Der Nebel lag schwer über dem Schwarzwald, als die Polizei des Großherzogtums Baden im Jahr 1901 das entsetzliche Geheimnis im alten Bauernhof der Schäferschwestern entdeckte. Sie fanden dort 37 Männer angekettet in einer Scheune, halb wahnsinnig, halbt und seit Jahren vermisst.
Doch der wahre Albtraum war nicht ihre Entdeckung, sondern das, wie lange alle es gewusst hatten. Über 20 Jahre hinweg waren Männer auf der alten Schäferstraße verschwunden, junge Wanderarbeiter, Knechte, Handwerksgesellen auf der Durchreise. Sie kamen aus den Dörfern von Trieberg, Furtwang, Willing und wer auf dem Weg zum Hof der Schwestern ging, kam niemals wieder zurück. Im Wirtshaus von St.
Georgen flüsterte man über die beiden Frauen, Elisabeth und Martha Schäfer, über ihre unnatürlichen Wege und ihre Fähigkeit, Männer zu bezaubern. Der Dorf Schulze sprach von Hexerei. Der Pfarrer schwieg und Gendarm Brot erklärte: “Die Berge näh sich, was ihnen gehöre, Lawinen, Mineneinstürze, Wildtiere.

” Doch als ein junger Journalist aus Freiburg begann Fragen zu stellen, entdeckte er etwas schlimmeres als Mord. Er hieß Thomas Abenrad, 26 Jahre alt, neugierig, ehrgeizig und zu jung, um zu wissen, wann man besser schweigt. Er war aus der Stadt gekommen, getrieben von Gerüchten, die man sonst nur im Spuk alter Leute hörte. In seiner Aktentasche lagen Zeitungsausschnitte, vermissten Anzeigen und Fotos von Männern, deren Gesichter mit jedem Fall verschwommener wurden.
Der Zug brachte ihn früh am Morgen nach Titisee, wo kalter Nebel über den Schienen hing und der Atem nach Kohle und nassem Moos roch. Der Himmel war grau und das feine beständige Dröhnen des Waldes begleitete jeden seiner Schritte. Thomas hatte gelernt, daß die schlimmsten Wahrheiten sich oft hinter den einfachsten Erklärungen verstecken. Die Akten, die er gesammelt hatte, reichten 20 Jahre zurück.
Die verschwundenen Männer kamen aus verschiedenen Landkreisen wie Brotkrumen, die ins Nichts führten. Die Berichte der Landarmerie waren oberflächlich, wahrscheinlich erfroren, Unfall beim Holzfällen, verschwunden im Gebirge. Doch Thomas bemerkte etwas, das niemand sehen oder niemand sehen wollen schien. Jeder einzelne dieser Männer war zuletzt im Umkreis von zehn Kilometern um die alte Schäferstraße gesehen worden.
Die Straße, eine gewundene Schotterpiste, führte tief in die Berge durch Tannenwälder, die das Licht verschluckten, bis sie schließlich bei einem einsam verwitterten Bauernhof endete. Thomas besuchte Gendarm Brot im kleinen Amtszimmer der Gemeinde Trieberg.
Der Mann saß hinter einem Schreibtisch, der unter Papierstapeln ächtzte und wirkte, als sei er mit dem Holz seines Stuhles verwachsen. Seine Hände waren groß und schwielig, seine Augen müde und hart zugleich. “Sie verschwenden ihre Zeit, junger Mann”, sagte Brot, ohne aufzusehen. “Diese Berge fressen Menschen schon immer. Lawinen, Wolfsrudel, reißende Bäche. Manche verirren sich, andere wollen vielleicht gar nicht mehr gefunden werden.
Aber die Schäferschwestern, warf Thomas ein, werden in mehreren Zeugenaussagen erwähnt. Männer wurden in der Nähe ihres Hofes gesehen und dann nie wieder. Brot lachte, aber das Lachen war trocken und bitter. Die Schäferfrauen lassen sich in Ruhe, leben seit 15h Jahren allein, seit ihr Vater gestorben ist.
arbeiten ihr Land, beten ihren Gott und meiden das Dorf und wir lassen sie in Frieden. So war es immer. So bleibt’s. Dann sah er Thomas an. Seine Stimme wurde rau. Merken Sie sich eins, Herr Abenrat. Wir hier im Schwarzwald haben gelernt, die Geister in Ruhe zu lassen. Wer sie stört, verschwindet wie die anderen. Als Thomas später durch das Dorf ging, spürte er die Blicke.
