Besonders verstörend waren die Einträge über die letzten Tage ihres Vaters.
Wir konnten ihn nicht einfach töten, schrieb Elise. Das wäre zu gnädig gewesen. Er sollte fühlen, was wir gefühlt hatten: Die Hilflosigkeit, die Dunkelheit, die endlosen Stunden des Wartens. Wir sperrten ihn in seinen eigenen Keller, in den Raum, den er für uns gebaut hatte.
Am ersten Tag schrie er und flehte, am zweiten drohte er. Am dritten begann er zu weinen und rief nach seiner Mutter. Am vierten verstummte er. Am fünften gaben wir ihm Wasser, aber keine Nahrung. So ging es Tage, Wochen. Er wurde schwächer, sein Geist zerbrach. Als wir schließlich beschlossen zu fliehen, wussten wir, wir konnten ihn nicht zurücklassen. Es wäre zu riskant gewesen. Also…
Die letzten Seiten des Tagebuchs beschrieben Elises Leben in Amerika, ihren vergeblichen Versuch, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, den Selbstmord ihrer Schwester und schließlich ihre Rückkehr nach Deutschland.
Ich kehrte zurück, um die letzten Spuren zu beseitigen, schrieb sie. Doch als ich durch die Räume dieses verfluchten Hauses ging, kamen die Erinnerungen mit solcher Gewalt zurück, dass ich kaum atmen konnte. Ich hörte wieder seine Stimme, seine Schritte auf der Treppe, spürte seine Hand in meinem Haar, sah Margaretes leblose Augen. Ich weiß, ich sollte fliehen, doch ich kann nicht. Dieses Haus hält mich fest, wie es uns alle festgehalten hat.
Vielleicht ist es meine Bestimmung, hier zu enden, wo alles begann.
Der letzte Eintrag, datiert auf den 20. September 1937, lautete schlicht: Es ist vollbracht. Ich habe die Knochen umgebettet, tiefer, wo niemand sie finden wird. Dr. Bergers Unterlagen habe ich verbrannt, nur dieses Tagebuch bleibt als Zeugnis. Ich bin müde. So müde. Heute Nacht nehme ich den letzten Zug nach Freiburg. Von dort reise ich weiter nach Süden, vielleicht nach Italien. Ich werde einen ruhigen Ort suchen, einen Ort ohne Keller.
Dr. Hartmann und ihr Team suchten das gesamte Anwesen erneut ab, fanden jedoch keine menschlichen Überreste. Das Krüger-Haus wurde abgerissen, das Grundstück neu bebaut. Doch die Bewohner der neuen Wohnungen berichteten von seltsamen Vorkommnissen, unerklärlichen Geräuschen in der Nacht, plötzlichen Temperaturabfällen, dem Gefühl, beobachtet zu werden.
Der Fall der Krüger-Schwestern geriet in den folgenden Jahrzehnten weitgehend in Vergessenheit. Doch im Winter 1987 ereignete sich ein merkwürdiger Zufall. Der Literaturprofessor Heinrich Wagner aus Berlin erwarb auf einem Flohmarkt in Buenos Aires einen alten Koffer. Unter den vergilbten Dokumenten befand sich ein schmales Notizbuch mit dem Namen Elise Schneider auf dem Einband – der Name, den Elise Krüger in Amerika angenommen hatte.
Wagner, der zufällig aus Schwarzwald Mittenheim stammte, erkannte die Verbindung zur lokalen Legende der Krüger-Familie. In einem Artikel für die Zeitschrift für historische Kriminalfälle schrieb Wagner: Die letzten Aufzeichnungen von Elise Krüger bieten einen faszinierenden Einblick in die Psyche einer Frau, die sowohl Opfer als auch Täterin war.
Ein besonders bemerkenswerter Eintrag stammte vom 12. März 1940: Heute ist der Jahrestag. 41 Jahre seit jener Nacht, als wir Vater in den Keller brachten. Ich träume nicht mehr so oft davon. Manchmal frage ich mich, ob es überhaupt geschehen ist oder ob ich es mir nur eingebildet habe. Dann spüre ich wieder die Schwere der Ketten in meinen Händen, höre sein Wimmern und weiß, dass es real war.
Ich habe eine alte Frau am Strand kennengelernt. Sie spricht kaum Deutsch, ich kaum Spanisch, und doch verstehen wir uns. Gestern fragte sie mich nach meiner Familie. Zum ersten Mal seit vielen Jahren erzählte ich von meinen Schwestern – nicht alles, nur die guten Erinnerungen. Es tat gut, sie so in Erinnerung zu rufen. Nicht nur als Opfer, nicht nur durch das Prisma dessen, was später geschah.
Der letzte Eintrag, datiert auf den 17. März 1943, lautete: Heute habe ich alle Briefe an Johanna verbrannt, die ich nie abgeschickt habe. Es wird Zeit loszulassen. Ich träume immer häufiger von einem Haus am Meer, einem hellen Haus mit vielen Fenstern, ohne Keller. Die Tür steht immer offen. Margarete und Johanna warten dort auf mich, jung, unverletzt. Nur Vater fehlt. Vielleicht ist es besser so. Oder vielleicht wartet auch er dort, aber anders, als ich ihn kannte, geheilt von dem, was auch immer ihn so zerbrach, dass er seine eigenen Kinder zerbrechen musste.