Der Dorflehrer, Herr Schmidt, erinnerte sich später:
„Herr Krüger erklärte mir einmal: Seine Töchter seien zu empfindsam für den Umgang mit den Dorfkindern. Sie würden zu Hause alles lernen, was sie bräuchten.“
Das Haus der Krügers war bekannt für seine Stille. Selbst an Sonntagen, wenn andere Familien lärmend und fröhlich von der Kirche nach Hause gingen, bewegten sich die Krügermädchen wie Schatten neben ihrem Vater, die Köpfe gesenkt in identischen Kleidern, die bis zum Hals geschlossen waren, selbst im Sommer.
Eine Eintragung im Tagebuch der Bäckerin Frau Müller aus dem Jahr 1893 lautete: Die kleine Johanna Krüger hatte heute einen blauen Fleck am Handgelenk. Als ich sie fragte, woher dieser stamme, antwortete sie mit gesenktem Blick, sie sei ungeschickt gewesen. Herr Krüger bezahlte schnell und zog sie hinaus, bevor ich weitere Fragen stellen konnte.
Im Gemeindearchiv findet sich ein Brief des Dorfarztes Dr. Hoffmann an einen Kollegen in Freiburg: Ich werde regelmäßig ins Krüger-Haus gerufen, um die Mädchen zu untersuchen. Der Vater besteht darauf, während der Untersuchungen anwesend zu sein. Die Mädchen sprechen nie, außer wenn er ihnen eine direkte Frage erlaubt. Ihr Verhalten erscheint mir zunehmend beunruhigend. Sie wirken wie gut trainierte Puppen.
Es gab auch Gerüchte unter den Dorfbewohnern, unausgesprochene Vermutungen, ein Flüstern hinter vorgehaltener Hand. Doch niemand wagte es, Hermann Krüger direkt zu konfrontieren. Er war schließlich ein angesehener Bürger, ein Wohltäter der Kirche und ein wichtiger Arbeitgeber in der Region. Die Mauer des Schweigens war dick und bequem.
Frau Becker berichtete weiter: „Manchmal sah man nachts Licht im Keller der Krügers. Hermann behauptete, dort seine Geschäftsbücher zu führen, aber die Vorhänge waren immer zugezogen und manchmal, wenn der Wind richtig stand, hätte man schwören können, dass man weinen hörte.“
Im Frühjahr 1895 geschah etwas, das fragile Gleichgewicht im Haus der Krügers erschütterte. Dr. Klaus Bergmann, ein junger Arzt aus Stuttgart, ließ sich im Dorf nieder, um die Praxis des alternden Dr. Hoffmann zu übernehmen. Bei seinem ersten Sonntagsgottesdienst bemerkte er die drei jungen Frauen, die steif neben ihrem Vater saßen. Besonders Elise, die Älteste, fiel ihm auf, mit ihren langen, blonden Haaren und den niedergeschlagenen Augen.
Nach dem Gottesdienst stellte sich Dr. Bergmann der Familie vor. Aus seinem erhaltenen Tagebuch: Heute die Familie Krüger kennengelernt. Der Vater, ein imposanter Mann mit kalten Augen, stellte seine drei Töchter vor. Die älteste, Elise, schien beim Handschlag leicht zu zittern. Ihre Hand war kalt und dünn. Keines der Mädchen hielt meinen Blick länger als einen Moment.
Zwei Wochen später wurde Dr. Bergmann ins Krüger-Haus gerufen. Elise hatte angeblich hohes Fieber. Der junge Arzt fand die siebzehnjährige blass und abgemagert in ihrem Bett vor. Hermann bestand darauf, während der Untersuchung im Raum zu bleiben.
In seinem Tagebucheintrag vom selben Abend notierte Dr. Bergmann: Das Mädchen hatte kein Fieber. Sie schien eher erschöpft und unterernährt. Als ich ihr Handgelenk nahm, um ihren Puls zu messen, bemerkte ich mehrere Narben, alte und neue. Herr Krüger beobachtete jeden meiner Schritte mit Argusaugen. Als ich nach den Narben fragte, antwortete er sofort: ,Seine Tochter neige zu nervösen Anfällen und kratze sich dabei selbst.‘ Elise sagte kein Wort, aber ihre Augen flehten mich an. Worüber, kann ich nur spekulieren.
In den folgenden Wochen besuchte Dr. Bergmann das Haus mehrfach, angeblich um Elises Genesung zu überwachen. Bei jedem Besuch versuchte er, einige Minuten mit ihr allein zu verbringen, doch Hermann wich nie von ihrer Seite. Die Dorfbewohner bemerkten das wachsende Interesse des jungen Arztes.
„Er hat bei jeder Gelegenheit versucht, mit Fräulein Elise zu sprechen“, erinnerte sich später der Metzger Heinrich Schulz. „Einmal sah ich, wie er ihr auf dem Marktplatz einen Brief zusteckte. Sie wirkte erschrocken und versteckte ihn schnell.“