Doch was geschah mit den Töchtern? Warum verließen sie das Haus so plötzlich? Und wo ist Hermann Krüger? Als Fischer seine Entdeckungen dem Bürgermeister mitteilte, wurde er gebeten, seine Nachforschungen einzustellen und das Dorf zu verlassen.
„Manche Geschichten sollten besser ruhen“, sagte ihm der Gemeindevorsteher. „Es bringt niemandem etwas, alte Wunden aufzureißen.“
Doch Fischer war nicht bereit, aufzugeben. In den Archiven des Dorfes entdeckte er einen Eintrag im Hafenregister von Hamburg. Zwei junge Frauen namens Elisabeth und Johanna Schmidt hatten am 20. März 1899 ein Schiff nach New York bestiegen. Die Beschreibung passte auf die Krüger-Schwestern.
Sein letzter Tagebucheintrag aus Schwarzwald Mittenheim lautet: Ich reise morgen ab. Die Feindseligkeit der Dorfbewohner wird immer offensichtlicher. Letzte Nacht wurde ein Stein durch mein Fenster geworfen mit einer Notiz: Lass die Toten ruhen. Aber ich kann nicht. Die Stimmen in diesem Haus, sie flüstern mir zu, dass ihre Geschichte erzählt werden muss. Besonders die Stimme aus dem Keller, die immer noch nach ihren Töchtern ruft.
Fischer verließ das Dorf am nächsten Tag. Seine Dissertation blieb unvollendet. Stattdessen begann er eine Reise nach Amerika, um die Spur der Schwestern zu verfolgen. Er kehrte nie zurück.
Nach den Untersuchungen von Ernst Fischer im Jahr 1912 wurde das Krüger-Haus verschlossen und blieb unberührt. Die Gemeindeverwaltung entschied, das Anwesen nicht zu verkaufen oder abzureißen. Es wurde zu einem stillen Mahnmal, einem blinden Fleck im Dorfbewusstsein.
Doch im Sommer 1937, als die wirtschaftliche Not viele Gemeinden traf, beschloss der Gemeinderat, das Grundstück doch zu veräußern. Der Kaufinteressent war ein gewisser Herr Müller aus Frankfurt, der angab, das Haus als Ferien-Domizil nutzen zu wollen. Was niemand im Dorf wusste: Bei Herr Müller handelte es sich in Wirklichkeit um Dr. Thomas Berger, einen Psychiater und Autor, der sich auf die Dokumentation ungewöhnlicher Kriminalfälle spezialisiert hatte.
Berger hatte durch Zufall von Fischers unvollendeter Recherche erfahren und war fasziniert von der Geschichte der Familie Krüger. In einem Brief an seinen Verleger schrieb er: Dieser Fall könnte die Grundlage für ein bahnbrechendes Werk über familiäre Psychopathologie werden. Die Dynamik zwischen dem tyrannischen Vater und den missbrauchten Töchtern, die schließlich zu Täterinnen werden, ist ein Paradebeispiel für den Zyklus der Gewalt, den ich in meinen Studien beschrieben habe.
Berger zog im August 1937 in das Haus ein und begann sofort mit seiner Untersuchung. Er durchforstete alte Dokumente, befragte Dorfbewohner, die ihn für einen harmlosen Feriengast hielten, und verbrachte lange Nächte im Keller des Hauses.
Aus Bergers Tagebuch: Dieses Haus hat eine fast greifbare Atmosphäre des Leids. In der ersten Nacht wachte ich schweißgebadet auf, überzeugt, jemand hätte meinen Namen gerufen. Das wiederholte Knarren der Dielen über meinem Schlafzimmer klingt, als würde jemand auf und ab gehen. Natürlich sind das nur die üblichen Geräusche eines alten Hauses, verstärkt durch meine Kenntnis seiner Geschichte.
Berger konzentrierte seine Untersuchungen auf den Keller. Bei einer genaueren Inspektion des versteckten Raumes entdeckte er etwas, das frühere Untersuchungen übersehen hatten: Eine schmale Öffnung im Boden, kaum größer als ein Gullydeckel, sorgfältig unter einer losen Holzdiele verborgen. Als er die Öffnung freilegte, fand er einen engen Schacht, der noch tiefer unter das Haus führte.
Mit Hilfe eines Seils und einer Laterne stieg er hinab und fand einen weiteren kleineren Raum, kaum mehr als eine Grube. Die Wände waren mit einer dicken Schicht Kalk bedeckt.
Meine schlimmsten Befürchtungen scheinen sich zu bestätigen, notierte Berger. Diese Grube wurde eindeutig als Grab genutzt. Der Kalk diente dazu, den Verwesungsgeruch zu überdecken und den Zersetzungsprozess zu beschleunigen. Aber für wen?
Berger beschloss, eine radikale Maßnahme zu ergreifen. Er begann, den Boden der Grube systematisch auszuheben. Nach mehreren Stunden mühsamer Arbeit stieß seine Schaufel auf etwas Hartes. Es waren menschliche Knochen. Bei einer genaueren Untersuchung stellte er fest, dass es sich um mindestens zwei Skelette handelte – eines mit deutlichen Anzeichen von Gewalteinwirkung am Schädel. Zwischen den Knochen fand er ein kleines Medaillon mit der Inschrift KB, den Initialen von Klaus Bergmann.