Gespräche verstummten, sobald er einen Raum betrat. Die Post, das Gasthaus, der kleine Laden mit dem Kaffee, der nach verbranntem Holz schmeckte. Niemand wollte reden. Nur Frau Kaltenbach, die alte Witwe, bei der er ein Zimmer gemietet hatte, sprach in der zweiten Nacht, als der Wind durch die Bretter ihres Hauses pfiff.
Sie stellte ihm Tee hin, die Hände zitternd und sagte leise: “Sie fragen nach Dingen, die vergraben bleiben sollten. Die Schäferfrauen, sie sind nicht wie wir. Ihr Vater war schon anders. Aber sie, Herr Abenrat, sie haben etwas in der Seele, das nicht von Gott kommt. Thomas beugte sich vor. Was meinen Sie? Frau Kaltenbachs Blick glitzt zum Fenster hinaus in den dunklen Wald.
Sie sagen, sie singen die Männer zu sich und wer ihrem Lied folgt, kommt nie mehr herunter. Ihre Worte hingen in der Luft wie kalter Rauch. Doch Thomas war kein Mann, der Warnungen beachtete. Er war gekommen, um die Wahrheit zu finden. Und am nächsten Morgen unter einem Himmel, der schwer von Schnee war, nahm er den alten Pfad, der hinauf zum Hof der Schäferschwestern führte.
Der Pfad war schmal und überwuchert, kaum mehr als ein Wildwechsel, der sich durch den dichten Wald wand. Der Boden war matschig vom letzten Regen und der Geruch von feuchtem Laub und Tannennadeln hing schwer in der Luft. Thomas Atem bildete kleine Wolken, die sich sofort im Nebel auflösten. Je höher erstieg, desto stiller wurde es. Kein Vogel, kein Wind, nur das leise Tropfen von Schmelzwasser von den Zweigen.
Nach fast einer Stunde erreichte er eine Lichtung. Dort stand der Hof der Schäferschwestern. Das Haus war aus dunklem, vom Wetter gegärbtem Holz, das Dach mit schwerem Moos überzogen. Aber die Scheune, die Scheune sah anders aus. Sie war aus neueren Balken errichtet, mit massiven Eisenbeschlägen und die Fenster waren von innen vernagelt.
Ein merkwürdiger Geruch hing in der Luft, eine Mischung aus Rauch, Harz und etwas Süßlichem, das Thomas nicht zuordnen konnte. Er blieb stehen, das Herz hämmernd, als er ein Geräusch hörte. Ein Summ. Leise, fast melodisch, kam es aus der Scheune. Es war kein Lied, das er kannte. Und doch hatte es etwas Beschwörendes, ein gleichmäßiger Rhythmus wie von mehreren Stimmen. Ein Schauer lief ihm über den Rücken.
Sein Verstand sagte ihm, er solle umkehren. Aber der Journalist in ihm, der an Wahrheiten glaubte, die man beweisen konnte, trieb ihn weiter. Er ging auf das Haus zu. Bevor er klopfen konnte, öffnete sich die Tür. In der Öffnung stand eine Frau, groß, hager, mit einem Gesicht, das wie aus Stein gemeißelt schien.
Ihre Augen waren hell, fast farblos und blickten ihn an, als könne sie in seinem Kopf lesen. “Was wollen Sie hier?”, fragte sie. “Ihre Stimme war ruhig, aber ohne jede Wärme. Fräulein Schäfer, Thomas nahm den Hut ab. Mein Name ist Thomas Abrad, Freiburger Zeitung. Ich schreibe über das Leben hier oben, über die Menschen, die in der Abgeschiedenheit leben.
