Die Inzest-Schwestern, die ihren Vater im Keller anketteten – Die Krüger-Schwesterns Rache 1899

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In der Nacht des 28. November 1899 meldete der örtliche Schreiner Rudolf Weber aus dem kleinen Dorf Schwarzwald Mittenheim im südlichen Baden einen merkwürdigen Fund in einem kürzlich erworbenen Grundstück. Die Luft war feucht und kalt, der Geruch von Moos und feuchtem Holz hing über den engen Gassen des Dorfes.

Das Anwesen der Familie Krüger stand seit mehr als sieben Jahren leer, nachdem der einst angesehene Tuchhändler Hermann Krüger und seine drei Töchter auf unerklärliche Weise verschwunden waren. Weber hatte das verfallene Haus für einen Spottpreis erworben und wollte es renovieren, das Holz retten, die feuchten Wände trocknen. Bei der Inspektion des Kellers stieß er auf eine ungewöhnlich dicke Mauer, die sich deutlich von den anderen Wänden unterschied und augenscheinlich nachträglich eingezogen worden war.

Als er diese teilweise abtrug, um nach Feuchtigkeitsschäden zu suchen, fand er dahinter einen verborgenen Raum, kaum größer als ein Schrank. Die Luft, die ihm entgegenströmte, war kalt, aber nicht frisch. Sie roch nach altem Staub, Kalk und etwas, das er nicht sofort identifizieren konnte, etwas Metallisches, wie Blut oder Rost.

„Ich habe eine seltsame Entdeckung gemacht“, steht in seinem Bericht an die örtliche Polizei. „Es befanden sich Metallketten an der Wand verschraubt, offenbar neu angebracht im Vergleich zum Alter des Hauses. Daneben lag ein ledernes Notizbuch mit dem Monogramm HK und ein Bündel vergilbter Briefe.“

Was die Behörden zunächst für einen einfachen Fall von versteckten Wertgegenständen hielten, entwickelte sich schnell zu einer der beunruhigendsten Untersuchungen der Region. Das Notizbuch enthielt Einträge, die mit dem Jahr 1892 begannen und plötzlich im Frühjahr 1899 endeten. Die Schrift wurde von Seite zu Seite ungleichmäßiger, beinahe fiebrig, als hätte der Schreiber langsam den Verstand verloren.

Der letzte Eintrag, datiert auf den 17. März 1899, bestand aus nur einem Satz, der die Tür zu einem Abgrund öffnete:

„Sie behaupten, es sei zu meinem Besten.“

Was die Ermittler besonders verstörte, war die Diskrepanz zwischen diesem Fund und der offiziellen Version des Verschwindens. In den Archiven der Kirchengemeinde fanden sie Aufzeichnungen, dass Hermann Krüger seine drei Töchter, Elise, Margarete und Johanna, nach dem frühen Tod seiner Frau im Jahr 1880 allein großgezogen hatte. Der Pfarrer hatte in seinen persönlichen Notizen vermerkt:

„Herr Krüger kümmert sich mit ungewöhnlicher Hingabe um seine Töchter. Manchmal frage ich mich, ob diese Zuneigung nicht zu intensiv ist.“

Ein weiteres Detail stimmte nicht mit den Berichten überein. Im Keller fanden die Beamten drei verschiedene Schlösser für die Ketten, jedes mit einem eigenen Schlüssel, als wären sie von drei verschiedenen Personen bedient worden. Die Zahl Drei. Die Töchter. Der Verdacht begann, sich wie ein kalter Schleier über den Fall zu legen.

Das Leben der Familie Krüger war nach außen hin das Bild perfekter Ordnung und Stabilität. Hermann Krüger galt in Schwarzwald Mittenheim als ein wohlhabender, rechtschaffener Geschäftsmann. Sein Tuchhandel florierte, und sein imposantes Haus mit den schweren Vorhängen und dem gepflegten Garten zeugte von seinem Erfolg. Nach den Aufzeichnungen des örtlichen Gemeinderegisters hatte Hermann seine Frau Maria bei einer Geschäftsreise nach München kennengelernt und geheiratet.

Sie brachte in schneller Folge drei Töchter zur Welt: Elise, geboren 1878, Margarete, geboren 1879, und Johanna, geboren 1880. Maria verstarb im Kindbett bei der Geburt der jüngsten Tochter.

„Hermann wurde nie wieder derselbe“, berichtete eine Nachbarin, Frau Becker, in einem Interview mit dem örtlichen Pfarrer im Jahr 1895. „Er zog seine Töchter mit strenger Hand auf, aber sie waren sein Ein und Alles.“

Seltsam war nur, dass sie so selten das Haus verließen, außer um in die Kirche oder zum Markt zu gehen, immer nur in seiner Begleitung. Die Mädchen besuchten nie die örtliche Schule. Hermann unterrichtete sie selbst zu Hause, was damals zwar ungewöhnlich, aber nicht unerhört war für Familien besseren Standes.

Der Dorflehrer, Herr Schmidt, erinnerte sich später:

„Herr Krüger erklärte mir einmal: Seine Töchter seien zu empfindsam für den Umgang mit den Dorfkindern. Sie würden zu Hause alles lernen, was sie bräuchten.“

Das Haus der Krügers war bekannt für seine Stille. Selbst an Sonntagen, wenn andere Familien lärmend und fröhlich von der Kirche nach Hause gingen, bewegten sich die Krügermädchen wie Schatten neben ihrem Vater, die Köpfe gesenkt in identischen Kleidern, die bis zum Hals geschlossen waren, selbst im Sommer.

Eine Eintragung im Tagebuch der Bäckerin Frau Müller aus dem Jahr 1893 lautete: Die kleine Johanna Krüger hatte heute einen blauen Fleck am Handgelenk. Als ich sie fragte, woher dieser stamme, antwortete sie mit gesenktem Blick, sie sei ungeschickt gewesen. Herr Krüger bezahlte schnell und zog sie hinaus, bevor ich weitere Fragen stellen konnte.

Im Gemeindearchiv findet sich ein Brief des Dorfarztes Dr. Hoffmann an einen Kollegen in Freiburg: Ich werde regelmäßig ins Krüger-Haus gerufen, um die Mädchen zu untersuchen. Der Vater besteht darauf, während der Untersuchungen anwesend zu sein. Die Mädchen sprechen nie, außer wenn er ihnen eine direkte Frage erlaubt. Ihr Verhalten erscheint mir zunehmend beunruhigend. Sie wirken wie gut trainierte Puppen.

Es gab auch Gerüchte unter den Dorfbewohnern, unausgesprochene Vermutungen, ein Flüstern hinter vorgehaltener Hand. Doch niemand wagte es, Hermann Krüger direkt zu konfrontieren. Er war schließlich ein angesehener Bürger, ein Wohltäter der Kirche und ein wichtiger Arbeitgeber in der Region. Die Mauer des Schweigens war dick und bequem.

Frau Becker berichtete weiter: „Manchmal sah man nachts Licht im Keller der Krügers. Hermann behauptete, dort seine Geschäftsbücher zu führen, aber die Vorhänge waren immer zugezogen und manchmal, wenn der Wind richtig stand, hätte man schwören können, dass man weinen hörte.“

Im Frühjahr 1895 geschah etwas, das fragile Gleichgewicht im Haus der Krügers erschütterte. Dr. Klaus Bergmann, ein junger Arzt aus Stuttgart, ließ sich im Dorf nieder, um die Praxis des alternden Dr. Hoffmann zu übernehmen. Bei seinem ersten Sonntagsgottesdienst bemerkte er die drei jungen Frauen, die steif neben ihrem Vater saßen. Besonders Elise, die Älteste, fiel ihm auf, mit ihren langen, blonden Haaren und den niedergeschlagenen Augen.

Nach dem Gottesdienst stellte sich Dr. Bergmann der Familie vor. Aus seinem erhaltenen Tagebuch: Heute die Familie Krüger kennengelernt. Der Vater, ein imposanter Mann mit kalten Augen, stellte seine drei Töchter vor. Die älteste, Elise, schien beim Handschlag leicht zu zittern. Ihre Hand war kalt und dünn. Keines der Mädchen hielt meinen Blick länger als einen Moment.

