Die Gerechten des Berges: Der Inzest-Kult der Krämer-Zwillinge (1877)

Zwei Tage später kehrte Vogt mit vier Männern zurück, darunter der junge Arzt Dr. Albrecht Stein aus Rosenheim, der den Ruf hatte, sich auch um die dunkleren Angelegenheiten der Dörfer zu kümmern. Als sie den Hang hinaufstiegen, waren keine neuen Spuren im Schnee. Die Tür der Hütte stand offen wie zuvor, doch das Innere war leer, alles war verschwunden.

An der Stelle der Falltür fand sich nun ein sauberer Steinboden ohne jede Fuge.

„Sie haben ihn zugemauert“, sagte Reiter tonlos.

Dr. Stein beugte sich hinab, klopfte mit dem Griff seines Messers auf den Stein. „Hohl!“

Die Männer arbeiteten den halben Tag, bis sie den Stein aufbrachen. Darunter kam dieselbe Treppe zum Vorschein. Doch diesmal drang ihnen ein Geruch entgegen, so süßlich und faul, dass selbst der erfahrene Arzt zurückwich.

Sie gingen hinunter. Auf der Treppe lagen kleine Holzkreuze, sorgfältig in gleichen Abständen gelegt. Jedes trug eingeritzte Buchstaben: A.K., Adelheit Krämer.

Unten war der Keller unverändert. Nur die Eisentür war nun halb geöffnet. Entlang der Wände hingen Kleidungsstücke, alte Westen, Schürzen, sogar ein Priesterrock, alle sauber gewaschen und aufgehängt. Daneben kleine Bündel, mit Bändern verschnürt. Reiter öffnete eines. Darin lag ein Kinderarmknochen, sauber abgelegt wie eine Reliquie.

Dr. Stein beugte sich über die Bündel, seine Stimme kaum hörbar. „Das hier ist nicht neu. Das ist jahrelang so gepflegt worden.“

„Von wem?“, fragte Vogt.

„Von ihr und von den Söhnen.“

Als sie die Rückwand des Kellers untersuchten, fanden sie etwas, das aussah wie eine schmale Tür aus Erde, selbst von Hand gegraben. Dahinter begann ein Gang, niedrig und schmal. Er führte tiefer in den Berg. Dort unten war keine Luft mehr, nur der dumpfe Geruch von Fäulnis und Eisen.

Vogt sah im Lichtschein etwas Metallisches blitzen. Es war eine Kette, an der menschliche Knochen hingen, wie an einer Gebetskette. Darüber in die Wand eingeritzt, stand in sauberer deutscher Schrift: „Das Opfer nährt die Gerechten.“

Vogt hob den Blick. Weiter oben auf einem Balken hing ein Kreuz, roh geschnitzt, aber mit zwei Querstreben.

Dr. Stein flüsterte: „Das ist kein christliches Kreuz, das ist ein Bauernzeichen aus dem alten Glauben.“

In diesem Moment hörten sie wieder das Klopfen. Drei Schläge, dann drei. Und diesmal kam es von oben.

Sie starrten zur Decke, und Vogt erkannte, was es war. Schritte. Schwere, gleichmäßige Schritte, zwei Personen. Die Söhne waren zurück.

Vogt löschte hastig die Laterne, und Dunkelheit verschluckte sie alle. Nur das pochende Herz jedes einzelnen war zu hören, dumpf und laut in der Enge des Ganges. Die Schritte stoppten direkt über ihnen, dann ein Scharren, als würde etwas Schweres über den Boden gezogen.

Nach endlosen Sekunden begann ein anderes Geräusch, ein leises Summen. Zwei Stimmen, tief und rau, die im Einklang sangen. Es war ein Kirchenlied, doch verstimmt, verzogen, als hätte jemand das Heilige in etwas Dunkles verwandelt.

„Herr, prüfe uns im Feuer und erkenne die Gerechten“, sangen sie.

Der Klang kam durch den Boden, schwoll an, bis er wie ein fernes Donnergrollen vibrierte. Dann fiel Stille, nur der Wind wehte über die Berge.

„Sie wissen, dass wir hier sind“, flüsterte Vogt.

„Dann dürfen wir nicht fliehen“, sagte Dr. Stein, seine Augen weit offen. „Noch nicht.“

Schließlich entfernten sich die Schritte. Vogt gab das Zeichen. „Wir gehen jetzt sofort.“

Sie krochen zurück. Doch der Ausgang war verschlossen. Die schwere Falltür war von außen verriegelt.

„Zurück in den Gang!“, befahl Vogt, aber Dr. Stein zeigte auf die Seitenwand. „Da – frische Erde.“

Gemeinsam rissen sie mit Händen und Werkzeugen an der feuchten Wand, bis sich ein schmaler Spalt öffnete. Einer nach dem anderen zwängten sie sich hindurch. Sie gelangten in eine schmale Spalte zwischen Felsen. Hinter ihnen krachte Holz, und der Keller stöhnte, als breche er ein.

Sie rannten, stundenlang durch Schnee und Dunkel. Erst im Morgengrauen erreichten sie das Tal. Dort brach Vogt endlich zusammen.

„Sie sind keine Menschen“, flüsterte er. „Nicht mehr.“

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