Vielleicht könnten sie mir ein paar Fragen beantworten. Sie sah ihn noch einen Moment an, dann sagte sie knapp: “Wiren nicht mit Zeitungsleuten.” Schon wollte sie die Tür schließen, da erklang aus dem Innern ein Lachen. Eine zweite Frau trat hervor. Kleiner, mit dselben scharfen Gesichtszügen, aber einem Ausdruck, der fast kindlich wirkte. Ihr Lächeln war zu breit. zu star.
“Ach, Elisabeth”, sagte sie singend, “Vielleicht will der Herr hören, wie wir dem Herrn dienen. Das ist doch nichts Böses, nicht wahr?” Sie wandte sich an Thomas und ihr Blick ließ ihn frösteln. “Wir sind gottesfürchtige Frauen, Herr Abenrat. Seit unser Vater zu Gott gegangen ist, leben wir allein und arbeiten in seinem Namen.
Elisabeth, die Ältere, wicht zur Seite als Zeichen, dass er eintreten durfte. Der Duft von getrockneten Kräutern, Weihauch und etwas Bitterem schlug ihm entgegen. Das Innere des Hauses war schlicht, aber markellos sauber. Überall lagen Bibeln, Gebetsbücher, getrocknete Bündel aus Salbei und Lavendel hing von den Deckenbalken.
Martha sprach ununterbrochen mit dieser singenden Stimme, während Elisabeth schweigen Tee einschenkte. Sie erzählten von ihrem Glauben, von harter Arbeit, von Einsamkeit. Es war alles zu glatt, zu einstudiert. Thomas lächelte, stellte höfliche Fragen, doch innerlich nagte das Misstrauen. Es war eine Aufführung. Er spürte es.
Als er sich zum Gehen erhob, fiel sein Blick auf etwas auf einem kleinen Tisch neben der Tür. Eine Holzfigur, ein Vogel, so fein geschnitzt, dass er zu atmen schien. Thomas erstarrte. Er kannte diese Arbeit. Er hatte sie auf einem vermißen Plakat gesehen. Jakob Möring, ein junger Holzschnitzer, der vor 5 Jahren verschwunden war.
Der Vogel war exakt wie auf dem Foto beschrieben, bis zu den winzigen Kerben an den Federn. Kein Zweifel. Thomas lächelte noch einmal, dankte den Schwestern und verließ das Haus. Aber seine Hände zitterten, und als er den Hof hinter sich ließ, hörte er das Summen aus der Scheune wieder, lauter jetzt, fast wie ein Chor. Noch in derselben Nacht saß Thomas an dem kleinen Schreibtisch in seinem Zimmer bei Frau Kaltenbach.
Die alte Wanduhr tickte laut in der Stille. Vor ihm lagen seine Notizen, Zeitungsartikel und die Karte des Bezirks. Er hatte die Orte markiert, an denen die Männer verschwunden waren. Die Punkte formten einen Kreis um den Hof der Schäferschwestern. Kein Zufall, kein Naturereignis. Es war ein Muster und mittendarin das alte Anwesen.
Der Gedanke ließ ihn nicht mehr los. Gegen Mitternacht stand er auf, zog seinen Mantel an und schlich hinaus. Der Frost hatte den Boden hart gemacht. Das Gras knirschte unter seinen Schritten. Die Straßenlaternen warfen schwaches gelbliches Licht auf den Dunst. Niemand war unterwegs.
Das Gerichtsgebäude lag am Rand des Dorfes und der Hintereingang war verschlossen, aber alt. Das Schloss gab nach einigen Minuten vorsichtigen Hebelns nach. Drin brach es nach Staub und Papier. Thomas bewegte sich durch die dunklen Gänge. Seine Taschenlampe war die einzige Lichtquelle. Er fand den Raum mit den Akten. Alte Metallregale, voll mit vergilbten Dokumenten.
Die Akten über vermisste Personen lagen unsortiert in Schachteln. Er begann zu suchen. Die Finger wurden kalt, die Luft trocken vom Papierstaub. Nach einer Stunde fand er, was er suchte, alte Grundbuchauszüge. Der Name Schäfer tauchte immer wieder auf. Seit 20 Jahren hatten die Schwestern Stück für Stück Land aufgekauft.
