Stein begrub ihn dort am Hang. In den Schnee ritzte er ein Kreuz und schrieb daneben: Für Franz Keller, gefallen im Dienst der Vernunft.
Als er ins Tal zurückritt, sprach er mit niemandem. Am Abend suchte ihn der Pfarrer von Prien auf.
„Herr Doktor, was haben Sie dort oben gesehen?“
Stein lächelte schwach. „Die Wahrheit“, sagte er, „und sie trägt zwei Gesichter.“
„Glauben Sie an Gott?“
„Nicht mehr“, antwortete Stein. „Aber der Berg glaubt an mich.“
In jener Nacht schrieb er zum letzten Mal. Die letzten Worte in seinem Tagebuch lauteten: Morgen gehe ich hinauf. Wenn ich nicht zurückkehre, dann lass den Berg ruhen. Denn was dort schläft, ist kein Mensch. Er kehrte nie zurück.
Der Frühling kam früh jenes Jahres, doch im Tal brachte er keine Wärme. Der Schnee schmolz, und mit ihm kamen Dinge zum Vorschein, die niemand hätte finden wollen. Knochen an den Bachufern, Kleidungsstücke zwischen Wurzeln.
Die Bauern sagten: „Der Berg spuckt aus, was er nicht mehr braucht.“
Im Mai schickte der Bezirkskommissar erneut Leute hinauf. Drei Männer diesmal, darunter ein Geologe aus München, Herr Friedrich Maler, der an nichts glaubte, was er nicht messen konnte.
Sie stiegen hinab. Nach wenigen Schritten begann der Kompass, zu spinnen. Aus den Ritzen sickerte Wasser, das im Licht der Laternen rot schimmerte. Im Inneren des Stollens lag etwas, das aussah wie eine Tür aus Holz, schwarz und mit Nägeln beschlagen. Maler wollte sie öffnen.
„Geschichten haben keine Macht über den Verstand“, sagte er.
Er legte die Hand auf die Tür. Sie war warm, fast heiß. Dann begann sie zu beben. Aus der Dunkelheit drang ein Flüstern – tausend Stimmen zugleich.
„Purificatio non finit!“, schrie einer der Aufseher, und fiel auf die Knie.
Aus der Dunkelheit traten zwei Gestalten. Ihre Haut war wie Wachs, die Münder geöffnet zu einem stummen Gebet. „Du forschst nach Gott in der Erde, Professor. Jetzt weißt du, wo er wohnt.“
Die Männer flohen. Nur einer erreichte das Tal. „Sie haben ihn genommen“, sagte er, „Und der Berg hat wieder geschlafen.“
Im Sommer des Jahres 1878 schien die Natur das Tal vergessen zu haben. Nur in der Nacht, wenn der Wind still war, glaubte man von dort oben ein Summen zu hören, tief und monoton, als würde jemand beten.
Ende Juli erschien eine junge Frau im Dorf. Sie nannte sich Anna Vogt, die Nichte des verschwundenen Friedensrichters Sebastian Vogt. Sie trug schwarze Kleidung und eine Mappe aus Leder bei sich. „Ich will wissen, was meinem Onkel geschehen ist“, sagte sie mit fester Stimme.
Die Nacht vor ihrem Aufbruch zog Nebel vom See herauf. Die Hunde jaulten, und in der Ferne erklang wieder das Klopfen: Drei und drei.
Anna schritt früh am Morgen los. Zwei Tage später fanden Holzfäller am Fuß des Berges Spuren. Ihre Abdrücke waren klein, leicht, aber daneben zwei andere: tief, gleichmäßig, doppelt so groß. In der Nähe lag ihre Laterne zerbrochen und ihre Mappe halb im Wasser. Man konnte lesen, was sie zuletzt geschrieben hatte. Ich habe sie gesehen. Zwei Männer, hoch wie Bäume, ihre Haut so blass, dass sie das Licht fraß. Sie sagten kein Wort, aber ihre Augen sahen mich an und ich wusste. Sie wussten, wer ich bin. Einer trug das Gesicht meines Onkels.
Nach dieser Entdeckung brach im Tal Panik aus. Familien packten ihre Sachen, verließen die Höfe. Nur wenige blieben. Alte Männer, die sagten, der Berg müsse gefüttert werden, sonst käme er selbst hinab.
Im September begannen Erdstöße, erst leicht, dann stärker. Am 13. September um Mitternacht erschien über der Mine ein Licht. Blau, dann weiß, dann rot. Am nächsten Morgen war der Hang offen wie eine Wunde. Dort, wo die Grube gewesen war, lag ein Krater voller Dampf.
Ein Bauer, der näher ging, sah etwas in der Tiefe. Ein Kreuz aus schwarzem Metall, an dem zwei Körper hingen, nebeneinander, die Köpfe gesenkt, als beteten sie.
„Es waren sie“, flüsterte er, „Jakob und Heinrich.“ Er schwor, sie hätten gelächelt.
Der Krater blieb heiß, den ganzen Winter über. Aus seinem Innern stieg Dampf auf, der roch nach Eisen und Salz. Und nachts, wenn der Wind still stand, hörte man eine Frauenstimme singen, leise, sanft und unendlich traurig.