
In den abgelegenen Tälern des bayerischen Voralpenlandes, wo der Nebel wie ein atmender Schleier zwischen dunklen Tannen hängt und die Erde selbst das Schweigen zu bewahren scheint, stand eine einsame Hütte, deren Wände mehr verbargen, als jedes Dorf ahnte. Es war das Jahr 1877, kaum ein Jahrzehnt nach dem Krieg zwischen Bayern und Preußen, und in den entlegenen Winkeln südlich von Rosenheim war die Zeit stehen geblieben. Das Gesetz der Berge galt mehr als das Gesetz des Königs.
Dort lebte eine Frau namens Adelheit Krämer mit ihren beiden Söhnen, den riesenhaften Zwillingen Jakob und Heinrich. Niemand konnte genau sagen, wann sie in diese Wildnis gezogen waren. Einige behaupteten, sie seien aus dem Allgäu gekommen, andere, sie hätten schon immer dort gelebt, in jener steinernen Schlucht, in der das Echo der Alphörner nie erklang und die Kälte selbst im Sommer tief in den Felsen saß.
Die Brüder waren Männer, die man nicht übersehen konnte. Beide überragten jeden Dorfbewohner um Haupteslänge, ihre Schultern so breit wie das Tor einer Scheune. Ihre Gesichter trugen denselben harten Ausdruck, die gleiche blasse Haut, die gleichen hellen, beinahe durchsichtigen Augen, die jeden, den sie ansahen, frösteln ließen. Sie sprachen kaum, und wenn, dann klangen ihre Worte wie Bibelverse, auswendig gelernt und unverständlich miteinander verbunden. Es war, als würden sie eine Sprache sprechen, die älter war als die Menschheit.
Adelheit, die Mutter, war eine hagere Frau, deren Gesicht von Falten durchzogen war wie altes Pergament. Man sagte, sie lese jeden Abend laut aus der Heiligen Schrift, während ihre Söhne unbewegt an den Wänden standen und ihr zuhörten, ihre Schatten sich auf den rauen Holzdielen vergrößerten.
Im Dorf kannte man sie nur vom Sehen, wenn sie einmal im Jahr hinunterkam, um Salz und Mehl zu kaufen, und mit alten Silbermünzen bezahlte, deren Herkunft niemand zu ergründen wagte. Ihr Hof lag fünf Stunden Fußmarsch über dem letzten Weiler, dort, wo die Wege nur noch aus Felsen bestanden und das Glockengeläut aus den Tälern nie zu hören war. Kein Fuhrmann kam dorthin, kein Händler blieb über Nacht. Der Winter schnitt sie monatelang von der Welt ab.
Und doch, trotz dieser Abgeschiedenheit, begannen eines Herbstes Gerüchte, die Berge hinabzurieseln wie feiner Schnee. Man sagte, die alte Krämerin sei schwanger. Zuerst lachte man darüber, dann senkten die Frauen ihre Stimmen und die Männer wechselten rasch das Thema. Denn jeder wusste, dass kein Fremder die Hütte seit Jahren betreten hatte. Niemand hatte den Zwillingen je eine Frau an der Seite gesehen.
Und doch sah ein Holzfäller, der aus der Ferne vorbeiging, deutlich die Rundung unter Adelheits Kleid, schwer und unübersehbar. Es war ein Leib, der das Leben trug, aber die Natur selbst schien den Kopf zu schütteln.
Im Dezember erreichten die Gerüchte den Dorfschreiber Sebastian Vogt, der zugleich Friedensrichter war. Er war ein Mann, der sich an Gesetze hielt, aber auch an das Schweigen, das in den Bergen galt. Doch diesmal ließ ihn das Gefühl nicht los, dass etwas Unnatürliches dort oben geschah.
Einem alten Eid folgend machte er sich auf den Weg, um die Sache selbst zu sehen. Der Aufstieg dauerte den ganzen Tag. Schneeflocken wirbelten zwischen den dunklen Fichten, und der Wind trug einen süßlichen Geruch mit sich – etwas, das an Verwesung erinnerte, aber schwächer, vermischt mit dem Duft von Holzrauch und kalter Erde.
Als Vogt schließlich den Hang erreichte, auf dem die Hütte stand, sah er zwei Gestalten aus dem Schatten treten. Jakob und Heinrich standen nebeneinander wie aus einem Guss. Ihre Hände leer, ihre Gesichter reglos. Nur ihre Augen bewegten sich langsam, gleichmäßig, und folgten jedem seiner Schritte, als wäre er eine Beute.
„Ich komme im Namen des Landrates“, sagte Vogt, seine Stimme klang gezwungen fest.