Zwei Wochen später wurde Dr. Bergmann ins Krüger-Haus gerufen. Elise hatte angeblich hohes Fieber. Der junge Arzt fand die siebzehnjährige blass und abgemagert in ihrem Bett vor. Hermann bestand darauf, während der Untersuchung im Raum zu bleiben.

In seinem Tagebucheintrag vom selben Abend notierte Dr. Bergmann: Das Mädchen hatte kein Fieber. Sie schien eher erschöpft und unterernährt. Als ich ihr Handgelenk nahm, um ihren Puls zu messen, bemerkte ich mehrere Narben, alte und neue. Herr Krüger beobachtete jeden meiner Schritte mit Argusaugen. Als ich nach den Narben fragte, antwortete er sofort: ,Seine Tochter neige zu nervösen Anfällen und kratze sich dabei selbst.‘ Elise sagte kein Wort, aber ihre Augen flehten mich an. Worüber, kann ich nur spekulieren.

In den folgenden Wochen besuchte Dr. Bergmann das Haus mehrfach, angeblich um Elises Genesung zu überwachen. Bei jedem Besuch versuchte er, einige Minuten mit ihr allein zu verbringen, doch Hermann wich nie von ihrer Seite. Die Dorfbewohner bemerkten das wachsende Interesse des jungen Arztes.

„Er hat bei jeder Gelegenheit versucht, mit Fräulein Elise zu sprechen“, erinnerte sich später der Metzger Heinrich Schulz. „Einmal sah ich, wie er ihr auf dem Marktplatz einen Brief zusteckte. Sie wirkte erschrocken und versteckte ihn schnell.“

Am 17. Mai 1895 ereignete sich der Vorfall, der als Wendepunkt gilt. Dr. Bergmann klopfte spät abends an die Tür der Krügers, angeblich wegen eines medizinischen Notfalls bei einem Nachbarn. Als Hermann öffnete, drängte sich der Arzt ins Haus und verlangte, Elise zu sehen.

Laut Aussage des Nachbarn Friedrich Bauer, der durch den Lärm aufgeschreckt wurde, kam es zu einem heftigen Streit.

„Ich hörte Dr. Bergmann rufen: Ich weiß, was in diesem Haus vor sich geht! Diese Mädchen brauchen Hilfe!“

Herr Krüger brüllte zurück, er solle sein Haus verlassen und seine Familie in Ruhe lassen. Der Streit endete damit, dass Hermann Krüger den Arzt aus dem Haus warf und mit der Polizei drohte. Dr. Bergmann soll gerufen haben: „Ich werde wiederkommen – mit den Behörden!“

In einem Brief an seinen ehemaligen Professor in Stuttgart, datiert auf den folgenden Tag, schrieb Bergmann: Ich bin überzeugt, dass in diesem Haus schreckliche Dinge geschehen. Die Narben an Elises Handgelenken stammen nicht von Selbstverletzungen. Die jüngere Schwester Margarete hat ähnliche Male am Hals. Die Art, wie sie ihren Vater ansehen, es ist nicht Respekt, es ist Furcht. Ich muss handeln, bevor es zu spät ist.

Drei Tage später verschwand Dr. Bergmann spurlos. Sein Pferd wurde außerhalb des Dorfes gefunden, aber von ihm selbst fehlte jede Spur.

Die örtliche Polizei leitete eine Suche ein, die jedoch nach wenigen Wochen ergebnislos eingestellt wurde. Herr Krüger erzählte jedem, der es hören wollte:

„Der junge Arzt habe wahrscheinlich das Dorf verlassen, weil er mit der Arbeit überfordert gewesen sei. Ein Stadtmensch“, sagte er verächtlich, „nicht geschaffen für das Landleben.“

Nach Dr. Bergmanns Verschwinden kehrte scheinbar Ruhe im Dorf ein. Die offizielle Erklärung, die von der lokalen Polizei unterstützt wurde, lautete, dass der junge Arzt freiwillig fortgegangen sei.

Pfarrer Schneider schrieb in sein Tagebuch: Die Gemeinde nimmt die Erklärung zum Verschwinden des Doktors an. Doch ich spüre eine gewisse Unruhe. Besonders das Verhalten der Krüger-Mädchen in der Kirche ist auffällig. Sie wirken noch stiller, noch unterwürfiger als zuvor.

Hermann Krüger selbst schien nach diesem Vorfall seine Position im Dorf zu festigen. Er spendete eine beträchtliche Summe für die Renovierung des Kirchendachs und übernahm den Vorsitz im örtlichen Handelsverein. Seine Töchter begleiteten ihn bei öffentlichen Anlässen wie Marionetten, stumm, gehorsam, mit gesenkten Blicken.

Im August 1895 erschien ein kurzer Artikel im Schwarzwälder Boten, der von einer erfreulichen Verlobung berichtete. Elise Krüger, die älteste Tochter des angesehenen Tuchhändlers, sollte mit dem 45-jährigen Witwer Gustav Schäfer, einem Geschäftspartner ihres Vaters, vermählt werden.

Die Gemeindesekretärin Frau Huber erinnerte sich später: „Ich sah Fräulein Elise, als sie mit ihrem Vater im Rathaus die Papiere unterzeichnete. Sie wirkte wie betäubt. Ihre Hand zitterte so stark, dass sie die Feder kaum halten konnte. Herr Krüger führte ihre Hand wie die eines Kindes.“

Die Hochzeit sollte im Oktober stattfinden, wurde jedoch plötzlich und ohne öffentliche Erklärung verschoben. Gerüchte besagten, Elise sei erkrankt. Andere munkelten, sie habe versucht zu fliehen.

In den Aufzeichnungen des Dorflehrers Herr Schmidt findet sich folgende Notiz: Heute habe ich die jüngste Krüger, Johanna, allein am Brunnen getroffen. Ein seltener Anblick. Als ich sie nach ihrer Schwester fragte, blickte sie sich ängstlich um und flüsterte:

„Elise ist im Keller.“

Dann kam ihr Vater um die Ecke, und sie verstummte sofort.

Die Verlobung wurde nie offiziell gelöst, aber auch nie vollzogen. Herr Schäfer wurde in den folgenden Monaten nicht mehr im Dorf gesehen.

Im Frühjahr 1896 machte eine neue Geschichte die Runde. Margarete, die mittlere Tochter, sollte in ein Sanatorium in der Schweiz geschickt werden, wegen nervöser Erschöpfung, wie ihr Vater erklärte. Niemand sah sie abreisen und niemand erhielt je einen Brief von ihr. Johanna, die Jüngste, würde immer seltener gesehen.

Der Dorflehrer notierte in seinem privaten Tagebuch: Manchmal frage ich mich, ob wir alle mitschuldig sind. Wir sehen die Anzeichen, hören die Gerüchte, bemerken die Angst in den Augen dieser Mädchen. Und doch tun wir nichts, weil es bequemer ist zu glauben, dass alles in Ordnung ist, dass Herr Krüger ein strenger, aber liebevoller Vater ist. Es ist leichter, die Lüge zu akzeptieren, als der Wahrheit ins Auge zu blicken.

Die Jahre 1896 bis 1898 waren geprägt von einer bedrückenden Stille, die das Krüger-Haus umhüllte. Hermann Krüger widmete sich mit wachsender Intensität seinem Geschäft. Er unternahm häufiger Handelsreisen, manchmal für mehrere Wochen. In diesen Zeiten blieb das Haus verschlossen, die Vorhänge zugezogen.

Martha Hoffmann, die Frau des Apothekers, berichtete später: „Man sah kaum noch Bewegung hinter den Fenstern. Nur manchmal in der Abenddämmerung konnte man einen Schatten hinter den Vorhängen erkennen. Eine der Töchter vielleicht, die kurz nach draußen blickte.“

Im Sommer 1897 brach ein kleineres Feuer im Nebengebäude des Krüger-Anwesens aus. Die Dorfbewohner eilten zur Hilfe herbei, doch Hermann Krüger ließ niemanden ins Haupthaus. Er bekämpfte die Flammen mit seinen Töchtern allein und lehnte jede Unterstützung ab.

