenministeriums begleitet werden.” Dieser Mann stellte sich als Herr Vogler vor, ein schweigsamer Beamter mit grauem Mantel und kalten Augen. Am 3. Oktober traf das Team am Rande des alten Waldes ein. Sie stellten Kameras auf, drohen, Sensoren.
Der Nebel war dicht, die Sonne kaum zu sehen. Um 16 Uhr begann die Aufnahme. Keller beschrieb in seiner Einführung die Legende. Zwei Schwestern, ein verfluchtes Blut, ein Tal, das den Atem der Toten bewahrt. Seine Stimme halte zwischen den Bäumen, gedämpft vom Nebel.
Gegen Abend drang ein merkwürdiger Ton aus dem Boden, tief, vibrierend, wie das Grollen eines entfernten Gewitters. Die Geräte begannen zu spinnen, Bildschirme flackerten. Vogler forderte den sofortigen Abbruch, doch Keller bestand darauf, weiterz filmen. Die Crew setzte eine Bodenmikrofons ein. Das, was sie aufzeichnete, sollte niemand je wieder hören. Die Aufnahmen, später im Nachlass eines Teammitglieds gefunden, enthielten ein tonloses Summen, das sich allmählich zu Stimmen formte.
Kinderstimmen, viele in verschiedenen Tonhöhen, die etwas flüsterten. Nur ein Wort war klar zu verstehen zurück. Dann plötzlich ein hoher schriller Klang als zerreiße Metall. Eine Kamera fiel um. Das Bild flackerte und für einen Sekunden Bruchteil war im Nebel etwas zu sehen. Zwei Gestalten, groß, blass, ihre Gesichter von langen, grauen Haaren halb verdeckt.
Die Kamera zeichnete auf, wie Keller schrie, dann brach die Verbindung ab. Als die Polizei am nächsten Morgen eintraf, war das Lager leer. Von den fünf Personen, die in der Nacht dort gewesen waren, fand man nur Vogler, lebend. Aber bewußtlos mit verbrannten Händen.
Im Krankenhaus erwachte er kurz, murmelte etwas, das niemand verstand, und starb wenige Stunden später. Der Tongingenieur, der das Material gesichtet hatte, erlitt einen Nervenzusammenbruch. Die Behörden erklärten die Katastrophe mit Oneen technischem Versagen und Gasfreisetzung aus dem Boden. Das Material der Kameras wurde beschlagnahmt, doch ein kurzes Fragment tauchte Wochen später im Internet auf.
Ein unscharfes Bild, das den Hang zeigt und im Hintergrund drei kleine Gestalten, die im Nebel stehen. Zwei halten sich an den Händen, die dritte steht etwas dahinter. Sie schauen in die Kamera. Nach dieser Veröffentlichung wurde das Video gelöscht und alle, die es geteilt hatten, erhielten Mitteilungen über Urheberrechtsverletzung und Gefährdung der öffentlichen Ordnung.
Das Tal wurde erneut versiegelt, diesmal mit Betonplatten und Sensoren. Auf keiner modernen Karte findet sich mehr ein Hinweis auf seine Existenz. Doch Wanderer berichten, daß man an stillen Tagen, wenn der Wind aus dem Süden weht, ein fernes Summen hören kann, wie Kinder, die leise singen. Es ist kein Lied, das man kennt.
Kein Rhythmus, kein Anfang, kein Ende, nur Stimmen, die sich im Nebel verlieren. Und wenn man ganz genau hinhört, glaubt man manchmal zwischen den flüsternden Stimmen eine andere zu erkennen. Tief, ruhig, fast freundlich. Eine Frauenstimme, die sagt, das Blut ist rein und das Licht bleibt unten.