Keiner antwortete. Dann öffnete sich die Tür, und Adelheit Krämer trat heraus. Unter ihrem groben Wollkleid wölbte sich der Leib einer Frau, die bald gebären würde. Sie legte eine Hand auf den Bauch, als wolle sie das Leben darin schützen oder bewachen.
Ihr Blick war klar, fest, und als sie sprach, klang ihre Stimme ruhig, fast gütig, wie die Stimme einer frommen Bäuerin.
„Das Kind“, sagte sie, „war ein Geschenk Gottes. Es ist geboren und gestorben, wie er es wollte.“
Vogt nickte, aber innerlich zog sich ihm alles zusammen. Irgendetwas an dieser Stille, an den unbeweglichen Gestalten der Söhne, war falsch. Als er wieder hinabstieg, war ihm, als würden die Berge selbst ihn beobachten. Er wusste noch nicht, dass unter der Erde jener Hütte ein Geheimnis lag, das älter war als die Schuld selbst.
Als Sebastian Vogt in jener Nacht das Tal erreichte, hatte der Schnee bereits begonnen, die Spuren seines Aufstiegs zu verschlucken. Im Gasthof zum Hirschen sahen die Dorfbewohner sofort, dass Vogt bleich war. Er erzählte ihnen, was er gesehen hatte.
„Sie war schwanger“, sagte er, „und sie hat gesagt, das Kind sei tot.“
Ein Murmeln ging durch die Schankstube. Denn was Vogt nicht sagte, wusste jeder, der die Berge kannte. Kein Mann konnte die Hütte der Krämer erreichen, ohne dass man es sah. Kein Fremder war seit Jahren dort oben gewesen.
Am nächsten Morgen stand Vogt erneut vor der Entscheidung, ob er schweigen oder handeln sollte. Doch er hatte im Blick der alten Frau etwas gesehen, das ihn nicht losließ. Nicht Reue, nicht Angst, sondern die unerschütterliche, fanatische Überzeugung, im Recht zu sein. Er schrieb einen Bericht an den Bezirkskommissar in Rosenheim, doch das Wetter verzögerte die Post.
Währenddessen erzählten die Hirten von neuen seltsamen Dingen in der Höhe. Kein Rauch mehr aus dem Schornstein der Krämer-Hütte, keine Spur im frischen Schnee. Und eines Abends sah ein Knecht, der Holz sammelte, etwas wie einen schwachen Lichtschein, tief unter der Erde in der Nähe der Hütte.
Vogt beschloss, selbst zurückzukehren. Diesmal nahm er den Förster Georg Reiter mit, einen kräftigen Mann mit ruhiger Hand und dem Mut, sich dorthin zu wagen, wo andere sich bekreuzigten.
Der Aufstieg war härter als beim ersten Mal. Als sie nach Stunden den Hof erreichten, war es still. Die Tür der Hütte stand offen. Drinnen roch es nach Lauge, stark, beißend, als hätte jemand tagelang den Boden geschrubbt, um jede Spur von der Geburt zu tilgen.
Vogt hob eine Hand und deutete nach unten. Am Boden, halb verborgen unter einem losen Brett, war eine Falltür. Reiter zog das Brett heraus. Ein Hauch stieg auf, feucht, modrig, aber mit jener anderen metallischen Note, die Vogt sofort erkannte.
Sie hoben die Falltür an. Darunter lag ein niedriger Keller aus Stein gebaut, zu groß für Vorräte, zu sorgfältig angelegt. Auf halber Höhe entdeckten sie eine kleine Holztruhe, sorgfältig verschlossen. Reiter brach sie mit der Axt auf. Darin lagen alte Münzen, Ringe, ein Taschenmesser und ein Stück Stoff, fein und fremdartig, nicht aus den Dörfern ringsum.
„Das gehört keinem von hier“, murmelte Reiter.
Unten im letzten Winkel des Kellers lag eine zweite Tür. Sie war aus schwerem Eisen gefertigt, ungewöhnlich für eine Berghütte. Vogt legte das Ohr an das kalte Metall. Kein Laut kam daraus hervor, nur die dumpfe, beklemmende Stille, die schwerer wog als jedes Geräusch.
„Wir holen Hilfe“, sagte er leise.
Doch noch bevor sie die Hütte verließen, hörten sie etwas. Ein dumpfes, gleichmäßiges Klopfen, tief unter ihren Füßen. Drei Schläge, dann wieder Stille, dann erneut drei.
Reiter wich zurück. „Das kommt aus dem Boden.“
Vogt löschte die Laterne, und für einen Moment war da nichts als das Atmen der beiden Männer und das Knarren des Holzes.