Der Schmied Karl Wagner erinnerte sich: „Als das Feuer unter Kontrolle war, öffnete sich kurz die Hintertür des Hauses. Ich sah ein blasses Gesicht. Ich glaube, es war Johanna. Sie hatte tiefe Ringe unter den Augen, und ihr Haar war ungleichmäßig abgeschnitten, als hätte jemand es in Eile mit einer stumpfen Schere bearbeitet. Sie starrte mich an mit einem Blick, den ich nie vergessen werde. Dann zog jemand sie zurück ins Haus, und die Tür schlug zu.“

In den Kirchenbüchern findet sich eine Notiz des Pfarrers vom Herbst 1897: Zum dritten Mal in Folge fehlte die Familie Krüger beim Sonntagsgottesdienst. Als ich einen Krankenbesuch anbot, wurde ich an der Tür abgewiesen. Herr Krüger erklärte, seine Töchter seien zu schwach für Besucher. Durch den Türspalt sah ich den Flur, unordentlich mit Kisten und Papieren übersät. Es roch nach Schimmel und etwas anderem, das ich nicht benennen möchte.

Im November 1898 verschwand Hermann Krüger für fast zwei Monate. Sein Gehilfe Friedrich erklärte durch Zeichensprache, der Herr sei auf einer Handelsreise nach Österreich. Das Haus blieb in dieser Zeit vollständig verschlossen.

Als Hermann im Januar 1899 zurückkehrte, wirkte er verändert. Sein einst gepflegter Bart war wild und ungekämmt, seine Kleidung fleckig und zerknittert. Er mied jeden Kontakt mit den Dorfbewohnern und ließ alle Lieferungen vom stummen Friedrich entgegennehmen.

Die Witwe Berta Klein, die in der Nähe des Krüger-Anwesens wohnte, berichtete später: „In den letzten Monaten, vor dem Vorfall, hörte ich oft Hämmern und Sägen aus dem Keller. Manchmal arbeitete er die ganze Nacht. Und dann war da diese Stille. Tagelang kein Laut, als würde das Haus selbst den Atem anhalten.“

Aus dem rekonstruierten Tagebuch von Johanna Krüger, gefunden 1967 bei Renovierungsarbeiten in einer Hohlwand des Hauses:

12. Februar 1899.

Ich schreibe bei Kerzenlicht. Vater hat den Strom im Obergeschoss abgestellt, angeblich wegen der Kosten. Ich glaube, er will nur kontrollieren, wann wir wach sind. Elise geht es heute etwas besser. Die Wunden an ihren Handgelenken heilen langsam. Sie spricht immer noch nicht. Aber heute hat sie zum ersten Mal seit Wochen wieder gelächelt, als ich ihr von der Amsel erzählte, die ich durchs Fenster sehen konnte. Von Margarete haben wir seit drei Tagen nichts gehört. Sie ist immer noch unten. Ich habe versucht, ihr etwas Brot durch die Bodenritze zu schieben, aber ich weiß nicht, ob sie es bekommen hat.

Vater hat das Kellerschloss ausgetauscht, nachdem er mich das letzte Mal erwischt hat. Manchmal frage ich mich, ob Dr. Bergmann wirklich fort ist, wie Vater behauptet, oder ob er… Nein, ich darf so etwas nicht einmal denken. Vater hat Augen und Ohren überall. Er weiß immer, wenn wir sündhafte Gedanken haben, wie er es nennt.

16. Februar 1899.

Heute war Vater wieder betrunken. Er kam spät nach Hause und rief nach Mutter, als wäre sie noch hier. Dann begann er zu weinen und schlug mit den Fäusten gegen die Wand. Später kam er in mein Zimmer und setzte sich auf mein Bett. Er streichelte mein Haar und nannte mich Maria. Ich wagte nicht zu atmen, bis er einschlief. Elise half mir, ihn in sein Zimmer zu bringen. Danach haben wir geflüstert, zum ersten Mal seit Wochen. Elise sagte, wir müssten etwas tun. Sie kann nicht noch einmal in den Keller. Es würde sie töten. Wir haben beschlossen, heute Nacht nach Margarete zu sehen, während Vater schläft.

17. Februar 1899.

Gott stehe uns bei. Was haben wir nur getan? Was haben wir nur getan? Wir haben den alten Schlüssel gefunden, den Vater unter der losen Diele im Flur versteckt. Der Keller war dunkel, nur eine Kerze hatten wir. Der Gestank war überwältigend. Margarete war an… Sie war, ich kann es kaum beschreiben. Sie war an die Wand gekettet, wie ein Tier. Ihr Kleid war zerrissen und schmutzig, ihr Haar verfilzt.

Sie erkannte uns zuerst nicht. Als wir sie losgemacht haben, begann sie zu schreien. Wir versuchten, sie zu beruhigen, aber sie war wie von Sinnen. Sie kratzte und biss. Elise hielt ihr den Mund zu, damit Vater nicht aufwacht. Dann… dann hörte sie plötzlich auf zu kämpfen. Ihr Körper wurde schlaff. Wir dachten erst, sie hätte sich beruhigt, aber oh Gott, sie hat aufgehört zu atmen. Elise versuchte, sie wiederzubeleben, aber es war zu spät. Unsere Schwester ist tot. Und wir haben sie getötet.

Wir hörten Vater oben rumoren. Schnell legten wir Margarete zurück und ketteten sie wieder an. Es tut mir so leid, Schwester, so unendlich leid. Wir schlichen zurück in unsere Zimmer, gerade als Vater die Treppe herunterkam.

Heute morgen tat Vater so, als wäre nichts geschehen. Beim Frühstück fragte er nur:

„Habt ihr gut geschlafen, meine Engel?“

Seine Augen, ich schwöre, er wusste es. Er wusste alles.

22. Februar 1899.

Vater hat Margaretes Tod entdeckt. Er kam heute morgen aus dem Keller, die Hände blutig vom Graben. Er sagte kein Wort, starrte uns nur an. Dann nahm er seinen Mantel und ging. Als er zurückkam, brachte er eine große Kiste mit Kalk mit. Wir wissen, was das bedeutet.

Elise flüsterte mir heute zu:

„Wir müssen ihn aufhalten, bevor wir die nächsten sind. Er wird uns nie gehen lassen. Nie.“

27. Februar 1899.

Der Plan ist gefasst. Wir haben keine andere Wahl. Möge Gott uns vergeben.

5. März 1899.

Es ist vollbracht. Wir haben den Tee mit dem Laudanum aus Vaters Medizinschrank versetzt. Als er bewusstlos war, haben wir ihn in den Keller geschleift, an dieselbe Stelle, wo Margarete… Wir haben ihn mit denselben Ketten gefesselt, die er für uns benutzt hat. Als er aufwachte, hat er nicht geschrien, wie wir erwartet hatten. Er hat gelächelt.

„Meine klugen, starken Mädchen“, sagte er. „Ich wusste, dass dieser Tag kommen würde. Ihr seid so viel mehr wie eure Mutter, als ich dachte.“

Dann begann er, Dinge zu sagen, schreckliche Dinge über Mutter, über uns, was er getan hat, was er noch tun wollte. Wir haben seine Zelle verschlossen und sind nach oben gegangen, aber seine Stimme folgte uns. Die ganze Nacht hörten wir sein Flüstern durch die Dielen.

10. März 1899.

Vater wird schwächer. Wir geben ihm nur Wasser und Brot. Gerade genug zum Überleben. Er bettelt nicht mehr. Er singt jetzt. Kinderlieder, die er uns früher vorgesungen hat. Es macht mich krank. Elise sagt, wir müssen fort. Das Dorf wird Fragen stellen. Wir könnten sagen, Vater sei auf eine Geschäftsreise gegangen. Aber wie lange wird man uns das glauben? Wir haben etwas Geld gefunden, in seinem Arbeitszimmer versteckt. Genug für einen Neuanfang. Vielleicht.

15. März 1899.

Vater ist verstummt. Er sitzt nur noch da mit leerem Blick. Manchmal lacht er plötzlich auf ohne Grund. Ich glaube, sein Verstand schwindet. Ein Teil von mir ist erleichtert. Ein anderer Teil hat Angst vor dem, was wir getan haben, was wir geworden sind.

17. März 1899.

Heute Nacht brechen wir auf. Elise hat zwei Fahrkarten nach Hamburg besorgt. Von dort nehmen wir ein Schiff nach Amerika, ein neues Leben weit weg von hier. Vater, wir können ihn nicht mitnehmen. Wir können ihn nicht freilassen. Es gibt nur eine Lösung.

Elise sagt: Es sei zu seinem Besten und zu unserem. Möge Gott unseren Seelen gnädig sein.

