
In der Nacht des 28. November 1899 meldete der örtliche Schreiner Rudolf Weber aus dem kleinen Dorf Schwarzwald Mittenheim im südlichen Baden einen merkwürdigen Fund in einem kürzlich erworbenen Grundstück. Die Luft war feucht und kalt, der Geruch von Moos und feuchtem Holz hing über den engen Gassen des Dorfes.
Das Anwesen der Familie Krüger stand seit mehr als sieben Jahren leer, nachdem der einst angesehene Tuchhändler Hermann Krüger und seine drei Töchter auf unerklärliche Weise verschwunden waren. Weber hatte das verfallene Haus für einen Spottpreis erworben und wollte es renovieren, das Holz retten, die feuchten Wände trocknen. Bei der Inspektion des Kellers stieß er auf eine ungewöhnlich dicke Mauer, die sich deutlich von den anderen Wänden unterschied und augenscheinlich nachträglich eingezogen worden war.
Als er diese teilweise abtrug, um nach Feuchtigkeitsschäden zu suchen, fand er dahinter einen verborgenen Raum, kaum größer als ein Schrank. Die Luft, die ihm entgegenströmte, war kalt, aber nicht frisch. Sie roch nach altem Staub, Kalk und etwas, das er nicht sofort identifizieren konnte, etwas Metallisches, wie Blut oder Rost.
„Ich habe eine seltsame Entdeckung gemacht“, steht in seinem Bericht an die örtliche Polizei. „Es befanden sich Metallketten an der Wand verschraubt, offenbar neu angebracht im Vergleich zum Alter des Hauses. Daneben lag ein ledernes Notizbuch mit dem Monogramm HK und ein Bündel vergilbter Briefe.“
Was die Behörden zunächst für einen einfachen Fall von versteckten Wertgegenständen hielten, entwickelte sich schnell zu einer der beunruhigendsten Untersuchungen der Region. Das Notizbuch enthielt Einträge, die mit dem Jahr 1892 begannen und plötzlich im Frühjahr 1899 endeten. Die Schrift wurde von Seite zu Seite ungleichmäßiger, beinahe fiebrig, als hätte der Schreiber langsam den Verstand verloren.
Der letzte Eintrag, datiert auf den 17. März 1899, bestand aus nur einem Satz, der die Tür zu einem Abgrund öffnete:
„Sie behaupten, es sei zu meinem Besten.“
Was die Ermittler besonders verstörte, war die Diskrepanz zwischen diesem Fund und der offiziellen Version des Verschwindens. In den Archiven der Kirchengemeinde fanden sie Aufzeichnungen, dass Hermann Krüger seine drei Töchter, Elise, Margarete und Johanna, nach dem frühen Tod seiner Frau im Jahr 1880 allein großgezogen hatte. Der Pfarrer hatte in seinen persönlichen Notizen vermerkt:
„Herr Krüger kümmert sich mit ungewöhnlicher Hingabe um seine Töchter. Manchmal frage ich mich, ob diese Zuneigung nicht zu intensiv ist.“
Ein weiteres Detail stimmte nicht mit den Berichten überein. Im Keller fanden die Beamten drei verschiedene Schlösser für die Ketten, jedes mit einem eigenen Schlüssel, als wären sie von drei verschiedenen Personen bedient worden. Die Zahl Drei. Die Töchter. Der Verdacht begann, sich wie ein kalter Schleier über den Fall zu legen.
Das Leben der Familie Krüger war nach außen hin das Bild perfekter Ordnung und Stabilität. Hermann Krüger galt in Schwarzwald Mittenheim als ein wohlhabender, rechtschaffener Geschäftsmann. Sein Tuchhandel florierte, und sein imposantes Haus mit den schweren Vorhängen und dem gepflegten Garten zeugte von seinem Erfolg. Nach den Aufzeichnungen des örtlichen Gemeinderegisters hatte Hermann seine Frau Maria bei einer Geschäftsreise nach München kennengelernt und geheiratet.
Sie brachte in schneller Folge drei Töchter zur Welt: Elise, geboren 1878, Margarete, geboren 1879, und Johanna, geboren 1880. Maria verstarb im Kindbett bei der Geburt der jüngsten Tochter.
„Hermann wurde nie wieder derselbe“, berichtete eine Nachbarin, Frau Becker, in einem Interview mit dem örtlichen Pfarrer im Jahr 1895. „Er zog seine Töchter mit strenger Hand auf, aber sie waren sein Ein und Alles.“
Seltsam war nur, dass sie so selten das Haus verließen, außer um in die Kirche oder zum Markt zu gehen, immer nur in seiner Begleitung. Die Mädchen besuchten nie die örtliche Schule. Hermann unterrichtete sie selbst zu Hause, was damals zwar ungewöhnlich, aber nicht unerhört war für Familien besseren Standes.