Dann, in der Dunkelheit, erhob sich eine Stimme. Eine Frauenstimme, aber klar, als stünde sie direkt neben ihnen.
„Ihr sollt nicht richten, auf dass ihr nicht gerichtet werdet.“
Vogt und Reiter standen reglos. Die Stimme war nicht von oben gekommen, sondern aus der Tiefe, dort, wo die zweite Tür lag.
„Das war sie“, flüsterte Vogt. „Adelheit Krämer…“
Doch Reiter schüttelte den Kopf. „Nein, das war anders.“
Sie verließen den Keller, verschlossen die Falltür und machten sich auf den Rückweg. Der Schnee fiel dichter, die Dämmerung brach herein, und als sie das Tal erreichten, war Vogt sicher, dass jemand ihnen gefolgt war.
Zwei Tage später kehrte Vogt mit vier Männern zurück, darunter der junge Arzt Dr. Albrecht Stein aus Rosenheim, der den Ruf hatte, sich auch um die dunkleren Angelegenheiten der Dörfer zu kümmern. Als sie den Hang hinaufstiegen, waren keine neuen Spuren im Schnee. Die Tür der Hütte stand offen wie zuvor, doch das Innere war leer, alles war verschwunden.
An der Stelle der Falltür fand sich nun ein sauberer Steinboden ohne jede Fuge.
„Sie haben ihn zugemauert“, sagte Reiter tonlos.
Dr. Stein beugte sich hinab, klopfte mit dem Griff seines Messers auf den Stein. „Hohl!“
Die Männer arbeiteten den halben Tag, bis sie den Stein aufbrachen. Darunter kam dieselbe Treppe zum Vorschein. Doch diesmal drang ihnen ein Geruch entgegen, so süßlich und faul, dass selbst der erfahrene Arzt zurückwich.
Sie gingen hinunter. Auf der Treppe lagen kleine Holzkreuze, sorgfältig in gleichen Abständen gelegt. Jedes trug eingeritzte Buchstaben: A.K., Adelheit Krämer.
Unten war der Keller unverändert. Nur die Eisentür war nun halb geöffnet. Entlang der Wände hingen Kleidungsstücke, alte Westen, Schürzen, sogar ein Priesterrock, alle sauber gewaschen und aufgehängt. Daneben kleine Bündel, mit Bändern verschnürt. Reiter öffnete eines. Darin lag ein Kinderarmknochen, sauber abgelegt wie eine Reliquie.
Dr. Stein beugte sich über die Bündel, seine Stimme kaum hörbar. „Das hier ist nicht neu. Das ist jahrelang so gepflegt worden.“
„Von wem?“, fragte Vogt.
„Von ihr und von den Söhnen.“
Als sie die Rückwand des Kellers untersuchten, fanden sie etwas, das aussah wie eine schmale Tür aus Erde, selbst von Hand gegraben. Dahinter begann ein Gang, niedrig und schmal. Er führte tiefer in den Berg. Dort unten war keine Luft mehr, nur der dumpfe Geruch von Fäulnis und Eisen.
Vogt sah im Lichtschein etwas Metallisches blitzen. Es war eine Kette, an der menschliche Knochen hingen, wie an einer Gebetskette. Darüber in die Wand eingeritzt, stand in sauberer deutscher Schrift: „Das Opfer nährt die Gerechten.“
Vogt hob den Blick. Weiter oben auf einem Balken hing ein Kreuz, roh geschnitzt, aber mit zwei Querstreben.
Dr. Stein flüsterte: „Das ist kein christliches Kreuz, das ist ein Bauernzeichen aus dem alten Glauben.“
In diesem Moment hörten sie wieder das Klopfen. Drei Schläge, dann drei. Und diesmal kam es von oben.
Sie starrten zur Decke, und Vogt erkannte, was es war. Schritte. Schwere, gleichmäßige Schritte, zwei Personen. Die Söhne waren zurück.
Vogt löschte hastig die Laterne, und Dunkelheit verschluckte sie alle. Nur das pochende Herz jedes einzelnen war zu hören, dumpf und laut in der Enge des Ganges. Die Schritte stoppten direkt über ihnen, dann ein Scharren, als würde etwas Schweres über den Boden gezogen.
Nach endlosen Sekunden begann ein anderes Geräusch, ein leises Summen. Zwei Stimmen, tief und rau, die im Einklang sangen. Es war ein Kirchenlied, doch verstimmt, verzogen, als hätte jemand das Heilige in etwas Dunkles verwandelt.
„Herr, prüfe uns im Feuer und erkenne die Gerechten“, sangen sie.