Die Geschichte der Familie Krüger wäre vielleicht für immer in Vergessenheit geraten. Wäre nicht im Oktober 1912 ein junger Student der Medizin nach Schwarzwald Mittenheim gekommen. Ernst Fischer, ein entfernter Verwandter des verschwundenen Dr. Bergmann, recherchierte für seine Dissertation über ländliche Medizinpraktiken im späten 19. Jahrhundert.

Während seiner Archivarbeit stieß er auf Erwähnungen seines Vorfahren und dessen mysteriösen Verschwindens. Neugierig geworden, begann er Nachforschungen anzustellen und die wenigen noch lebenden Zeitzeugen zu befragen.

Aus Fischers Tagebuch: Die Dorfbewohner sind erstaunlich zurückhaltend, wenn es um die Familie Krüger und das Verschwinden meines Großonkels geht. Es scheint eine Art stillschweigendes Übereinkommen zu geben, nicht darüber zu sprechen, als hätte man einen Mantel des Schweigens über die ganze Angelegenheit gebreitet.

Der inzwischen pensionierte Polizeikommissar Weber zeigte sich zunächst unwillig, über den Fall zu sprechen. Nach mehreren Besuchen und einigen Gläsern Schnaps öffnete er sich jedoch.

„Der offizielle Bericht sagt, dass Ihr Großonkel freiwillig das Dorf verlassen hat“, erklärte er Fischer. „Aber unter uns… Es gab Unregelmäßigkeiten. Ein Hemd mit Blutflecken wurde im Wald gefunden, aber nie offiziell registriert. Und dann war da die Geschichte mit dem Tagebuch.“

Weber berichtete, dass bei der Durchsuchung von Dr. Bergmanns Zimmer ein Tagebuch gefunden wurde, in dem der Arzt seinen Verdacht gegen Hermann Krüger festhielt. Doch bevor die Untersuchung vertieft werden konnte, griff der Bürgermeister ein und ordnete an, den Fall zu schließen.

„Krüger hatte Einfluss“, seufzte Weber. „Geld, Position, Ansehen. Und niemand wollte glauben, dass ein angesehener Bürger… nun ja.“

Fischers Neugier war geweckt. Er bat um die Erlaubnis, das inzwischen verlassene Krüger-Haus zu besichtigen, das seit dem Fund des Schreiners Rudolf Weber im Jahr 1899 leer stand. Am 17. November 1912 betrat Fischer das verfallene Haus. In seinem Tagebuch beschreibt er die beklemmende Atmosphäre: Das Haus scheint die Geschichten seiner ehemaligen Bewohner festzuhalten. Die Luft ist stickig und schwer.

Fischer verbrachte mehrere Tage damit, das Haus zu durchsuchen. In einem doppelten Boden eines Kleiderschranks fand er ein Bündel vergilbter Papiere, Briefe, die offenbar nie abgeschickt wurden. Sie waren von Elise Krüger an Dr. Bergmann adressiert.

Aus einem der Briefe, datiert auf den 3. Mai 1895: Lieber Dr. Bergmann, ich wage kaum zu schreiben. Aus Angst, Vater könnte es entdecken. Aber ich muss jemandem anvertrauen, was in diesem Haus geschieht. Seit Mutters Tod hat Vater sich verändert. Was als Strenge begann, wurde zu etwas Dunklerem. Er sperrt uns ein, wenn wir ihm nicht gehorchen, manchmal für Tage. Er sagt, es sei zu unserer eigenen Sicherheit, dass die Welt da draußen uns verderben würde, aber es ist nicht die Welt, vor der ich Angst habe.

Ein weiterer Brief, undatiert: Er nennt mich manchmal bei Mutters Namen. Wenn er getrunken hat, kommt er in mein Zimmer und streichelt mein Haar. Er sagt, ich sei ihr Ebenbild. Ich wage nicht zu schlafen. Johanna und Margarete sind noch zu jung, um zu verstehen. Aber ich fürchte um sie, besonders seit Vater den Keller umgebaut hat.

Der letzte Brief war unvollständig und mit zittriger Hand geschrieben: Er weiß von unseren Gesprächen. Heute hat er gedroht, Margarete in den Keller zu sperren, wenn ich je wieder mit Ihnen spreche. Ich flehe Sie an. Helfen Sie uns, aber seien Sie vorsichtig. Er ist zu allem…

Fischer war erschüttert von seiner Entdeckung. Er beschloss, tiefer zu graben und begann, den Keller zu untersuchen. Hinter der Wand, wo Weber die Ketten gefunden hatte, entdeckte Fischer einen weiteren kleineren Raum. In einer Ecke fand er einen verrotteten Lederkoffer. Darin lag ein Arztkoffer mit den Initialen KB – Klaus Bergmann.

In seinem Tagebuch notierte Fischer: Die Wahrheit ist grausamer, als ich befürchtet hatte. Ich bin nun überzeugt, dass mein Großonkel niemals freiwillig fortging. Die Spuren an den Wänden, die Ketten, der versteckte Raum – alles deutet auf ein düsteres Schicksal hin.

Doch was geschah mit den Töchtern? Warum verließen sie das Haus so plötzlich? Und wo ist Hermann Krüger? Als Fischer seine Entdeckungen dem Bürgermeister mitteilte, wurde er gebeten, seine Nachforschungen einzustellen und das Dorf zu verlassen.

„Manche Geschichten sollten besser ruhen“, sagte ihm der Gemeindevorsteher. „Es bringt niemandem etwas, alte Wunden aufzureißen.“

Doch Fischer war nicht bereit, aufzugeben. In den Archiven des Dorfes entdeckte er einen Eintrag im Hafenregister von Hamburg. Zwei junge Frauen namens Elisabeth und Johanna Schmidt hatten am 20. März 1899 ein Schiff nach New York bestiegen. Die Beschreibung passte auf die Krüger-Schwestern.

Sein letzter Tagebucheintrag aus Schwarzwald Mittenheim lautet: Ich reise morgen ab. Die Feindseligkeit der Dorfbewohner wird immer offensichtlicher. Letzte Nacht wurde ein Stein durch mein Fenster geworfen mit einer Notiz: Lass die Toten ruhen. Aber ich kann nicht. Die Stimmen in diesem Haus, sie flüstern mir zu, dass ihre Geschichte erzählt werden muss. Besonders die Stimme aus dem Keller, die immer noch nach ihren Töchtern ruft.

Fischer verließ das Dorf am nächsten Tag. Seine Dissertation blieb unvollendet. Stattdessen begann er eine Reise nach Amerika, um die Spur der Schwestern zu verfolgen. Er kehrte nie zurück.

Nach den Untersuchungen von Ernst Fischer im Jahr 1912 wurde das Krüger-Haus verschlossen und blieb unberührt. Die Gemeindeverwaltung entschied, das Anwesen nicht zu verkaufen oder abzureißen. Es wurde zu einem stillen Mahnmal, einem blinden Fleck im Dorfbewusstsein.

Doch im Sommer 1937, als die wirtschaftliche Not viele Gemeinden traf, beschloss der Gemeinderat, das Grundstück doch zu veräußern. Der Kaufinteressent war ein gewisser Herr Müller aus Frankfurt, der angab, das Haus als Ferien-Domizil nutzen zu wollen. Was niemand im Dorf wusste: Bei Herr Müller handelte es sich in Wirklichkeit um Dr. Thomas Berger, einen Psychiater und Autor, der sich auf die Dokumentation ungewöhnlicher Kriminalfälle spezialisiert hatte.

Berger hatte durch Zufall von Fischers unvollendeter Recherche erfahren und war fasziniert von der Geschichte der Familie Krüger. In einem Brief an seinen Verleger schrieb er: Dieser Fall könnte die Grundlage für ein bahnbrechendes Werk über familiäre Psychopathologie werden. Die Dynamik zwischen dem tyrannischen Vater und den missbrauchten Töchtern, die schließlich zu Täterinnen werden, ist ein Paradebeispiel für den Zyklus der Gewalt, den ich in meinen Studien beschrieben habe.

Berger zog im August 1937 in das Haus ein und begann sofort mit seiner Untersuchung. Er durchforstete alte Dokumente, befragte Dorfbewohner, die ihn für einen harmlosen Feriengast hielten, und verbrachte lange Nächte im Keller des Hauses.