Zwölf Parzellen, immer bar bezahlt, immer mit unterschiedlichen Zwischenhändlern. Niemand hatte je gefragt, woher das Geld kam. Sie hatten sich einen Wall aus Wald und Einsamkeit gebaut. Dann stieß er auf eine Akte, die ihn erstarren ließ. Eine Beschwerde datiert auf das Jahr9, verfaen Prediger namens Ezekiel Meer.
In krakelig Schrift beschuldigte er die Schwestern der gotteslästerlichen Verführung und der Wiederhandlung gegen das Göttliche und menschliche Gesetz. Er schrieb: “Er habe Männer auf ihrem Hof gesehen, die wie Schlafwandler gearbeitet hätten. Bleich, stumm und von Angst erfüllt. Er habe den Gendarmen informiert, aber niemand habe ihm geglaubt.
” In den Randnotizen stand: “Meer, Trinker, dreimal betrunken, aufgegriffen, Anzeige verworfen. Thomas las die Zeilen mehrmals.” Die Worte flimmerten in seinem Kopf, während draußen der Wind durch die Fenster fuhr. Wie viele Warnungen waren überhört worden? Wie viele hätten leben können, wenn jemand hingesehen hätte.
Er legte die Akte zurück, löschte die Taschenlampe und saß einen Moment im Dunkeln. Das Gebäude knarrte, als würde es atmen. Erst im ersten grauen Licht des Morgens kehrte er in die Pension zurück. Frau Kaltenbach wartete auf ihn, die Lippen zu einem schmalen Strich gepreßt. “Sie sollten fortgehen”, sagte sie leise, “noch heute?” “Der Wald hält fest, was er bekommt.” Thomas antwortete nicht. Er wusste, er würde nicht gehen.
Jetzt nicht mehr. Zu viele Gesichter, zu viele Spuren, zu viel Schweigen. Er mußte zurück zum Hof. Er musste wissen, was in der Scheune war. Drei Nächte später machte Thomas sich erneut auf den Weg. Der Himmel war wolkenlos. Der Mond stand wie ein Matter Schild über den Bergen. Der Frost hatte die Wiesen mit einer silbrigen Kruste überzogen und jeder Schritt klang zu laut in der Stille.
Er trug keine Taschenlampe diesmal, nur eine kleine Laterne, deren Licht er mit einem Tuch dämpfte. Der Wald war still wie eine Kirche, kein Tier, kein Wind. nur das leise Knacken des gefrorenen Holzes. Er kannte nun den Weg. Jede Kurve, jede Wurzel, die aus dem Boden ragte, war ihm vertraut.
Als die Lichtung auftauchte, schlug sein Herz schneller. Der Hof lag still da, das Haus dunkel. Nur aus der Scheune kam ein schwacher Schimmer, ein rötliches, pulsierendes Licht, als würde drinnen ein Feuer flackern. Und wieder das Summen, dieses unheimliche, langsame, beinahe sakrale Singen. Es war als ob die Stimmen aus dem Boden selbst kämen. Thomas hielt den Atem an und lauschte.
Dann legte er die Laterne ab und ging zur Tür der Scheune. Das Holz war alt, die Balken schwer, aber das Schloss war neu, fest verschraubt, mit Eisenbändern verstärkt. Warum so viel Schutz für eine einfache Scheune? Er legte die Hand an das Holz, warm von innen.
Als er das Ohr anlegte, hörte er Schritte, ein Klirren von Metall, dann ein Laut, der ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Ein Stöhn, menschlich, dumpf, verzweifelt. Er wich zurück, das Herz raste. Ein Teil von ihm wollte davon laufen, doch der andere, der Journalist, der Wahrheitssucher, drängte ihn zu bleiben.
Der Gedanke an die Holzfigur, an Jakob Möing ließ ihm keine Ruhe. Die Tür des Wohnhauses öffnete sich plötzlich. Thomas erstarrte, eine Lampe leuchtete auf und eine Gestalt trat hinaus. Elisabeth Schäfer. Sie trug einen dicken Mantel, in der Hand eine Petroleumlampe. Das Licht schnitt durch die Dunkelheit und glitt über den Hof, über die Scheune, über den Schnee.
