Sie war rational, modern, an die Wissenschaft glaubend und hielt das Gerede über die Schwestern Albrecht für einen Aberglauben, der aus Hunger und Angst geboren worden war. Doch etwas in den Notizen, die man im Nachlaß des Pflegers gefunden hatte, weckte ihre Neugier. Sie beschloss, das Tal aufzusuchen, das in keiner Karte mehr verzeichnet war.
Nur durch alte topographische Aufnahmen und Berichte des 19. Jahrhunderts fand sie die ungefähre Lage zwischen Trieberg und Hornberg, dort, wo die Berge wie eine geschlossene Hand ineinander griffen. Im Oktober stieg sie mit zwei Studenten auf. Der Wald war still, fast unnatürlich still. Kein Vogel sang, kein Tier bewegte sich.
Nach zwei Stunden Marsch fanden sie einen Platz, an dem der Boden eingesunken war, wie ein alter Schacht. Der Wind, der daraus drang, war kalt und feucht, obwohl die Luft sonst mild war. Clara legte die Hand an den Boden. Er vibrierte leicht, als atme der Fels. “Das ist es”, flüsterte sie. Die Studenten lachten unsicher, aber sie spürten beide dieselbe Beklemmung.
Sie beschlossen, eine Kamera und Messgeräte zu holen und am nächsten Tag zurückzukehren. In jener Nacht schrieb Kara in ihr Notizbuch: “Ich weiß, dass es Unsinn ist, aber der Wind dort unten klingt, als würde er meinen Namen sprechen.” Am nächsten Morgen stiegen sie erneut hinauf. Es war neblig und der Wald wirkte verändert. An der Stelle, wo sie den Schacht gefunden hatten, lagen frische Äste, als hätte jemand versucht, ihn zu verdecken.
Einer der Studenten hob die Äste beiseite, darunter eine schmale Spalte im Fels, schwarz, kaum ein Meter breit. Ein Geruch von feuchtem Eisen und Moder stieg auf. Sie machten Fotos, dann rief Klara in die Dunkelheit hinab. Kein Echo, nur ein leises Tropfen tief unten. Sie beschloss, ein Seil zu holen und in den Spalt zu steigen.
Die Studenten protestierten, doch sie bestand darauf. “Nur kurz”, sagte sie, “ich will sehen, ob es tatsächlich Kammern gibt.” Sie knoteten das Seil an eine Wurzel. Klara befestigte es um ihre Teille und schaltete die Taschenlampe ein. Sie kroch hinein, langsam, Schritt für Schritt. Nach wenigen Metern senkte sich der Gang und der Boden wurde glitschig.
Sie roch etwas süßliches, metallisches, ihre Lampe flackerte und für einen Moment glaubte sie, eine Bewegung am Ende des Ganges zu sehen. Eine Gestalt, klein, blass, mit langen Haaren. Sie rief, doch das Licht erlosch. Die Studenten hörten einen Schrei, dumpf, kurz, dann stille. Sie riefen nach ihr, doch keine Antwort kam.
Nach einer Stunde wagte einer, das Seil einzuholen. Es war schlaf. Kein Widerstand. Am Ende hing abgerissene Schlaufe. Man suchte drei Tage lang mit Polizei, Hunden und Bergrettern. Man fand nichts. Kein Seil, keine Spur, keine Tasche, nur eine Fotokamera, deren Film vollständig belichtet war. Auf den Bildern, Bäume, Nebel, ihre Hand, die auf dem Boden ruht.
Und das letzte Bild zeigte eine dunkle Fläche, durchzogen von feinen Linien, als hätte jemand mit Fingern über Glas gestrichen. Der Fall Weinmann wurde nie aufgeklärt. Die Behörden erklärten ihn als Unfall durch Absturz in nichtkartiertes Gelände. Doch in der Universität kursierte bald eine Kopie ihrer letzten Notiz. Wenn ich nicht zurückkehre, sagt niemandem, daß ich etwas gesehen habe.
Sagt einfach, ich sei gefallen, denn was ich gehört habe, soll niemand hören. Ein Jahr später, im Herbst des Jahres 1979, berichtete ein Förster aus Hornberg, er habe in einer windstillen Nacht aus der Richtung des Altals Gesang gehört. Kinderstimmen, die ein Lied summten, langsam in einem Rhythmus, der nicht menschlich klang.
Er schwor: “Er habe deutlich Worte vernommen. Licht, Licht, Licht. Man nahm ihn nicht ernst, doch die wenigen, die die Geschichte kannten, wußten, dass dies das Wort war, dass Jakob Albrecht vor seinem Tod in Stein gekratzt hatte. Im Winter des Jahres senkte sich über den Schwarzwald ein Schnee, wie ihn die alten Leute seit Jahrzehnten nicht gesehen hatten.
Wochenlang war das Tal abgeschnitten, Straßen unpassierbar, ganze Dörfer von der Außenwelt getrennt. In jener Zeit verschwand ein Junge aus Trieberg, 12 Jahre alt. Paul Schneider, Sohn eines Försters. Er war mit Freunden Schlitten gefahren und kam nicht nach Hause. Man suchte tagelang, durchkämte den Wald, fand Spuren, die in Richtung der alten verbotenen Region führten, wo eins der Hof der Albrechts gestanden hatte.