Aus Bergers Tagebuch: Dieses Haus hat eine fast greifbare Atmosphäre des Leids. In der ersten Nacht wachte ich schweißgebadet auf, überzeugt, jemand hätte meinen Namen gerufen. Das wiederholte Knarren der Dielen über meinem Schlafzimmer klingt, als würde jemand auf und ab gehen. Natürlich sind das nur die üblichen Geräusche eines alten Hauses, verstärkt durch meine Kenntnis seiner Geschichte.

Berger konzentrierte seine Untersuchungen auf den Keller. Bei einer genaueren Inspektion des versteckten Raumes entdeckte er etwas, das frühere Untersuchungen übersehen hatten: Eine schmale Öffnung im Boden, kaum größer als ein Gullydeckel, sorgfältig unter einer losen Holzdiele verborgen. Als er die Öffnung freilegte, fand er einen engen Schacht, der noch tiefer unter das Haus führte.

Mit Hilfe eines Seils und einer Laterne stieg er hinab und fand einen weiteren kleineren Raum, kaum mehr als eine Grube. Die Wände waren mit einer dicken Schicht Kalk bedeckt.

Meine schlimmsten Befürchtungen scheinen sich zu bestätigen, notierte Berger. Diese Grube wurde eindeutig als Grab genutzt. Der Kalk diente dazu, den Verwesungsgeruch zu überdecken und den Zersetzungsprozess zu beschleunigen. Aber für wen?

Berger beschloss, eine radikale Maßnahme zu ergreifen. Er begann, den Boden der Grube systematisch auszuheben. Nach mehreren Stunden mühsamer Arbeit stieß seine Schaufel auf etwas Hartes. Es waren menschliche Knochen. Bei einer genaueren Untersuchung stellte er fest, dass es sich um mindestens zwei Skelette handelte – eines mit deutlichen Anzeichen von Gewalteinwirkung am Schädel. Zwischen den Knochen fand er ein kleines Medaillon mit der Inschrift KB, den Initialen von Klaus Bergmann.

Die Schwestern müssen sowohl den jungen Arzt als auch ihren eigenen Vater getötet haben, schrieb Berger hastig. Ein doppelter Mord, sorgsam vertuscht. Die jahrelange Misshandlung trieb zu dieser verzweifelten Tat. Sie begruben die Leichen hier, bedeckten alles mit Kalk und flohen dann nach Amerika. Eine perfekte Inszenierung.

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Berger verbrachte die folgende Woche damit, seine Erkenntnisse zu dokumentieren und aufzuzeichnen. Jeden Abend verschloss er seine Unterlagen sorgfältig in seinem Arbeitszimmer.

Am 17. September 1937, nach fast vier Wochen intensiver Recherche, notierte Berger eine seltsame Beobachtung.

Heute Nacht wurde ich wieder von diesen seltsamen Geräuschen geweckt. Ein rhythmisches Klopfen, das aus den Wänden selbst zu kommen scheint. Zuerst dachte ich an Wasserleitungen oder Nagetiere, aber es folgt einem zu regelmäßigen Muster, fast wie ein Morsealphabet. Meine Nerven spielen mir sicher einen Streich, aber manchmal könnte ich schwören, es versucht, mir etwas mitzuteilen.

Am nächsten Morgen fand die Haushälterin Bergers Arbeitszimmer verlassen vor. Seine Unterlagen waren ordentlich gestapelt, aber von ihm selbst fehlte jede Spur. Die herbeigerufene Polizei durchsuchte das Haus und fand schließlich den offenen Kellerschacht. In der Grube lagen Bergers Laterne und Schaufel, aber von ihm selbst fehlte jede Spur. Seine umfangreichen Notizen über den Fall Krüger waren verschwunden, ebenso wie die Knochen, die er ausgegraben hatte.

Die offizielle Erklärung lautete: Berger müsse einen Unfall erlitten haben oder sei aus unbekannten Gründen geflohen. Das Krüger-Haus wurde wieder verschlossen.

Das Krüger-Haus blieb unberührt bis zum Frühjahr 1965. Als die Arbeiter den Keller freilegten, stießen sie auf die vermauerten Räume. Das Landeskriminalamt entsandte ein Team, das die Untersuchung leitete. Dr. Luise Hartmann, eine forensische Archäologin, fand etwas Unerwartetes. In einer Wand, die offenbar nach Bergers Verschwinden errichtet worden war, entdeckten sie einen versiegelten Metallbehälter.

Darin befanden sich ein Stapel vergilbter Papiere, sorgfältig in Wachstuch eingewickelt, und ein Brief. Der Brief, datiert auf den 15. September 1937, war mit EK unterzeichnet und begann mit den Worten: An denjenigen, der dies findet. Wenn Sie diese Zeilen lesen, bin ich längst nicht mehr am Leben. Ich bin zurückgekehrt, um die letzte Spur unserer Schande zu tilgen.

Der Brief stammte von Elise Krüger, die offenbar unter falscher Identität nach Deutschland zurückgekehrt war, nachdem sie von Bergers Untersuchungen erfahren hatte. Sie beschrieb, wie sie und ihre Schwester Johanna nach dem Tod ihres Vaters und Dr. Bergmanns nach Amerika geflohen waren.

Wir glaubten, der Albtraum sei vorbei!, schrieb sie, doch die Erinnerungen folgten uns über den Ozean. Johanna nahm sich 1908 das Leben, unfähig, mit der Schuld zu leben. Ich versuchte, ein neues Leben aufzubauen, heiratete sogar, doch die Vergangenheit holte mich immer wieder ein.

Als ich von diesem Herrn Müller erfuhr, der in unserem alten Haus wohnte und Fragen stellte, wusste ich, dass ich zurückkehren musste.

Elise beschrieb, wie sie heimlich nach Deutschland zurückkehrte und Berger beobachtete. Als sie erkannte, dass er die Wahrheit entdeckt hatte, konfrontierte sie ihn.

Er war überraschend verständnisvoll, schrieb sie, sagte, er wolle unsere Geschichte aus wissenschaftlicher Perspektive erzählen, als Beispiel für die verheerenden Folgen von familiärem Missbrauch. Aber ich wusste, es würde nur als Sensation enden, als Gruselgeschichte für die Massen. Unsere Schande zur Unterhaltung anderer. Das konnte ich nicht zulassen.

Der Brief endete mit einem Geständnis. Dr. Berger ruht nun neben meinem Vater und Dr. Bergmann. Drei Männer, die das Geheimnis unserer Familie kannten oder zu kennen glaubten. Doch die wahre Geschichte kennt nur noch ich, und mit mir wird sie sterben.

Zusammen mit dem Brief fand das Team ein dickes Notizbuch, Elises vollständiges Tagebuch, das die Jahre von 1892 bis 1937 umfasste. Es dokumentierte in erschütterndem Detail den Missbrauch, den sie und ihre Schwestern durch ihren Vater erlitten hatten, ihre verzweifelten Fluchtversuche, Dr. Bergmanns Bemühungen, ihnen zu helfen, und die fatale Entscheidung, die sie schließlich trafen.

Besonders verstörend waren die Einträge über die letzten Tage ihres Vaters.

Wir konnten ihn nicht einfach töten, schrieb Elise. Das wäre zu gnädig gewesen. Er sollte fühlen, was wir gefühlt hatten: Die Hilflosigkeit, die Dunkelheit, die endlosen Stunden des Wartens. Wir sperrten ihn in seinen eigenen Keller, in den Raum, den er für uns gebaut hatte.

Am ersten Tag schrie er und flehte, am zweiten drohte er. Am dritten begann er zu weinen und rief nach seiner Mutter. Am vierten verstummte er. Am fünften gaben wir ihm Wasser, aber keine Nahrung. So ging es Tage, Wochen. Er wurde schwächer, sein Geist zerbrach. Als wir schließlich beschlossen zu fliehen, wussten wir, wir konnten ihn nicht zurücklassen. Es wäre zu riskant gewesen. Also…

Die letzten Seiten des Tagebuchs beschrieben Elises Leben in Amerika, ihren vergeblichen Versuch, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, den Selbstmord ihrer Schwester und schließlich ihre Rückkehr nach Deutschland.