Thomas duckte sich hinter einen Stapel Brennholz. Die Frau blieb stehen, drehte sich langsam um, als spüre sie etwas. Dann ging sie weiter zur Scheune, schloss die Tür auf, trat ein. Einen Moment lang sah Thomas in das Innere. Schatten, Bewegung, etwas, das sich wandt. Dann fiel die Tür zu, das Summen verstummte.
Eine Ewigkeit lang rührte er sich nicht. Dann, als die Lampe im Haus wieder erlosch, wagte er es, sich zu bewegen. Er wußte jetzt, daß er zurückkehren mußte, mit Werkzeug, mit Mut, mit allem, was er hatte, nicht um einen Artikel zu schreiben, sondern um die Wahrheit ans Licht zu bringen, die dort drinnen gefangen war. Er ahnte noch nicht, dass die Wahrheit ihn verschlingen würde.
Am nächsten Abend, als das Dorf im Schlaf lag, kehrte Thomas zurück. Er trug diesmal eine kleine Brechstange, die er im Schuppen von Frau Kaltenbach gefunden hatte und einen Hammer, den er in Zeitungspapier gewickelt hatte, um das Geräusch zu dämpfen. Der Himmel war tief schwarz und dichter Nebel zog zwischen den Bäumen auf.
Es roch nach Erde und kaltem Metall. Die Scheune ragte vor ihm auf wie ein dunkler Tempel. Kein Licht, kein Laut, nur das ferne Bällen eines Hundes irgendwo im Tal. Thomas hielt inne, lauschte, dann setzte er das Eisen an das Schloss. Das Metall ächzte, das Holz stöhnte. Der Lärm schien ihm unerträglich laut, doch niemand kam.
Schließlich gab das Schloss nach. Er schob die Tür langsam auf. Der Geruch traf ihn wie ein Schlag. Verwesung, Schweiß, alte Feulnis, vermischt mit einem süßlichen Hauch von Kräutern. Sein Atem stockte. Die Luft war dick und warm, obwohl draußen Frost herrschte. Die Laterne flackerte, warf Schatten über die Wände und da sah er sie.
Reihen von Männern, angekettet an die Balken, bleich, abgemagert, mit leeren Augen. Manche bewegten sich, manche nicht. Einige murmelten etwas, eine Art Gebet oder Lied, das keinen Sinn ergab. Das Sum. Es kam von ihnen. Thomas trat näher, Schritt für Schritt. Einer der Männer hob den Kopf. Sein Gesicht war eingefallen, aber die Augen, die Augen lebten. “Sie sind nicht einer von ihnen”, flüsterte er mit heiserer Stimme. “Bitte helfen Sie uns.
” Thomas kniete sich neben ihn. “Wie lange sind Sie hier?” Der Mann schluckte schwer. Drei Monate, vielleicht vier. Ich war auf dem Weg nach Westen, wollte Arbeit suchen in den Minen bei Sabrücken. Sie gaben mir Tee. Danach nichts mehr. Er zeigte auf die anderen. Manche sind seit Jahren hier. Sie lassen uns arbeiten am Tag auf dem Feld. Nachts er stockte.
Nachts kommen sie mit Tränken, mit Gesängen. Sie sagen, sie schaffen ein reines Blut. eine neue Schöpfung. Wir sind nur Werkzeug. Thomas spürte, wie ihm die Hände zitterten. Er blickte in die Gesichter um sich. Menschen, keine Mythen, keine Geister. Männer, gebrochen, vergessen. Ich hole Hilfe, flüsterte er.
Ich bringe Sie hier raus. Wenn Sie einen von uns mitnehmen, sagte der Mann, Samuel, so nannte er sich, werden Sie es wissen. Dann töten Sie die anderen, gehen Sie, holen Sie die Gendarmerie, kommen Sie mit vielen Männern. Doch da öffnete sich plötzlich die Tür. Kaltes Mondlicht fiel in die Scheune.
