Ich hinterlasse dieses Testament in der Hoffnung, dass es eines Tages gefunden wird, wenn alle Beteiligten lange tot sind. Nicht um Vergebung zu erbitten, sondern als Warnung, als Erinnerung daran, dass Gewalt immer neue Gewalt gebiert, dass Gerechtigkeit, die zu lange verweigert wird, in Rache umschlagen kann und dass die tiefsten Wunden oft jene sind, die von denen zugefügt werden, die uns lieben sollten.
Dr. Müller und ihr Team verbrachten Monate damit, die Behauptungen im Testament zu überprüfen. Ihre Forschung bestätigte viele der Angaben Elises, einschließlich mehrerer ungeklärter Todesfälle und Verschwinden in der Region zwischen 1904 und 1908.
Ihre abschließende Beurteilung lautete: Obwohl wir die Wahrheit dieser Behauptungen nie mit absoluter Sicherheit feststellen können, deuten die verfügbaren Beweise darauf hin, dass Elise Krügers Testament im Wesentlichen wahrheitsgetreu ist. Falls dies zutrifft, dokumentiert es einen der außergewöhnlichsten Fälle von Vigilantismus in der deutschen Kriminalgeschichte, ausgeführt von einer jungen Frau, deren Name in keiner offiziellen Aufzeichnung als Verdächtige erscheint.

Die breitere Öffentlichkeit erfuhr nie von diesen Enthüllungen. Die Behörden beschlossen, das Testament unter Verschluss zu halten, um die Nachkommen der beteiligten Familien zu schützen.
Doch in Schwarzwald Mittenheim, wo inzwischen kaum noch jemand die Namen Krüger, Bergmann oder Fischer kannte, lebte die Geschichte in veränderter Form weiter – als lokale Legende über drei Schwestern, die verschwanden, und einen Vater, der sie suchte, bis er selbst verschwand. Eine Geschichte, die Eltern ihren Kindern erzählten, um sie zu warnen: Kommt nicht zu spät nach Hause, sonst holen euch die Krüger-Schwestern.
Im Frühjahr 2023 erhielt die Dokumentarfilmerin Julia Wagner einen ungewöhnlichen Brief. Die junge Filmemacherin, bekannt für ihre preisgekrönten Arbeiten über vergessene historische Ereignisse, öffnete den Umschlag ohne Absender und fand darin einen vergilbten Zeitungsausschnitt aus dem Schwarzwälder Boten von 1899, der das Verschwinden der Familie Krüger erwähnte. Beigefügt war eine handschriftliche Notiz: Die Wahrheit wartet im Keller von Haus Nummer 17.
Wagner war fasziniert. Trotz der Warnungen von Kollegen beschloss sie, nach Schwarzwald Mittenheim zu reisen, das inzwischen zu einem beschaulichen Touristenort geworden war. Das moderne Apartmentgebäude auf dem ehemaligen Krüger-Grundstück war vor einigen Jahren einem Boutique-Hotel gewichen, das mit seinem historischen Charme warb, ohne je die düstere Geschichte des Ortes zu erwähnen.
In ihrem Arbeitstagebuch notierte Wagner: Die Vergangenheit ist hier seltsam präsent, obwohl niemand darüber spricht. Die älteren Einwohner wechseln das Thema, wenn ich die Familie Krüger erwähne. Die Jüngeren kennen die Geschichte nur als vage Schauergeschichte, die man sich auf Schulhöfen erzählt.
Wagner beschloss, systematisch vorzugehen. In Freiburg erhielt sie nach langwierigen Bemühungen Zugang zu den versiegelten Akten, darunter Elises Tagebücher, Dr. Bergers Aufzeichnungen und die Forschungsergebnisse von Fischer und Schneider. Je tiefer sie grub, desto komplexer wurde die Geschichte. Es war nicht mehr nur die Tragödie einer missbrauchten Familie, sondern ein Netz aus Macht, Schweigen und Komplizenschaft, das ein ganzes Dorf umspannte.
Wagner kontaktierte Dr. Anna Müller in Buenos Aires, die ihr zögernd von Elises Testament berichtete und ihr eine Kopie übermittelte. Die Namen und Daten der mutmaßlichen Opfer von Johannas Rachefeldzug gaben Wagner neue Rechercheziele. In den Todesanzeigen und Polizeiberichten aus den Jahren 1904 bis 1908 fand sie bemerkenswerte Übereinstimmungen mit Elises Behauptungen.
Der damalige Bürgermeister war bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen. Der Polizeichef hatte sich erhängt, angeblich aus unerfindlichen Gründen. Der Schulleiter war spurlos verschwunden. Sein verlassenes Pferd wurde am Waldrand gefunden. Es ist unheimlich, notierte Wagner, wie diese Todesfälle mit Elises Zeitachse übereinstimmen. Noch unheimlicher ist, wie effektiv sie aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt wurden.