Der Klang kam durch den Boden, schwoll an, bis er wie ein fernes Donnergrollen vibrierte. Dann fiel Stille, nur der Wind wehte über die Berge.
„Sie wissen, dass wir hier sind“, flüsterte Vogt.
„Dann dürfen wir nicht fliehen“, sagte Dr. Stein, seine Augen weit offen. „Noch nicht.“
Schließlich entfernten sich die Schritte. Vogt gab das Zeichen. „Wir gehen jetzt sofort.“
Sie krochen zurück. Doch der Ausgang war verschlossen. Die schwere Falltür war von außen verriegelt.
„Zurück in den Gang!“, befahl Vogt, aber Dr. Stein zeigte auf die Seitenwand. „Da – frische Erde.“
Gemeinsam rissen sie mit Händen und Werkzeugen an der feuchten Wand, bis sich ein schmaler Spalt öffnete. Einer nach dem anderen zwängten sie sich hindurch. Sie gelangten in eine schmale Spalte zwischen Felsen. Hinter ihnen krachte Holz, und der Keller stöhnte, als breche er ein.
Sie rannten, stundenlang durch Schnee und Dunkel. Erst im Morgengrauen erreichten sie das Tal. Dort brach Vogt endlich zusammen.
„Sie sind keine Menschen“, flüsterte er. „Nicht mehr.“
Dr. Stein saß am Tisch und schrieb mit zittriger Hand seine Beobachtungen nieder. Zwillinge von über 2m. Haut blass, Pupillen fast farblos. Mutter fanatisch religiös, kulturell isoliert, geprägt von altem Volksglauben und Pseudochristentum. Hinweise auf ritualisierte Gewalt.
„Ich glaube“, sagte er leise, „sie glauben, sie wären Werkzeuge Gottes.“
Am nächsten Tag, einem Sonntag, versammelte Vogt Männer aus drei Dörfern. Doch als sie den Hang erreichten, war die Hütte verschwunden. Nur der schwarze, verkohlte Boden blieb, als hätte jemand sie in einer Nacht niedergebrannt. Zwischen der Asche fanden sie Spuren, große Fußabdrücke, tief und klar, die vom Haus fortführten. Zwei Paar. Sie führten nach Norden in Richtung der alten Mine, die seit dreißig Jahren verlassen war.
„Wir folgen ihnen“, sagte Vogt.
Der Marsch zur alten Mine dauerte viele Stunden. Die Fußabdrücke waren deutlich, zu deutlich. Es war, als führte jemand die Männer absichtlich.
Die Mine lag am Rand einer Schlucht. Der Eingang war ein dunkles Loch im Berg. Vogt, hob die Hand. „Hier bleiben die Pferde, nur vier gehen hinein.“
Sie zündeten Fackeln an und traten ein. Weiter hinten spaltete sich der Gang. Vogt wählte den rechten Weg. Nach vielleicht zwanzig Schritten hörten sie etwas. Ein Rascheln, dann ein fernes Klopfen. Wieder drei Schläge, dann drei.
„Das ist unter uns“, flüsterte Dr. Stein.
Dann sahen sie sie. Zwei Körper kniend am Boden, die Köpfe gesenkt, die Hände gefaltet. Jakob und Heinrich Krämer. Ihre Gesichter glänzten im Fackellicht, als hätte man sie mit Öl bestrichen.
„Sie beten“, flüsterte Reiter.
Vogt trat einen Schritt vor. „Im Namen des Gesetzes…“
Er kam nicht weiter. Die Zwillinge hoben gleichzeitig den Kopf. Ihre Augen waren nicht mehr blau, sondern milchig weiß. Und als sie sprachen, war es dieselbe Stimme aus zwei Mündern.
„Ihr habt das Urteil gebracht. Nun soll es vollstreckt werden.“
In einem einzigen Schlag riss Jakob einem der Männer die Waffe aus der Hand und schleuderte sie gegen die Wand. Der enge Raum machte jeden Kampf sinnlos.
„Feuer!“, rief Vogt.
Eine Fackel flog, traf ein Holzgestell, und binnen Sekunden stand der Gang in Flammen. Der Rauch füllte die Mine, brannte in den Augen.
„Zurück!“, schrie Reiter, und sie flohen stolpernd, hustend, während hinter ihnen die Zwillinge in den Rauch getaucht standen, unbeweglich, als seien sie aus Stein.
Als die Männer das Freie erreichten, stürzte die Mine hinter ihnen ein. Eine Wolke aus Staub und Asche wälzte sich hinaus. Niemand sprach.
„Sind sie tot?“, wagte Vogt zu flüstern.