In der Öffnung stand Elisabeth Schäfer, eine Silhouette aus Dunkelheit und Stahl. In der Hand hielt sie einen Holzknüppel, ihr Gesicht, reglos. Was haben wir denn hier?”, sagte sie leise. “Noch ein Freiwilliger für Gottes Werk.” Thomas richtete sich auf, die Brechstange in der Hand, das Herz im Hals. Worte, Pläne, Mut, alles wich einem dumpfen Instinkt überleben. Er hob die Stange. Elisabeth trat näher.
Ihr Schlag kam schnell, präzise. Er traf ihn an der Schläfe. Schmerz, Licht, dunkel. Der Boden kam näher. Stimmen, Schreie, Metall, dann nichts mehr. Als Thomas wieder zu sich kam, war es dunkel. Ein dumpfer Schmerz hämmerte in seinem Kopf und sein Mund schmeckte nach Eisen und bitteren Kräutern.
Seine Hände waren gefesselt, die Füße mit einer schweren Kette an einen Eisenring in der Wand geschlagen. Der Boden war feucht, kalt. Er brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, wo er war. die Scheune, aber diesmal als Gefangener. Neben ihm lag Samuel, schmal, erschöpft, aber wach. Sie leben, flüsterte er. Dann gibt es vielleicht noch Hoffnung. Thomas versuchte sich aufzurichten, doch sein Körper gehorchte kaum.
In der Ferne hörte er ein leises Murmeln, Stimmen, die etwas beteten, wieder und wieder, monoton und leer. Samuel folgte seinem Blick. Sie tun es jeden Abend, damit wir vergessen, wer wir sind. Er sprach leise, ohne den Kopf zu heben. Sie nennen es Reinigung. Ein Gebet, sagen sie. Ich nenne es Auslöschung. Thomas wollte etwas sagen, doch Schritte näherten sich. Die Tür öffnete sich, Licht fiel herein und Elisabeth trat ein. Hinter ihr Martha.
Diesmal trug sie ein weißes Kleid, das im Lampenschein glänzte. In ihren Händen hielt sie einen Holzteller mit Tonbechern. Der Geruch von Kräutern, süß und scharf zugleich, erfüllte die Luft. “Zeit für das Abendgebet”, sagte Martha sanft, beinahe freundlich. Ihre Stimme war die eines Kindes, das ein Lied vorsingt.
Sie ging von Mann zu Mann, reichte den Tee, murmelte Worte wie Segnung. Manche tranken ohne Widerstand, andere mussten gezwungen werden. Als sie zu Thomas kam, hielt sie inne. Ihr Blick war leer, doch ihr Lächeln zu weit, zu bewusst. “Trinken sie, Herr Abrat”, flüsterte sie. Er reinigt den Geist und wenn sie erst rein sind, werden sie verstehen. Thomas schüttelte den Kopf.
Ein Fehler. Elisabeth trat vor und der Schlag mit dem Knüppel traf ihn in die Rippen. Schmerz raubte ihm den Atem. Martha blieb ruhig, beobachtete ihn mit kühler Neugier. “Sie glauben, sie sind besser als wir”, sagte sie. Und die kindliche Stimme wich einem dunkleren Ton. Aber sie werden lernen, alle lernen.
Wir bauen hier das Paradies, einen neuen Garten. Jeder von euch ist ein Same und wir sind die Mütter. Sie ging weiter und Thomas sah in diesem Moment die Wahrheit. Martha war nicht die sanfte Schwester, das schwache Anhängsel. Sie war der Kopf, die Stimme, die Gläubige. Elisabeth war nur der Arm, der gehorchte. In dieser Nacht schlief Thomas nicht.
Er hörte das leise Schluchzen der Männer, das Rascheln der Ketten und er schwor sich zu überleben. Wenn nicht für sich, dann für all die, die schon verloren waren. Die Tage verloren jede Bedeutung. Zeit war in der Scheune nichts als ein Kreis aus Dunkelheit, Arbeit, Schmerz und Stille. Thomas wußte nicht mehr, ob draußen Schnee lag oder Sonne schien.
