Bei ihren Recherchen in Schwarzwald Mittenheim stieß Wagner auf unerwarteten Widerstand. Ihr Hotelzimmer wurde durchsucht, ihre Notizen verschwanden. Der Gemeindearchivar verweigerte ihr plötzlich den Zugang zu bestimmten Dokumenten.
Eines Abends, als sie spät von der Bibliothek zurückkehrte, folgte ihr ein dunkler Wagen. Als sie ihre Hoteltür öffnete, fand sie eine Nachricht auf ihrem Bett.
„Manche Geschichten sollten nicht erzählt werden. Nicht weil sie nicht wahr sind, sondern weil die Wahrheit zu viele verletzen würde. Gehen Sie, solange Sie noch können.“
Wagner war erschüttert, aber nicht eingeschüchtert. Sie verdoppelte ihre Sicherheitsvorkehrungen und informierte Kollegen über ihre Situation. Der Durchbruch kam, als sie den letzten lebenden Nachkommen einer der Familien aufspürte, die in Elises Testament erwähnt wurden. Der 92-jährige Martin Schäfer, ein Großneffe des Gustav Schäfer, mit dem Elise einst verlobt gewesen war, lebte zurückgezogen in einem Pflegeheim in Freiburg.
Zu Wagners Überraschung war er bereit zu sprechen.
„Ich habe mein Leben lang geschwiegen“, sagte er ihr, „aber ich bin alt. Was können Sie mir jetzt noch antun?“
Schäfer erzählte, wie er als junger Mann zufällig Briefe seines Großonkels gefunden hatte. Briefe, die von besonderen Abenden im Krüger-Haus sprachen.
„Es war nicht nur Hermann Krüger“, sagte Schäfer, „es war ein Kreis von Männern, angesehen, mächtig. Sie schützten sich gegenseitig.“
Er bestätigte auch die ungewöhnliche Serie von Todesfällen in den Jahren 1904 bis 1908.
„Mein Vater war überzeugt, dass es kein Zufall war“, flüsterte er. „Er sagte immer, die Krüger-Mädchen sind zurückgekommen. Die ganze Stadt war in Angst. Jeder Mann, der etwas zu verbergen hatte, schloss nachts dreimal seine Türen.“
Er reichte ihr einen verblassten Briefumschlag.
„Dies hat mein Vater mir kurz vor seinem Tod gegeben. Er sagte, ich solle es jemandem geben, der die Wahrheit sucht, wenn die Zeit reif ist. Vielleicht sind Sie diese Person.“
Der Umschlag enthielt ein Foto. Drei junge Frauen in identischen dunklen Kleidern mit ernsten Gesichtern. Auf der Rückseite standen ihre Namen: Elise, Margarete, Johanna, und darunter ein Satz: Vergessen Sie nicht, was wir getan haben.
Wagner war überwältigt. Dies war das erste bekannte Bild der Krüger-Schwestern, ein visueller Beweis ihrer Existenz, ihrer Menschlichkeit jenseits der Legenden und Dokumente.
In den folgenden Wochen vervollständigte Wagner ihre Recherchen. Sie sammelte genug Material für einen umfassenden Dokumentarfilm. Doch als sie mit den Produktionsvorbereitungen begann, geschah etwas Unerwartetes. Eine renommierte Anwaltskanzlei kontaktierte sie im Namen mehrerer einflussreicher Familien aus der Region. Sie boten ihr eine beträchtliche Summe an, um ihre Recherchen einzustellen.
Wagner lehnte ab. Kurz darauf wurde ihr Apartment in Berlin durchsucht, ihre Computer gestohlen, ihre Backups gelöscht. Anonyme Online-Kampagnen beschuldigten sie der Sensationsgier.
In einem letzten verzweifelten Versuch, ihre Arbeit zu retten, übergab Wagner Kopien ihrer wichtigsten Dokumente an vertraute Kollegen in verschiedenen Ländern. Dann veröffentlichte sie einen kurzen Artikel in einer kleinen Filmzeitschrift, in dem sie ihre Erfahrungen schilderte und ankündigte, dass sie ihre Recherchen vorerst auf Eis legen würde.
„Die Krüger-Schwestern mögen vor über einem Jahrhundert verschwunden sein“, schrieb sie, „aber die Mauer des Schweigens, die sie umgibt, steht noch immer. Ich habe unterschätzt, wie weit manche Menschen gehen würden, um diese Geschichte begraben zu halten. Nicht aus Scham über die Verbrechen der Vergangenheit, sondern aus Angst vor den Konsequenzen in der Gegenwart.“
Wagner zog sich aus der Öffentlichkeit zurück und nahm eine Gastdozentur an einer Universität in Kanada an. Ihr Dokumentarfilm über die Krüger-Schwestern wurde nie fertiggestellt.
Doch die Geschichte verschwand nicht völlig. In den folgenden Jahren tauchten immer wieder Fragmente ihrer Recherchen online auf, gepostet von anonymen Quellen. Die Geschichte der drei Schwestern, die ihren Vater im Keller anketteten und dann verschwanden, wurde zu einem modernen Mythos.