Ich kehrte zurück, um die letzten Spuren zu beseitigen, schrieb sie. Doch als ich durch die Räume dieses verfluchten Hauses ging, kamen die Erinnerungen mit solcher Gewalt zurück, dass ich kaum atmen konnte. Ich hörte wieder seine Stimme, seine Schritte auf der Treppe, spürte seine Hand in meinem Haar, sah Margaretes leblose Augen. Ich weiß, ich sollte fliehen, doch ich kann nicht. Dieses Haus hält mich fest, wie es uns alle festgehalten hat.

Vielleicht ist es meine Bestimmung, hier zu enden, wo alles begann.

Der letzte Eintrag, datiert auf den 20. September 1937, lautete schlicht: Es ist vollbracht. Ich habe die Knochen umgebettet, tiefer, wo niemand sie finden wird. Dr. Bergers Unterlagen habe ich verbrannt, nur dieses Tagebuch bleibt als Zeugnis. Ich bin müde. So müde. Heute Nacht nehme ich den letzten Zug nach Freiburg. Von dort reise ich weiter nach Süden, vielleicht nach Italien. Ich werde einen ruhigen Ort suchen, einen Ort ohne Keller.

Dr. Hartmann und ihr Team suchten das gesamte Anwesen erneut ab, fanden jedoch keine menschlichen Überreste. Das Krüger-Haus wurde abgerissen, das Grundstück neu bebaut. Doch die Bewohner der neuen Wohnungen berichteten von seltsamen Vorkommnissen, unerklärlichen Geräuschen in der Nacht, plötzlichen Temperaturabfällen, dem Gefühl, beobachtet zu werden.

Der Fall der Krüger-Schwestern geriet in den folgenden Jahrzehnten weitgehend in Vergessenheit. Doch im Winter 1987 ereignete sich ein merkwürdiger Zufall. Der Literaturprofessor Heinrich Wagner aus Berlin erwarb auf einem Flohmarkt in Buenos Aires einen alten Koffer. Unter den vergilbten Dokumenten befand sich ein schmales Notizbuch mit dem Namen Elise Schneider auf dem Einband – der Name, den Elise Krüger in Amerika angenommen hatte.

Wagner, der zufällig aus Schwarzwald Mittenheim stammte, erkannte die Verbindung zur lokalen Legende der Krüger-Familie. In einem Artikel für die Zeitschrift für historische Kriminalfälle schrieb Wagner: Die letzten Aufzeichnungen von Elise Krüger bieten einen faszinierenden Einblick in die Psyche einer Frau, die sowohl Opfer als auch Täterin war.

Ein besonders bemerkenswerter Eintrag stammte vom 12. März 1940: Heute ist der Jahrestag. 41 Jahre seit jener Nacht, als wir Vater in den Keller brachten. Ich träume nicht mehr so oft davon. Manchmal frage ich mich, ob es überhaupt geschehen ist oder ob ich es mir nur eingebildet habe. Dann spüre ich wieder die Schwere der Ketten in meinen Händen, höre sein Wimmern und weiß, dass es real war.

Ich habe eine alte Frau am Strand kennengelernt. Sie spricht kaum Deutsch, ich kaum Spanisch, und doch verstehen wir uns. Gestern fragte sie mich nach meiner Familie. Zum ersten Mal seit vielen Jahren erzählte ich von meinen Schwestern – nicht alles, nur die guten Erinnerungen. Es tat gut, sie so in Erinnerung zu rufen. Nicht nur als Opfer, nicht nur durch das Prisma dessen, was später geschah.

Der letzte Eintrag, datiert auf den 17. März 1943, lautete: Heute habe ich alle Briefe an Johanna verbrannt, die ich nie abgeschickt habe. Es wird Zeit loszulassen. Ich träume immer häufiger von einem Haus am Meer, einem hellen Haus mit vielen Fenstern, ohne Keller. Die Tür steht immer offen. Margarete und Johanna warten dort auf mich, jung, unverletzt. Nur Vater fehlt. Vielleicht ist es besser so. Oder vielleicht wartet auch er dort, aber anders, als ich ihn kannte, geheilt von dem, was auch immer ihn so zerbrach, dass er seine eigenen Kinder zerbrechen musste.

Elise Schneider starb am 28. November 1943 an einer Lungenentzündung.

Im Jahr 1992 stieß die Dokumentarfilmerin Maria Schneider bei Recherchen zu einer Serie über deutsche Auswanderer in Südamerika auf die Geschichte. Fasziniert von dem psychologischen Drama begann sie intensiver zu forschen. Sie reiste nach Schwarzwald Mittenheim, sprach mit den wenigen verbliebenen älteren Dorfbewohnern.

Während ihrer Recherche in den Archiven in Freiburg entdeckte Schneider etwas Unerwartetes. In einem unveröffentlichten Manuskript behauptete ein Journalist namens Robert Fischer, dass die wahre Geschichte der Krügers noch düsterer sei als bisher angenommen. Basierend auf Interviews mit inzwischen verstorbenen Zeitzeugen und verschollenen Polizeiakten argumentierte er, dass nicht nur Hermann Krüger seine Töchter missbraucht hatte, sondern dass mehrere angesehene Männer des Dorfes daran beteiligt gewesen seien.

Die Verschwörung des Schweigens, schrieb Fischer, diente nicht nur dazu, Hermann Krüger zu schützen, sondern ein ganzes Netzwerk von Tätern. Der Bürgermeister, der Polizeichef, sogar der Pfarrer. Sie alle hatten ein Interesse daran, dass die Wahrheit nie ans Licht kam. Als die Schwestern ihren Vater töteten und flohen, war es für die Beteiligten ein bequemer Ausweg.

Fischers Manuskript war nie veröffentlicht worden. Er selbst verschwand 1952 unter ungeklärten Umständen während einer Recherchereise nach Argentinien, vermutlich auf den Spuren von Elise.

Maria Schneider war schockiert von dieser Wendung. Sie beschloss, ihre Dokumentation auf diese breitere Verschwörung auszurichten. Doch als sie begann, entsprechende Fragen im Dorf zu stellen, traf sie auf Widerstand. Anonyme Drohungen wurden an ihr Hotelzimmer geschickt. Ihr Auto wurde beschädigt. Schließlich riet ihr der Bürgermeister, ein Enkel des damaligen Amtsinhabers, zu ihrer eigenen Sicherheit abzureisen.

Schneider dokumentierte ihre Erkenntnisse akribisch, stieß jedoch bei Fernsehsendern und Filmproduktionen auf Ablehnung. Das Thema sei zu heikel, die Beweislage zu dünn. In einem letzten verzweifelten Versuch, die Geschichte an die Öffentlichkeit zu bringen, verfasste sie ein Buch mit dem Titel Das Schweigen von Schwarzwald Mittenheim – Die wahre Geschichte der Krüger-Schwestern.

Das Manuskript wurde von mehreren Verlagen abgelehnt und schließlich von einem kleinen, unabhängigen Verlag in einer minimalen Auflage veröffentlicht. Das Buch verschwand schnell wieder aus den Regalen, angeblich aufgrund rechtlicher Drohungen seitens einiger noch lebender Nachkommen der im Buch erwähnten Personen.

Die wahre Geschichte der Krüger-Schwestern bleibt bis heute ein Flüstern.

Im Herbst 2019 erregte ein ungewöhnlicher Fund in Argentinien die Aufmerksamkeit einiger Historiker und Kriminalpsychologen. Bei der Renovierung eines alten Kolonialhauses in San Antonio de Areco, 110 km nordwestlich von Buenos Aires, entdeckten Arbeiter eine versiegelte Metallkassette, eingemauert in den Kamin.

Die Kassette enthielt ein handgeschriebenes Testament, datiert auf den 25. November 1943, drei Tage vor Elise Schneiders Tod.

Dr. Anna Müller, eine deutsche Historikerin, die sich auf deutsch-argentinische Migrationsgeschichte spezialisiert hatte, wurde zur Begutachtung des Dokuments hinzugezogen. In ihrem Bericht an das historische Institut in Buenos Aires schrieb sie: Das Testament von Elise Krüger ist ein außergewöhnliches Dokument, das nicht nur ein düsteres Kapitel deutsch-argentinischer Migrationsgeschichte beleuchtet, sondern auch einen tiefen Einblick in die psychologischen Langzeitfolgen familiärer Gewalt gewährt.

Das Testament enthielt eine detaillierte Chronologie der Ereignisse, die zur Flucht der Schwestern geführt hatten, einschließlich Informationen, die in keinem der bisher bekannten Dokumente erwähnt wurden. Elise bestätigte die Theorie, dass nicht nur ihr Vater, sondern auch andere Männer des Dorfes an dem Missbrauch beteiligt gewesen waren.