Dr. Stein sah auf die Rauchfahne, die sich aus dem Felsen erhob. „Wenn sie Menschen waren, ja. Wenn nicht, dann haben wir sie nur geweckt.“
Die Nacht, die auf den Einsturz der Mine folgte, war die stillste, die das Tal erlebt hatte. Gegen Mitternacht hörte Reiter, der am Fenster wachte, ein Geräusch, ein fernes, rhythmisches Stampfen. Drei Schläge, dann eine Pause, wieder drei.
Er riss das Fenster auf. Der Klang war schwach, doch unverkennbar. „Sie sind da“, flüsterte er Vogt zu.
Am Morgen fanden sie Spuren im Schnee vor dem Haus. Große, tiefe Abdrücke, zu groß für Menschen. „Seht, wie der Schnee an den Rändern geschmolzen ist, warm“, sagte Vogt.
Am dritten Tag kam ein Bote aus Rosenheim. Doch es gab keine Familie mehr, nur die verbrannte Stelle, den eingestürzten Stollen und das Schweigen der Berge. Vogt führte sie dennoch hinauf, zeigte den Ort, erzählte, was geschehen war.
Sie begannen zu graben. Bald kam mehr zum Vorschein. Knochen, Rippen, Schädel, eine Hand, die noch einen Ring trug. Dr. Stein untersuchte die Schädel. Dann fand er etwas, das ihn innehalten ließ. Ein Amulett aus Knochen geschnitzt, in Form eines Kreuzes mit zwei Querstreben.
„Dasselbe Zeichen wie in der Mine“, flüsterte er.
Am Abend saßen sie um das Feuer. Niemand wollte essen. Der Wind drang durch die Ritzen, und in der Ferne glaubte einer, ein Lied zu hören. Eine Frauenstimme, die langsam und ruhig sang: „Herr, prüfe uns im Feuer.“
Vogt erhob sich, trat hinaus. „Sie sind nicht tot“, sagte er leise.

Am nächsten Morgen ritt er allein hinauf. Stunden später fand man sein Pferd am Wegesrand, den Sattel leer. Ein Blatt Papier unter einem Stein beschwert. Darauf stand in sauberer Schrift: „Das Opfer nährt die Gerechten. Du hast geurteilt, und nun wirst du gereinigt.“
Dr. Stein faltete das Blatt und sprach: „Er ist verloren.“ Dann sah er zum Himmel und flüsterte, als rede er zu jemandem, den nur er hören konnte. „Aber wir werden noch von ihnen hören – bald.“
In jener Nacht schlug zum ersten Mal seit Jahren ein Blitz in den Berg. Der Schnee brannte blau, und aus der Tiefe kam ein Laut, der wie ein Gebet klang oder wie das Lachen von zwei Stimmen zugleich.
Nach dem Verschwinden von Sebastian Vogt lag eine unsichtbare Last über dem Tal. Dr. Albrecht Stein blieb als einziger, um Nachforschungen anzustellen. Er schrieb Berichte, zeichnete Karten, befragte die Alten.
Eines Nachmittags, Anfang Februar, erschien im Dorf eine Gestalt, eine Frau in schwarze Tücher gehüllt, barfuß trotz des Schnees. Sie sprach kein Wort, ließ sich in der Schenke nieder und trank Wasser. Die Wirtsfrau schwor später: „Ihre Augen seien so hell gewesen wie Eis.“ Auf die Frage nach ihrem Namen antwortete sie nur: „Adelheit.“
Dann verließ sie den Ort und ging denselben Weg hinauf, den Vogt einst gegangen war.
Als die Nachricht Dr. Stein erreichte, machte er sich sofort auf den Weg. Er nahm Franz Keller mit, den Jüngsten der Gendarmen. Als sie die Stelle erreichten, an der Vogts Pferd gefunden worden war, blieb Stein stehen. Von hier an gehen wir zu Fuß.
Der Wind trug den Geruch von Schwefel. Der Himmel färbte sich violett, und über den Gipfeln schwebte ein Rauch, dünn und unbewegt. Die Mine lag still, der Eingang halb verschüttet, doch um den Stollen herum standen Steine in einem Kreis angeordnet, jeder mit einem Zeichen darauf eingeritzt. Dr. Stein nickte. „14 Zeichen. 14 Opfer.“
Im Inneren der Mine sahen sie Adelheit Krämer.
„Ihr dürft nicht bleiben“, sagte sie. „Der Berg ist erwacht.“
„Frau Krämer“, sagte Stein ruhig, „Ihr Sohn, eure Söhne, sie sind tot. Die Mine ist eingestürzt.“
Adelheit lächelte. „Tot? Nein, sie schlafen, und sie werden wiederkommen, wenn das Opfer vollständig ist.“ Sie hob eine Hand, und hinter ihr öffnete sich die Erde. Der Gang, der zuvor verschüttet war, zeigte plötzlich Tiefe. Von unten stieg Wärme auf und ein Geräusch, das wie Atmen klang.
