Seite um Seite war ein feiner Handschrift beschrieben. Es war das Tagebuch von Magdalena Albrecht. Darin stand jedes Detail, die Entführung, die Auswahl der Opfer, die Begründung ihres Tuns. Der Herr hat mich auserwählt, das Blut reinzuhalten, schrieb sie. Die Welt da draußen ist verdorben. Nur wer in Dunkelheit geboren wird, bleibt frei von Versuchung.
Sie führte Listen über Geburten, über Kinder, die nach wenigen Tagen starben und andere, die überlebten. Sie schrieb über das Zuchtzimmer, über das, was sie wohl die Reinigung der Linie nannte. Kein Wort des Bedauerns, keine Reue, nur kalte sachliche Aufzeichnung, als führe sie Buch über ein landwirtschaftliches Experiment. Riedel las nicht weiter. Er ließ die Hefte einpacken, nahm sie als Beweismittel.
Wir bringen alles nach Freiburg”, sagte er knapp. “Das hier darf niemand mehr sehen.” Als sie die Kammern verließen, war die Nacht hereingebrochen. Die Fackeln warfen lange Schatten über den Hof. Hinter ihnen halte das Echo ihrer Schritte, als würden noch immer Stimmen in den Gängen flüstern. Bevor sie den Hang verließen, blickte Riedel zurück. Der Eingang lag schwarz im Fels, unbewegt.
Nur der Wind strich hindurch, leise wie ein Atemzug. Am nächsten Morgen kehrten die Männer in die Kreisstadt Willingen zurück. Sie brachten die drei Kinder, die Tagebücher und die wenigen Überreste der Opfer, die sich identifizieren ließen. Der Weg hinab aus dem Tal war still. Niemand sprach. Die Kinder wimmerten, wenn die Sonne sie traf und vergruben die Gesichter in den Jacken der Männer.
In Willing erwartete sie eine Menge, die sich vor dem Amtsgebäude versammelt hatte. Die Nachricht von den Geschehnissen hatte sich in Windeseile verbreitet. Als Riedel vom Pferd stieg, herrschte für einen Augenblick völlige Stille. Dann begannen die Menschen zu murmeln, sich zu bekreuzigen, den Kopf zu schütteln. Dr.
Falkenstein trug die Kinder in eine Decke gehüllt ins Hospital. “Sie sind halb verhungert”, sagte er zu Riedel. “Ihr Blut ist dünn, ihre Haut durchsichtig. Das ist das Ergebnis von Jahren ohne Licht.” Der Bezirkswachtmeister nickte nur. Er wusste nicht, wie man so etwas verarbeiten konnte. Noch am selben Tag schrieb er seinen Bericht an das Innenministerium.
Drei Tage und Nächte saß er über den Papieren, beschrieb akribisch jeden Fund, jedes Detail der Untersuchung, jede Leiche, jedes Zeichen des Grauens. “Ich habe nicht gewusst”, schrieb er am Ende, “dass der Mensch zu solchem Schweigen fähig ist, wenn er Böses tut. Diese Frauen haben gelächelt, gebetet und gemordet, ohne dass ein Nachbar es bemerkte.
” Die Regierung schickte eine Kommission aus Freiburg, doch die Beamten kamen nicht weiter. Die Berge machten jeden Transport mühsam und der Wille der Dorfbewohner, das Geschehen ruhen zu lassen, war stärker als jeder Befehl. Noch bevor die Untersuchungen abgeschlossen waren, versammelten sich Männer aus den umliegenden Dörfern, fuhren mit Wagen und Fackeln hinauf zum Hof der Albrechts.
Riedel erfuhr es zu spät. Als er eintraf, stand das Gehöft bereits in Flammen. Die Männer warfen Pechfackeln in die Gebäude, schlugen mit chten auf die Wände ein, schrien, dass kein Stein auf dem anderen bleiben dürfe. Der Rauch stieg wie eine Säule in den Himmel. “Verbrennt’s!”, rief einer. Kein Dämon soll da oben weiter hausen.
Innerhalb einer Stunde war alles zu Asche geworden. Das Wohnhaus, die Scheune, selbst die schweren Holztüren, die den Zugang zum Fels verschlossen hatten. Riedel stand abseits und sah zu. Niemand wagte ihn anzusprechen. Erst als das Feuer erlosch, ging er zu der Stelle, wo der Eingang gewesen war.
Er kniete nieder, nahm eine Handvoll Asche und ließ sie durch die Finger rieseln. Vielleicht, sagte er leise, ist das die einzige Gnade, die Sie verdient haben. Danach ließ er den Eingang mit Erde und Steinen verfüllen. Kein Zeichen sollte mehr bleiben, kein Hinweis auf das, was dort geschehen war. Die Leute im Tal nannten den Ort fort an, das verfluchte Loch.
Niemand sprach offen darüber und auf keiner Karte war die Stelle je wieder verzeichnet. Die drei Kinder brachte man wenige Tage später nach Freiburg in ein Weisenhaus. Dr. Falkenstein blieb eine Woche dort, um sie zu beobachten. Das älteste Mädchen, etwa sieben Jahre alt, begann nach und nach auf Worte zu reagieren. Sie konnte einfache Laute nachsprechen, aber keine Bedeutung begreifen.