Es begann, als ich 14 war, schrieb sie. Vater brachte einen Geschäftspartner mit nach Hause, Herrn Schäfer, denselben Mann, mit dem ich später verlobt werden sollte. Nach dem Abendessen schickte er Margarete und Johanna nach oben. Mich behielt er bei sich, angeblich um zu lernen, wie man Gäste bewirtet. Was dann geschah, kann ich selbst jetzt nach all den Jahren kaum niederschreiben. Am nächsten Morgen sagte mir Vater: ,Ich sei nun eine Frau und müsse lernen, Männern zu gefallen. Dies sei meine Aufgabe, meine Pflicht.‘

Elise beschrieb, wie über die Jahre hinweg immer mehr Geschäftspartner ins Haus kamen: Der Bürgermeister, der Polizeichef, sogar der Schulleiter.

Als sie versuchte sich zu widersetzen, sperrte ihr Vater sie tagelang in den Keller, ohne Licht, mit minimaler Nahrung. Als Margarete alt genug war, begann der Zyklus von neuem.

Der einzige, der versuchte zu helfen, war Dr. Bergmann.

Er muss etwas geahnt haben, fuhr sie fort, stellte Fragen, bot seine Hilfe an. Ich war zu verängstigt, zu beschämt, um die Wahrheit zu sagen. Dann begann Vater zu drohen, nicht mehr nur mit dem Keller, sondern damit, Johanna, unsere Jüngste, den Geschäftspartnern zu überlassen. Das konnte ich nicht zulassen.

Elise beschrieb, wie sie und ihre Schwestern einen verzweifelten Plan fassten. Der Plan ging schief, als Margarete bei einem Fluchtversuch schwer verletzt wurde und später im Keller starb.

Ihr Tod war der Wendepunkt, schrieb Elise. Wir erkannten, dass wir nie frei sein würden, solange Vater lebte. Als er wieder einen seiner Freunde mitbrachte, dieses Mal hatte er es auf Johanna abgesehen, handelten wir. Wir mischten Laudanum in seinen Wein. Als er bewusstlos war, brachten wir ihn in den Keller, in den Raum, den er für uns gebaut hatte. Die Ironie war nicht verloren an uns.

Doch was das Testament wirklich erschütternd machte, waren die Enthüllungen über die Ereignisse nach ihrer Flucht. Elise und Johanna waren zwar nach Amerika geflohen, hatten aber nie aufgehört, über die Männer nachzudenken, die ihnen Leid zugefügt hatten.

Johanna, offenbar stärker traumatisiert als ihre Schwester, entwickelte einen Plan.

Sie war besessen von dem Gedanken an Rache, schrieb Elise. Während ich versuchte zu vergessen, führte sie Listen, sammelte Informationen, verfolgte die Karrieren unserer Peiniger.

Johanna kehrte heimlich nach Deutschland zurück.

Ich dachte, sie wolle nur das Grab unserer Mutter besuchen. Erst später erfuhr ich die Wahrheit.

Laut Elises Testament hatte Johanna über einen Zeitraum von vier Jahren, von 1904 bis 1908, heimlich mehrere der Männer aufgespürt, die an dem Missbrauch beteiligt gewesen waren.

Sie verfolgte sie, studierte ihre Gewohnheiten, drang in ihre Häuser ein. Was genau sie tat, beschrieb ich nicht im Detail, erwähnte aber, dass in dieser Zeit mehrere Männer aus Schwarzwald Mittenheim und Umgebung unter mysteriösen Umständen ums Leben kamen: Scheinbare Unfälle, Selbstmorde, ungeklärte Verschwinden.

Ich erfuhr davon erst, als Johanna 1908 zurückkehrte. Völlig verändert! Sie sprach kaum noch, wachte schreiend auf, wusch ihre Hände, bis sie bluteten. Eines Nachts gestand sie mir alles. Die Namen, die Daten, die Details. Zu schrecklich, um sie hier niederzuschreiben. Eine Woche später nahm sie sich das Leben. In ihrem Abschiedsbrief stand nur ein Satz: ,Ich habe getan, was getan werden musste, und kann nun nicht mehr mit mir selbst leben.‘

Elise beschrieb ihre Verzweiflung nach Johannas Tod. Ihre Schuldgefühle, dass sie ihre jüngere Schwester nicht hatte retten können. Sie führte ein zurückgezogenes Leben, bis sie 1937 durch Zufall erfuhr, dass jemand im alten Familienhaus Nachforschungen anstellte – Dr. Berger alias Herr Müller.

Die Angst überwältigte mich, schrieb sie. Nicht um meinetwillen. Mein Leben war ohnehin fast vorbei, sondern aus Sorge, dass Johannas Taten enthüllt werden könnten. Sie war kein Monster. Sie war ein gebrochenes Mädchen, das nur Gerechtigkeit suchte in einer Welt, die ihr keine bot. Ich konnte nicht zulassen, dass ihr Name beschmutzt würde.

Elise kehrte nach Deutschland zurück, konfrontierte Dr. Berger und beseitigte alle Beweise, die zu einer Entdeckung von Johannas Vergeltungsfeldzug hätten führen können.

Sie beendete ihr Testament mit einer erschütternden Reflexion. Ich bereue nichts von dem, was wir Vater angetan haben. Er verdiente sein Schicksal. Über Johannas Taten kann ich nicht so leicht urteilen. Die Männer, die sie zur Rechenschaft zog, hatten Leid verursacht und waren der Justiz entgangen. Doch wer waren wir, ihr Schicksal zu bestimmen? Ich trage diese Frage mit mir ins Grab.

Ich hinterlasse dieses Testament in der Hoffnung, dass es eines Tages gefunden wird, wenn alle Beteiligten lange tot sind. Nicht um Vergebung zu erbitten, sondern als Warnung, als Erinnerung daran, dass Gewalt immer neue Gewalt gebiert, dass Gerechtigkeit, die zu lange verweigert wird, in Rache umschlagen kann und dass die tiefsten Wunden oft jene sind, die von denen zugefügt werden, die uns lieben sollten.

Dr. Müller und ihr Team verbrachten Monate damit, die Behauptungen im Testament zu überprüfen. Ihre Forschung bestätigte viele der Angaben Elises, einschließlich mehrerer ungeklärter Todesfälle und Verschwinden in der Region zwischen 1904 und 1908.

Ihre abschließende Beurteilung lautete: Obwohl wir die Wahrheit dieser Behauptungen nie mit absoluter Sicherheit feststellen können, deuten die verfügbaren Beweise darauf hin, dass Elise Krügers Testament im Wesentlichen wahrheitsgetreu ist. Falls dies zutrifft, dokumentiert es einen der außergewöhnlichsten Fälle von Vigilantismus in der deutschen Kriminalgeschichte, ausgeführt von einer jungen Frau, deren Name in keiner offiziellen Aufzeichnung als Verdächtige erscheint.

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Die breitere Öffentlichkeit erfuhr nie von diesen Enthüllungen. Die Behörden beschlossen, das Testament unter Verschluss zu halten, um die Nachkommen der beteiligten Familien zu schützen.

Doch in Schwarzwald Mittenheim, wo inzwischen kaum noch jemand die Namen Krüger, Bergmann oder Fischer kannte, lebte die Geschichte in veränderter Form weiter – als lokale Legende über drei Schwestern, die verschwanden, und einen Vater, der sie suchte, bis er selbst verschwand. Eine Geschichte, die Eltern ihren Kindern erzählten, um sie zu warnen: Kommt nicht zu spät nach Hause, sonst holen euch die Krüger-Schwestern.

Im Frühjahr 2023 erhielt die Dokumentarfilmerin Julia Wagner einen ungewöhnlichen Brief. Die junge Filmemacherin, bekannt für ihre preisgekrönten Arbeiten über vergessene historische Ereignisse, öffnete den Umschlag ohne Absender und fand darin einen vergilbten Zeitungsausschnitt aus dem Schwarzwälder Boten von 1899, der das Verschwinden der Familie Krüger erwähnte. Beigefügt war eine handschriftliche Notiz: Die Wahrheit wartet im Keller von Haus Nummer 17.