„Das Opfer ist das, was der Gerechte gibt, wenn der Himmel schweigt. Das Opfer ist der Mensch, der glaubt, er richte, doch in Wahrheit gereinigt wird.“
Dann streckte sie ihm die Hand entgegen. Stein wich zurück, doch zu spät. Der Boden bebte. Eine Staubwolke stieg auf, und aus der Tiefe drangen zwei Stimmen. Tief, Unisono, wie metallisches Singen.
„Bleibt fern vom Berg! Er hat Hunger!“, hallte Vogts Stimme aus der Tiefe.
Dr. Stein sank in den Schnee, die Hände über dem Gesicht. Keller starrte auf den Rauch. „Sie kommen wieder“, sagte er.
In seinem Tagebuch notierte Stein später: Heute am 8. Februar des Jahres 1878 hat der Berg gesprochen und ich fürchte, er wird nie wieder schweigen.
Nach jener Nacht veränderte sich die Luft im Tal. Es war, als läge ein unsichtbarer Druck auf allem Lebenden. Am 14. Februar machte sich Dr. Stein mit Keller erneut auf den Weg zur Grube St. Georg. Am Hang stand etwas, das dort vorher nicht gewesen war. Ein Kreuz aus Holz, roh gezimmert, aber gewaltig hoch, fast drei Meter. Daran hing ein Tierkadaver.
„Das ist ein Sonnensiegel, heidnisch, sehr alt“, sagte Stein.
Sie betraten den Stollen. Plötzlich hörten sie Schritte. Zwei Schatten lösten sich aus der Dunkelheit. Keller hob die Flinte.
„Nicht!“, rief Stein, aber zu spät.
Der Schuss traf den vorderen Schatten und prallte ab, als hätte er Stein getroffen. Ein dumpfes, kehliges Lachen füllte den Gang. Dann eine Stimme, dieselbe aus beiden Mündern.
„Du kannst den Gerechten nicht verletzen, nur dich selbst.“
Keller fiel rückwärts, Blut sickerte aus seinem Ohr. „Er hat mich angesehen“, flüsterte er, „und ich sah mich selbst.“ Dann starb er.
Stein begrub ihn dort am Hang. In den Schnee ritzte er ein Kreuz und schrieb daneben: Für Franz Keller, gefallen im Dienst der Vernunft.
Als er ins Tal zurückritt, sprach er mit niemandem. Am Abend suchte ihn der Pfarrer von Prien auf.
„Herr Doktor, was haben Sie dort oben gesehen?“
Stein lächelte schwach. „Die Wahrheit“, sagte er, „und sie trägt zwei Gesichter.“
„Glauben Sie an Gott?“
„Nicht mehr“, antwortete Stein. „Aber der Berg glaubt an mich.“
In jener Nacht schrieb er zum letzten Mal. Die letzten Worte in seinem Tagebuch lauteten: Morgen gehe ich hinauf. Wenn ich nicht zurückkehre, dann lass den Berg ruhen. Denn was dort schläft, ist kein Mensch. Er kehrte nie zurück.
Der Frühling kam früh jenes Jahres, doch im Tal brachte er keine Wärme. Der Schnee schmolz, und mit ihm kamen Dinge zum Vorschein, die niemand hätte finden wollen. Knochen an den Bachufern, Kleidungsstücke zwischen Wurzeln.
Die Bauern sagten: „Der Berg spuckt aus, was er nicht mehr braucht.“
Im Mai schickte der Bezirkskommissar erneut Leute hinauf. Drei Männer diesmal, darunter ein Geologe aus München, Herr Friedrich Maler, der an nichts glaubte, was er nicht messen konnte.
Sie stiegen hinab. Nach wenigen Schritten begann der Kompass, zu spinnen. Aus den Ritzen sickerte Wasser, das im Licht der Laternen rot schimmerte. Im Inneren des Stollens lag etwas, das aussah wie eine Tür aus Holz, schwarz und mit Nägeln beschlagen. Maler wollte sie öffnen.
„Geschichten haben keine Macht über den Verstand“, sagte er.
Er legte die Hand auf die Tür. Sie war warm, fast heiß. Dann begann sie zu beben. Aus der Dunkelheit drang ein Flüstern – tausend Stimmen zugleich.
„Purificatio non finit!“, schrie einer der Aufseher, und fiel auf die Knie.
