Die Gerechten des Berges: Der Inzest-Kult der Krämer-Zwillinge (1877)

Ihr Blick war klar, fest, und als sie sprach, klang ihre Stimme ruhig, fast gütig, wie die Stimme einer frommen Bäuerin.

„Das Kind“, sagte sie, „war ein Geschenk Gottes. Es ist geboren und gestorben, wie er es wollte.“

Vogt nickte, aber innerlich zog sich ihm alles zusammen. Irgendetwas an dieser Stille, an den unbeweglichen Gestalten der Söhne, war falsch. Als er wieder hinabstieg, war ihm, als würden die Berge selbst ihn beobachten. Er wusste noch nicht, dass unter der Erde jener Hütte ein Geheimnis lag, das älter war als die Schuld selbst.

Als Sebastian Vogt in jener Nacht das Tal erreichte, hatte der Schnee bereits begonnen, die Spuren seines Aufstiegs zu verschlucken. Im Gasthof zum Hirschen sahen die Dorfbewohner sofort, dass Vogt bleich war. Er erzählte ihnen, was er gesehen hatte.

„Sie war schwanger“, sagte er, „und sie hat gesagt, das Kind sei tot.“

Ein Murmeln ging durch die Schankstube. Denn was Vogt nicht sagte, wusste jeder, der die Berge kannte. Kein Mann konnte die Hütte der Krämer erreichen, ohne dass man es sah. Kein Fremder war seit Jahren dort oben gewesen.

Am nächsten Morgen stand Vogt erneut vor der Entscheidung, ob er schweigen oder handeln sollte. Doch er hatte im Blick der alten Frau etwas gesehen, das ihn nicht losließ. Nicht Reue, nicht Angst, sondern die unerschütterliche, fanatische Überzeugung, im Recht zu sein. Er schrieb einen Bericht an den Bezirkskommissar in Rosenheim, doch das Wetter verzögerte die Post.

Währenddessen erzählten die Hirten von neuen seltsamen Dingen in der Höhe. Kein Rauch mehr aus dem Schornstein der Krämer-Hütte, keine Spur im frischen Schnee. Und eines Abends sah ein Knecht, der Holz sammelte, etwas wie einen schwachen Lichtschein, tief unter der Erde in der Nähe der Hütte.

Vogt beschloss, selbst zurückzukehren. Diesmal nahm er den Förster Georg Reiter mit, einen kräftigen Mann mit ruhiger Hand und dem Mut, sich dorthin zu wagen, wo andere sich bekreuzigten.

Der Aufstieg war härter als beim ersten Mal. Als sie nach Stunden den Hof erreichten, war es still. Die Tür der Hütte stand offen. Drinnen roch es nach Lauge, stark, beißend, als hätte jemand tagelang den Boden geschrubbt, um jede Spur von der Geburt zu tilgen.

Vogt hob eine Hand und deutete nach unten. Am Boden, halb verborgen unter einem losen Brett, war eine Falltür. Reiter zog das Brett heraus. Ein Hauch stieg auf, feucht, modrig, aber mit jener anderen metallischen Note, die Vogt sofort erkannte.

Sie hoben die Falltür an. Darunter lag ein niedriger Keller aus Stein gebaut, zu groß für Vorräte, zu sorgfältig angelegt. Auf halber Höhe entdeckten sie eine kleine Holztruhe, sorgfältig verschlossen. Reiter brach sie mit der Axt auf. Darin lagen alte Münzen, Ringe, ein Taschenmesser und ein Stück Stoff, fein und fremdartig, nicht aus den Dörfern ringsum.

„Das gehört keinem von hier“, murmelte Reiter.

Unten im letzten Winkel des Kellers lag eine zweite Tür. Sie war aus schwerem Eisen gefertigt, ungewöhnlich für eine Berghütte. Vogt legte das Ohr an das kalte Metall. Kein Laut kam daraus hervor, nur die dumpfe, beklemmende Stille, die schwerer wog als jedes Geräusch.

„Wir holen Hilfe“, sagte er leise.

Doch noch bevor sie die Hütte verließen, hörten sie etwas. Ein dumpfes, gleichmäßiges Klopfen, tief unter ihren Füßen. Drei Schläge, dann wieder Stille, dann erneut drei.

Reiter wich zurück. „Das kommt aus dem Boden.“

Vogt löschte die Laterne, und für einen Moment war da nichts als das Atmen der beiden Männer und das Knarren des Holzes.

Dann, in der Dunkelheit, erhob sich eine Stimme. Eine Frauenstimme, aber klar, als stünde sie direkt neben ihnen.

„Ihr sollt nicht richten, auf dass ihr nicht gerichtet werdet.“

Vogt und Reiter standen reglos. Die Stimme war nicht von oben gekommen, sondern aus der Tiefe, dort, wo die zweite Tür lag.

„Das war sie“, flüsterte Vogt. „Adelheit Krämer…“

Doch Reiter schüttelte den Kopf. „Nein, das war anders.“

Sie verließen den Keller, verschlossen die Falltür und machten sich auf den Rückweg. Der Schnee fiel dichter, die Dämmerung brach herein, und als sie das Tal erreichten, war Vogt sicher, dass jemand ihnen gefolgt war.

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