Wagner war fasziniert. Trotz der Warnungen von Kollegen beschloss sie, nach Schwarzwald Mittenheim zu reisen, das inzwischen zu einem beschaulichen Touristenort geworden war. Das moderne Apartmentgebäude auf dem ehemaligen Krüger-Grundstück war vor einigen Jahren einem Boutique-Hotel gewichen, das mit seinem historischen Charme warb, ohne je die düstere Geschichte des Ortes zu erwähnen.

In ihrem Arbeitstagebuch notierte Wagner: Die Vergangenheit ist hier seltsam präsent, obwohl niemand darüber spricht. Die älteren Einwohner wechseln das Thema, wenn ich die Familie Krüger erwähne. Die Jüngeren kennen die Geschichte nur als vage Schauergeschichte, die man sich auf Schulhöfen erzählt.

Wagner beschloss, systematisch vorzugehen. In Freiburg erhielt sie nach langwierigen Bemühungen Zugang zu den versiegelten Akten, darunter Elises Tagebücher, Dr. Bergers Aufzeichnungen und die Forschungsergebnisse von Fischer und Schneider. Je tiefer sie grub, desto komplexer wurde die Geschichte. Es war nicht mehr nur die Tragödie einer missbrauchten Familie, sondern ein Netz aus Macht, Schweigen und Komplizenschaft, das ein ganzes Dorf umspannte.

Wagner kontaktierte Dr. Anna Müller in Buenos Aires, die ihr zögernd von Elises Testament berichtete und ihr eine Kopie übermittelte. Die Namen und Daten der mutmaßlichen Opfer von Johannas Rachefeldzug gaben Wagner neue Rechercheziele. In den Todesanzeigen und Polizeiberichten aus den Jahren 1904 bis 1908 fand sie bemerkenswerte Übereinstimmungen mit Elises Behauptungen.

Der damalige Bürgermeister war bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen. Der Polizeichef hatte sich erhängt, angeblich aus unerfindlichen Gründen. Der Schulleiter war spurlos verschwunden. Sein verlassenes Pferd wurde am Waldrand gefunden. Es ist unheimlich, notierte Wagner, wie diese Todesfälle mit Elises Zeitachse übereinstimmen. Noch unheimlicher ist, wie effektiv sie aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt wurden.

Bei ihren Recherchen in Schwarzwald Mittenheim stieß Wagner auf unerwarteten Widerstand. Ihr Hotelzimmer wurde durchsucht, ihre Notizen verschwanden. Der Gemeindearchivar verweigerte ihr plötzlich den Zugang zu bestimmten Dokumenten.

Eines Abends, als sie spät von der Bibliothek zurückkehrte, folgte ihr ein dunkler Wagen. Als sie ihre Hoteltür öffnete, fand sie eine Nachricht auf ihrem Bett.

„Manche Geschichten sollten nicht erzählt werden. Nicht weil sie nicht wahr sind, sondern weil die Wahrheit zu viele verletzen würde. Gehen Sie, solange Sie noch können.“

Wagner war erschüttert, aber nicht eingeschüchtert. Sie verdoppelte ihre Sicherheitsvorkehrungen und informierte Kollegen über ihre Situation. Der Durchbruch kam, als sie den letzten lebenden Nachkommen einer der Familien aufspürte, die in Elises Testament erwähnt wurden. Der 92-jährige Martin Schäfer, ein Großneffe des Gustav Schäfer, mit dem Elise einst verlobt gewesen war, lebte zurückgezogen in einem Pflegeheim in Freiburg.

Zu Wagners Überraschung war er bereit zu sprechen.

„Ich habe mein Leben lang geschwiegen“, sagte er ihr, „aber ich bin alt. Was können Sie mir jetzt noch antun?“

Schäfer erzählte, wie er als junger Mann zufällig Briefe seines Großonkels gefunden hatte. Briefe, die von besonderen Abenden im Krüger-Haus sprachen.

„Es war nicht nur Hermann Krüger“, sagte Schäfer, „es war ein Kreis von Männern, angesehen, mächtig. Sie schützten sich gegenseitig.“

Er bestätigte auch die ungewöhnliche Serie von Todesfällen in den Jahren 1904 bis 1908.

„Mein Vater war überzeugt, dass es kein Zufall war“, flüsterte er. „Er sagte immer, die Krüger-Mädchen sind zurückgekommen. Die ganze Stadt war in Angst. Jeder Mann, der etwas zu verbergen hatte, schloss nachts dreimal seine Türen.“

Er reichte ihr einen verblassten Briefumschlag.

„Dies hat mein Vater mir kurz vor seinem Tod gegeben. Er sagte, ich solle es jemandem geben, der die Wahrheit sucht, wenn die Zeit reif ist. Vielleicht sind Sie diese Person.“

Der Umschlag enthielt ein Foto. Drei junge Frauen in identischen dunklen Kleidern mit ernsten Gesichtern. Auf der Rückseite standen ihre Namen: Elise, Margarete, Johanna, und darunter ein Satz: Vergessen Sie nicht, was wir getan haben.

Wagner war überwältigt. Dies war das erste bekannte Bild der Krüger-Schwestern, ein visueller Beweis ihrer Existenz, ihrer Menschlichkeit jenseits der Legenden und Dokumente.

In den folgenden Wochen vervollständigte Wagner ihre Recherchen. Sie sammelte genug Material für einen umfassenden Dokumentarfilm. Doch als sie mit den Produktionsvorbereitungen begann, geschah etwas Unerwartetes. Eine renommierte Anwaltskanzlei kontaktierte sie im Namen mehrerer einflussreicher Familien aus der Region. Sie boten ihr eine beträchtliche Summe an, um ihre Recherchen einzustellen.

Wagner lehnte ab. Kurz darauf wurde ihr Apartment in Berlin durchsucht, ihre Computer gestohlen, ihre Backups gelöscht. Anonyme Online-Kampagnen beschuldigten sie der Sensationsgier.

In einem letzten verzweifelten Versuch, ihre Arbeit zu retten, übergab Wagner Kopien ihrer wichtigsten Dokumente an vertraute Kollegen in verschiedenen Ländern. Dann veröffentlichte sie einen kurzen Artikel in einer kleinen Filmzeitschrift, in dem sie ihre Erfahrungen schilderte und ankündigte, dass sie ihre Recherchen vorerst auf Eis legen würde.

„Die Krüger-Schwestern mögen vor über einem Jahrhundert verschwunden sein“, schrieb sie, „aber die Mauer des Schweigens, die sie umgibt, steht noch immer. Ich habe unterschätzt, wie weit manche Menschen gehen würden, um diese Geschichte begraben zu halten. Nicht aus Scham über die Verbrechen der Vergangenheit, sondern aus Angst vor den Konsequenzen in der Gegenwart.“

Wagner zog sich aus der Öffentlichkeit zurück und nahm eine Gastdozentur an einer Universität in Kanada an. Ihr Dokumentarfilm über die Krüger-Schwestern wurde nie fertiggestellt.

Doch die Geschichte verschwand nicht völlig. In den folgenden Jahren tauchten immer wieder Fragmente ihrer Recherchen online auf, gepostet von anonymen Quellen. Die Geschichte der drei Schwestern, die ihren Vater im Keller anketteten und dann verschwanden, wurde zu einem modernen Mythos.

In Schwarzwald Mittenheim selbst hat sich wenig verändert. Das Boutique-Hotel auf dem ehemaligen Krüger-Grundstück floriert. Unwissende Touristen schlafen friedlich über dem Ort, wo einst dunkles Geheimnis verborgen lag. Nur manchmal, wenn der Wind richtig steht, berichten Gäste von seltsamen Geräuschen in der Nacht, wie ferne Schritte oder das Echo eines Schlüssels, der in einem Schloss gedreht wird.

Die Wahrheit über die Krüger-Schwestern bleibt ein Flüstern, ein Echo, ein Schatten am Rande des Bewusstseins. Wie Elise in ihrem Testament schrieb: Manche Geschichten enden nie wirklich. Sie verändern nur ihre Form und leben weiter als Warnung für jene, die zuhören wollen.

Heute, über 120 Jahre später, hört das Echo noch immer nicht auf. Es hallt durch die Generationen, eine stille Mahnung an die zerstörerische Kraft von Missbrauch und Schweigen, aber auch an den unbeugsamen menschlichen Willen zum Überleben, egal zu welchem Preis.

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