Aus der Dunkelheit traten zwei Gestalten. Ihre Haut war wie Wachs, die Münder geöffnet zu einem stummen Gebet. „Du forschst nach Gott in der Erde, Professor. Jetzt weißt du, wo er wohnt.“
Die Männer flohen. Nur einer erreichte das Tal. „Sie haben ihn genommen“, sagte er, „Und der Berg hat wieder geschlafen.“
Im Sommer des Jahres 1878 schien die Natur das Tal vergessen zu haben. Nur in der Nacht, wenn der Wind still war, glaubte man von dort oben ein Summen zu hören, tief und monoton, als würde jemand beten.
Ende Juli erschien eine junge Frau im Dorf. Sie nannte sich Anna Vogt, die Nichte des verschwundenen Friedensrichters Sebastian Vogt. Sie trug schwarze Kleidung und eine Mappe aus Leder bei sich. „Ich will wissen, was meinem Onkel geschehen ist“, sagte sie mit fester Stimme.
Die Nacht vor ihrem Aufbruch zog Nebel vom See herauf. Die Hunde jaulten, und in der Ferne erklang wieder das Klopfen: Drei und drei.
Anna schritt früh am Morgen los. Zwei Tage später fanden Holzfäller am Fuß des Berges Spuren. Ihre Abdrücke waren klein, leicht, aber daneben zwei andere: tief, gleichmäßig, doppelt so groß. In der Nähe lag ihre Laterne zerbrochen und ihre Mappe halb im Wasser. Man konnte lesen, was sie zuletzt geschrieben hatte. Ich habe sie gesehen. Zwei Männer, hoch wie Bäume, ihre Haut so blass, dass sie das Licht fraß. Sie sagten kein Wort, aber ihre Augen sahen mich an und ich wusste. Sie wussten, wer ich bin. Einer trug das Gesicht meines Onkels.
Nach dieser Entdeckung brach im Tal Panik aus. Familien packten ihre Sachen, verließen die Höfe. Nur wenige blieben. Alte Männer, die sagten, der Berg müsse gefüttert werden, sonst käme er selbst hinab.
Im September begannen Erdstöße, erst leicht, dann stärker. Am 13. September um Mitternacht erschien über der Mine ein Licht. Blau, dann weiß, dann rot. Am nächsten Morgen war der Hang offen wie eine Wunde. Dort, wo die Grube gewesen war, lag ein Krater voller Dampf.
Ein Bauer, der näher ging, sah etwas in der Tiefe. Ein Kreuz aus schwarzem Metall, an dem zwei Körper hingen, nebeneinander, die Köpfe gesenkt, als beteten sie.
„Es waren sie“, flüsterte er, „Jakob und Heinrich.“ Er schwor, sie hätten gelächelt.
Der Krater blieb heiß, den ganzen Winter über. Aus seinem Innern stieg Dampf auf, der roch nach Eisen und Salz. Und nachts, wenn der Wind still stand, hörte man eine Frauenstimme singen, leise, sanft und unendlich traurig.
Der Pfarrer schrieb seinen letzten Eintrag: Das Opfer ist vollbracht. Doch wer hat hier geopfert? Der Mensch oder die Erde? Dann verließ er das Dorf und kam nie wieder zurück.
Der Winter des Jahres 1878 wurde in Obersee später der stumme Winter genannt. Im Januar des folgenden Jahres kam eine Gruppe Fremde aus München, Gelehrte und Geistliche. Unter der Leitung des Professors Johann Reuter, Anthropologe und Theologe. Er hatte von den Ereignissen gehört und erklärte, er wolle den „Kult der Gerechten“ erforschen.
Sie schlugen ihr Lager am Rand des Kraters auf. Die Luft war dort so heiß, dass die Kerzen nicht brannten. Aus der Tiefe stieg Dampf, der wie Flüstern klang. In der dritten Nacht begannen die Träume. Die Männer schrien im Schlaf, sprachen in Zungen. Einer wachte mit blutigen Händen auf.
„Ich habe sie gehalten“, murmelte er, „zwei Kinder, aber ihre Haut war aus Stein.“
Am Morgen fand man ihn nicht mehr. Nur Fußspuren führten zum Krater, endeten dort.
Am fünften Tag beschloss Reuter, hinabzusteigen. Nach 20 Metern öffnete sich eine Kammer. Auf dem Boden lag Asche, feine graue Asche, die im Licht glitzerte, und darin Spuren: Fußabdrücke, paarweise, immer zwei, tief und klar.
An der Rückwand entdeckten sie eine Tafel aus dunklem Stein, darauf eingeritzt: Purificatio Non Finit – Die Reinigung endet nie.