Die Luft roch ständig nach Schweiß, altem Stroh und Kräutern, die Mart in großen Bündeln trocknete und zu Pulver zerrieb. Morgens kam Elisabeth, löste die Ketten der Männer und sie mußten hinaus, die Felder bestellen, Holz hacken, Wasser holen. Überall war Nebel, dichter als Atem, als hätte der Wald selbst beschlossen, die Welt zu verbergen.
Die Männer sprachen kaum, manche sahen nur noch auf den Boden, murmelten Worte, die keinen Sinn ergaben. Andere waren stumm geworden, ihre Augen leer, wie ausgelöscht. Thomas beobachtete alles, suchte Muster. Er merkte, wann Martha kam, wann Elisabeth verschwand. Er merkte, dass die Schwestern Rituale hatten, feste Stunden, Gebete, Gesänge, Pausen. Sie lebten nach einer Ordnung, die so präzise war, dass sie fast maschinell wirkte.
Nach drei Wochen begann Thomas Namen zu sammeln. Er fragte leise, wenn niemand zuhörte. Der Mann, der immer an der Tür saß und kaum sprach, hieß Benjamin oder hatte einmal so geheißen. Ein anderer, schmächtig, mit grauen Augen, nannte sich sieben, weil er seine wirkliche Zahl vergessen hatte. “Ich war Lehrer”, sagte er einmal leise.
“In Mainz. Ich erinnere mich an Kreide, an den Geruch von Papier. Jetzt nichts mehr.” Seine Stimme brach. Samuel war der einzige, der wirklich wach blieb. Er sprach mit den anderen flüsterte Namen, Erinnerung, Orte. “Vergeßt nicht, wer ihr seid”, sagte er. “Das ist das, was Sie wollen, dass wir vergessen.

” Thomas hielt sich daran fest, wie an einem Anker. Jede Erinnerung war Widerstand. In der dritten Woche beobachtete er, wie Martha den Tee brachte. Ihre Bewegungen waren sanft, fast zärtlich. Sie streichelte den Männern über die Haare, nannte sie meine Kinder und ihre Augen glänzten dabei wie bei einer Mutter im Gebet. Doch wenn jemand sich weigerte, verwandelte sich dieses Gesicht.
Es wurde kalt, berechnend, unheimlich klug. Sie sprach dann von Auserwählung, von Pflicht, von Reinigung durch Opfer. Thomas sah den Wahnsinn in ihr, nicht den plötzlichen wilden Wahnsinn, sondern den ruhigen, überzeugt glühenden, die gefährlichste Art. In einer Nacht, als der Wind durch die Ritzen der Scheune pfiff und die Männer sich eng aneinander drückten, flüsterte Samuel: “Ich habe einen losen Balken gefunden. Wenn ich ihn mit der Kette löse, kann ich sie aus dem Boden brechen.
Wir brauchen nur Zeit und einen Sturm.” Thomas nickte. Sie würden warten auf den richtigen Moment, einen, den selbst Gott nicht bemerken konnte. Der Winter kam mit einer Härte, die selbst die Berge zu schweigen brachte. Schnee lag wie Stein über den Feldern. Das Wasser in den Eimern gefror zu trübem Glas.
Die Männer arbeiteten langsamer, ihre Gesichter eingefallen, ihre Bewegungen stumpf. Nur Martha schien davon unberührt. Sie summte, während sie das Feuer im Herd schürte, während sie Tee kochte, während sie in der Scheune stand und den Blick über die Gefangenen gleiten ließ, als seien sie ihre Ernte. Thomas zählte die Tage nicht mehr, nur die Nächte.
Nach jeder Nacht, in der Martha und Elisabeth in die Scheune kam, fehlte jemand. Kein Schrei, kein Kampf, nur Lehre am nächsten Morgen. Samuel wustte es auch. “Sie nehmen die Schwächsten zuerst”, flüsterte er. “Die, die schon vergessen haben, wie sie heißen, für ihre Rituale.” Thomas fragte nicht, was das bedeutete. Er wusste es längst. Eines Morgens hörte er Stimmen draußen.
