Die Gerechten des Berges: Der Inzest-Kult der Krämer-Zwillinge (1877)

Der Pfarrer schrieb seinen letzten Eintrag: Das Opfer ist vollbracht. Doch wer hat hier geopfert? Der Mensch oder die Erde? Dann verließ er das Dorf und kam nie wieder zurück.

Der Winter des Jahres 1878 wurde in Obersee später der stumme Winter genannt. Im Januar des folgenden Jahres kam eine Gruppe Fremde aus München, Gelehrte und Geistliche. Unter der Leitung des Professors Johann Reuter, Anthropologe und Theologe. Er hatte von den Ereignissen gehört und erklärte, er wolle den „Kult der Gerechten“ erforschen.

Sie schlugen ihr Lager am Rand des Kraters auf. Die Luft war dort so heiß, dass die Kerzen nicht brannten. Aus der Tiefe stieg Dampf, der wie Flüstern klang. In der dritten Nacht begannen die Träume. Die Männer schrien im Schlaf, sprachen in Zungen. Einer wachte mit blutigen Händen auf.

„Ich habe sie gehalten“, murmelte er, „zwei Kinder, aber ihre Haut war aus Stein.“

Am Morgen fand man ihn nicht mehr. Nur Fußspuren führten zum Krater, endeten dort.

Am fünften Tag beschloss Reuter, hinabzusteigen. Nach 20 Metern öffnete sich eine Kammer. Auf dem Boden lag Asche, feine graue Asche, die im Licht glitzerte, und darin Spuren: Fußabdrücke, paarweise, immer zwei, tief und klar.

An der Rückwand entdeckten sie eine Tafel aus dunklem Stein, darauf eingeritzt: Purificatio Non Finit – Die Reinigung endet nie.

Dann kam das Geräusch: Drei Schläge, Pause, drei Schläge. Der Boden vibrierte. Zwei Gestalten traten aus dem Schatten. Sie sahen auf, und Reuter erkannte sie: Jakob und Heinrich Krämer. Ihre Haut war durchsichtig geworden, ihre Augen leer.

Einer von ihnen sprach, und die Stimme hallte, als käme sie aus dem Berg selbst. „Du forschst nach Gott in der Erde, Professor. Jetzt weißt du, wo er wohnt.“

Reuter schrie nicht. Er fiel in die Knie, das Gesicht im Dampf. Die Männer zogen ihn nach oben. Doch als er das Tageslicht erreichte, war sein Haar weiß, seine Augen leer.

„Sie sind gerecht“, flüsterte er immer wieder. „Sie sind die Reinheit selbst.“

Die Expedition kehrte am selben Tag zurück nach München. Drei Männer fehlten. Reuter wurde in die Heilanstalt gebracht, wo er noch drei Jahre lebte. Er sprach nie wieder zusammenhängend, nur manchmal murmelte er im Schlaf: „Drei und drei. Das Urteil kommt.“

Im Tal wuchs das Gras wieder, doch nichts blühte. Der Krater blieb warm, und jede Nacht, wenn der Wind stand, hörte man aus der Erde Gesang, sanft, endlos wie Gebet.

Im Sommer des Jahres 1895 kamen Arbeiter, um eine Straße zu bauen, die das Tal mit der Stadt verbinden sollte. Sie kannten die Geschichte nicht oder lachten darüber. Am dritten Tag stießen sie beim Graben auf Steinplatten. Eine trug Inschriften. Der Vorarbeiter wischte den Dreck ab, las die Worte und ließ den Stein fallen. Purificatio Non Finit – Die Reinigung endet nie.

Noch am selben Abend verließen die Männer die Baustelle. Die Straße nach Obersee wurde nie fertig gestellt. Das Tal blieb abgeriegelt.

Im Jahr 1908 trat ein junger Ingenieur, Ernst Weber, in den Dienst der königlichen Bergaufsicht. Er hatte von der Mine gehört und wollte sie untersuchen. „Wissenschaft kennt keine Geister“, sagte er. Mit einem kleinen Team reiste er im Sommer in das Tal.

Sie fanden überwucherte Wege und einen Hügel, an dem die Erde schwarz war. „Der Boden ist warm, wie das Herz eines Tieres. Wir maßen die Temperatur, fast 40°. Kein Rauch, kein Feuer, nur Wärme.“

In der ersten Nacht hörten sie Schritte, gleichmäßig, schwer, drei und drei. Am Morgen fand er Fußabdrücke, tief, groß, wie von Männern, aber barfuß.

Am dritten Tag öffneten sie den Boden. Unter der Ascheschicht fanden sie kleine Knochenstücke. Einer der Männer flüsterte: „Kinder.“ Plötzlich wurde die Erde heiß. Ein Grollen kam aus der Tiefe. Ein Lichtstrahl schoss empor, weiß und lautlos. In ihm zwei Schatten, hoch, unbeweglich, die Köpfe gesenkt.

Weber selbst fiel zu Boden. Als das Licht erlosch, war Stille. Drei Männer fehlten. In der Mitte des Kraters blieb ein Abdruck, ein Kreuz mit zwei Querstreben eingebrannt in den Fels.

Weber floh. Wochen später berichtete er in München, seine Stimme rau und gebrochen. „Es gibt keinen Gott dort oben, nur das, was er zurückließ, als er ging.“ Man erklärte ihn für wahnsinnig.

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