Am 17. Mai 1895 ereignete sich der Vorfall, der als Wendepunkt gilt. Dr. Bergmann klopfte spät abends an die Tür der Krügers, angeblich wegen eines medizinischen Notfalls bei einem Nachbarn. Als Hermann öffnete, drängte sich der Arzt ins Haus und verlangte, Elise zu sehen.
Laut Aussage des Nachbarn Friedrich Bauer, der durch den Lärm aufgeschreckt wurde, kam es zu einem heftigen Streit.
„Ich hörte Dr. Bergmann rufen: Ich weiß, was in diesem Haus vor sich geht! Diese Mädchen brauchen Hilfe!“
Herr Krüger brüllte zurück, er solle sein Haus verlassen und seine Familie in Ruhe lassen. Der Streit endete damit, dass Hermann Krüger den Arzt aus dem Haus warf und mit der Polizei drohte. Dr. Bergmann soll gerufen haben: „Ich werde wiederkommen – mit den Behörden!“
In einem Brief an seinen ehemaligen Professor in Stuttgart, datiert auf den folgenden Tag, schrieb Bergmann: Ich bin überzeugt, dass in diesem Haus schreckliche Dinge geschehen. Die Narben an Elises Handgelenken stammen nicht von Selbstverletzungen. Die jüngere Schwester Margarete hat ähnliche Male am Hals. Die Art, wie sie ihren Vater ansehen, es ist nicht Respekt, es ist Furcht. Ich muss handeln, bevor es zu spät ist.
Drei Tage später verschwand Dr. Bergmann spurlos. Sein Pferd wurde außerhalb des Dorfes gefunden, aber von ihm selbst fehlte jede Spur.
Die örtliche Polizei leitete eine Suche ein, die jedoch nach wenigen Wochen ergebnislos eingestellt wurde. Herr Krüger erzählte jedem, der es hören wollte:
„Der junge Arzt habe wahrscheinlich das Dorf verlassen, weil er mit der Arbeit überfordert gewesen sei. Ein Stadtmensch“, sagte er verächtlich, „nicht geschaffen für das Landleben.“
Nach Dr. Bergmanns Verschwinden kehrte scheinbar Ruhe im Dorf ein. Die offizielle Erklärung, die von der lokalen Polizei unterstützt wurde, lautete, dass der junge Arzt freiwillig fortgegangen sei.
Pfarrer Schneider schrieb in sein Tagebuch: Die Gemeinde nimmt die Erklärung zum Verschwinden des Doktors an. Doch ich spüre eine gewisse Unruhe. Besonders das Verhalten der Krüger-Mädchen in der Kirche ist auffällig. Sie wirken noch stiller, noch unterwürfiger als zuvor.
Hermann Krüger selbst schien nach diesem Vorfall seine Position im Dorf zu festigen. Er spendete eine beträchtliche Summe für die Renovierung des Kirchendachs und übernahm den Vorsitz im örtlichen Handelsverein. Seine Töchter begleiteten ihn bei öffentlichen Anlässen wie Marionetten, stumm, gehorsam, mit gesenkten Blicken.
Im August 1895 erschien ein kurzer Artikel im Schwarzwälder Boten, der von einer erfreulichen Verlobung berichtete. Elise Krüger, die älteste Tochter des angesehenen Tuchhändlers, sollte mit dem 45-jährigen Witwer Gustav Schäfer, einem Geschäftspartner ihres Vaters, vermählt werden.
Die Gemeindesekretärin Frau Huber erinnerte sich später: „Ich sah Fräulein Elise, als sie mit ihrem Vater im Rathaus die Papiere unterzeichnete. Sie wirkte wie betäubt. Ihre Hand zitterte so stark, dass sie die Feder kaum halten konnte. Herr Krüger führte ihre Hand wie die eines Kindes.“
Die Hochzeit sollte im Oktober stattfinden, wurde jedoch plötzlich und ohne öffentliche Erklärung verschoben. Gerüchte besagten, Elise sei erkrankt. Andere munkelten, sie habe versucht zu fliehen.
In den Aufzeichnungen des Dorflehrers Herr Schmidt findet sich folgende Notiz: Heute habe ich die jüngste Krüger, Johanna, allein am Brunnen getroffen. Ein seltener Anblick. Als ich sie nach ihrer Schwester fragte, blickte sie sich ängstlich um und flüsterte:
„Elise ist im Keller.“
Dann kam ihr Vater um die Ecke, und sie verstummte sofort.
Die Verlobung wurde nie offiziell gelöst, aber auch nie vollzogen. Herr Schäfer wurde in den folgenden Monaten nicht mehr im Dorf gesehen.
Im Frühjahr 1896 machte eine neue Geschichte die Runde. Margarete, die mittlere Tochter, sollte in ein Sanatorium in der Schweiz geschickt werden, wegen nervöser Erschöpfung, wie ihr Vater erklärte. Niemand sah sie abreisen und niemand erhielt je einen Brief von ihr. Johanna, die Jüngste, würde immer seltener gesehen.