Dann kam das Geräusch: Drei Schläge, Pause, drei Schläge. Der Boden vibrierte. Zwei Gestalten traten aus dem Schatten. Sie sahen auf, und Reuter erkannte sie: Jakob und Heinrich Krämer. Ihre Haut war durchsichtig geworden, ihre Augen leer.
Einer von ihnen sprach, und die Stimme hallte, als käme sie aus dem Berg selbst. „Du forschst nach Gott in der Erde, Professor. Jetzt weißt du, wo er wohnt.“
Reuter schrie nicht. Er fiel in die Knie, das Gesicht im Dampf. Die Männer zogen ihn nach oben. Doch als er das Tageslicht erreichte, war sein Haar weiß, seine Augen leer.
„Sie sind gerecht“, flüsterte er immer wieder. „Sie sind die Reinheit selbst.“
Die Expedition kehrte am selben Tag zurück nach München. Drei Männer fehlten. Reuter wurde in die Heilanstalt gebracht, wo er noch drei Jahre lebte. Er sprach nie wieder zusammenhängend, nur manchmal murmelte er im Schlaf: „Drei und drei. Das Urteil kommt.“
Im Tal wuchs das Gras wieder, doch nichts blühte. Der Krater blieb warm, und jede Nacht, wenn der Wind stand, hörte man aus der Erde Gesang, sanft, endlos wie Gebet.
Im Sommer des Jahres 1895 kamen Arbeiter, um eine Straße zu bauen, die das Tal mit der Stadt verbinden sollte. Sie kannten die Geschichte nicht oder lachten darüber. Am dritten Tag stießen sie beim Graben auf Steinplatten. Eine trug Inschriften. Der Vorarbeiter wischte den Dreck ab, las die Worte und ließ den Stein fallen. Purificatio Non Finit – Die Reinigung endet nie.
Noch am selben Abend verließen die Männer die Baustelle. Die Straße nach Obersee wurde nie fertig gestellt. Das Tal blieb abgeriegelt.
Im Jahr 1908 trat ein junger Ingenieur, Ernst Weber, in den Dienst der königlichen Bergaufsicht. Er hatte von der Mine gehört und wollte sie untersuchen. „Wissenschaft kennt keine Geister“, sagte er. Mit einem kleinen Team reiste er im Sommer in das Tal.
Sie fanden überwucherte Wege und einen Hügel, an dem die Erde schwarz war. „Der Boden ist warm, wie das Herz eines Tieres. Wir maßen die Temperatur, fast 40°. Kein Rauch, kein Feuer, nur Wärme.“
In der ersten Nacht hörten sie Schritte, gleichmäßig, schwer, drei und drei. Am Morgen fand er Fußabdrücke, tief, groß, wie von Männern, aber barfuß.
Am dritten Tag öffneten sie den Boden. Unter der Ascheschicht fanden sie kleine Knochenstücke. Einer der Männer flüsterte: „Kinder.“ Plötzlich wurde die Erde heiß. Ein Grollen kam aus der Tiefe. Ein Lichtstrahl schoss empor, weiß und lautlos. In ihm zwei Schatten, hoch, unbeweglich, die Köpfe gesenkt.
Weber selbst fiel zu Boden. Als das Licht erlosch, war Stille. Drei Männer fehlten. In der Mitte des Kraters blieb ein Abdruck, ein Kreuz mit zwei Querstreben eingebrannt in den Fels.
Weber floh. Wochen später berichtete er in München, seine Stimme rau und gebrochen. „Es gibt keinen Gott dort oben, nur das, was er zurückließ, als er ging.“ Man erklärte ihn für wahnsinnig.
Fast fünfzig Jahre lang sprach niemand mehr von Obersee. Bis zum Sommer 1989. Ein Forschungsteam der Technischen Universität München wurde in das Tal entsandt, um geothermische Messungen vorzunehmen. Sie wollten Energiequellen kartieren, nicht Legenden.
In der Nacht des 21. Juli schlugen Blitze in den Berg. Die Energie kam aus dem Boden, nicht vom Himmel. Dann öffnete sich der Boden. Ein Lichtstrahl, weiß und flüssig wie Metall, stieg auf. Die Luft roch nach Schwefel und Rosen.
Auf dem letzten Bild einer Kamera waren zwei Gestalten zu sehen. Groß, durchsichtig, die Hände gefaltet, als beteten sie. Zwischen ihnen stand eine Frau mit offenem Haar, das Gesicht zum Himmel erhoben. Sie lächelte.
Heute, über 140 Jahre später, hört das Echo noch immer nicht auf. Es hallt durch die Generationen, ein leises, endloses Summen, das sich wiederholt, bis es im Wind verblasst.
Drei und drei. Dann bete.