Schritte, tiefer, schwerer, nicht die der Schwestern. Er schob sich an das Brettfenster, das nur einen Spalt offen war. Draußen stand ein Mann in Uniform, Gendarm Brot. Sein Atem stieg als Nebel auf, während er mit Elisabeth sprach. Thomas Herz hämmerte. Hilfe! Er wollte rufen, aber Samuel packte ihn. Tu es nicht.
Sie hören dich nicht. Durch den Spalt sah er Brott Lachen. Elisabeth gestikulierte, sprach schnell mit falscher Entrüstung. Der Reporter, ach, der kam betrunken hierher, hat geschrien, dass wir Hexen wären. Wir schickten ihn fort. Sicher ist er in den Bergen gestürzt. Brot nickte. Dann ist’s gut. Die Leute in Trieberg fragen. Sein Redakteur schreibt ans Amt: “Ich sag, der Mann sei weitergereist.” Wie alle Stadtleute.
Große Worte, kleine Vernunft. Thomas schrie. Er brüllte, bis Blut seine Kehle füllte. Doch kein Lautdrang hinaus. Die Wände waren dick, gedämmt, mit Stroh und Brettern. Samuel hielt ihn fest, seine Augen leer vor Trauer. “Sie wissen,” sagte er, “ße Sie wollen es wissen.
Solange der Friede bleibt, schweigt man.” Als Brot vortritt, war es, als hätte er die Tür zum letzten Funken Hoffnung zugeschlagen. Thomas saß da keuchend, seine Hände wund vom Eisen. In dieser Stille begriff er, warum manche Männer nichts mehr sagten, warum manche sangen, wenn Martha kam. Es war leichter zu glauben, als zu kämpfen. Doch in Samuel glomm immer noch etwas.
Wir warten auf den Sturm”, sagte er leise. “Er kommt. Ich kann es spüren.” Und als in jener Nacht die Wolken sich über den Bergen sammelten und der Wind an der Scheune riss, wusste Thomas, dass Samuel recht hatte. Der Sturm kam und er brachte Feuer. Der Sturm brach los, als hätte der Himmel selbst beschlossen, das Land zu reinigen.
Donner rollte über die Berge, Blitze zerschnitten den Himmel und der Regen fiel in schweren eisigen Strömen. Das Dach der Scheune ächtzte. Wind drang durch jede Ritze und die Ketten klirten wie Glocken eines düsteren Gottesdienstes. Samuel bewegte sich. Er hatte die ganze Woche über an dem losen Balken gearbeitet, unauffällig, geduldig, mit einer Ruhe, die nur aus Verzweiflung geboren werden konnte.
Jetzt war der Moment. Thomas half ihm, den morschen Boden zu lösen. Jeder Schlag, jeder Zug war ein Risiko, doch der Donner verschluckte den Lärm. Schließlich gab das Eisen nach. Das Kettenglied, das Samuel gefesselt hielt, sprang aus der Verankerung mit einem dumpfen Krachen. Er war frei, halb.
Die Kette hing noch an seinem Fuß, aber er konnte sich bewegen. Seine Augen brannten im flackernden Licht der Laterne, die von draußen durch den Wind wehte. “Ich setze das Heu in Brand”, flüsterte er. “Wenn Sie kommen, geh ins Haus. Der Schlüsselbund liegt neben Mart und ein Gewehr über dem Kamin. Thomas nickte. Sein Herz schlug so laut, dass er sicher war, man müsse es draußen hören.
Samuel schlicht zwischen den schlafenden Männern hindurch, sammelte trockene Halme, schob sie an die Wände. Dann mit zitternden Händen entzündete er ein Streichholz. Das Feuer frß sich gierig durch das Stroh. Erst klein, dann wachsend. Dann tobend. Der Rauch füllte die Luft dick und stechend. Ein Schrei halte durch die Nacht. Elisabeth riss die Tür auf.
Der Wind trug Funken hinaus in den Regen, der das Feuer nicht mehr ersticken konnte. “Was habt ihr getan?”, brüllte sie. In der Hand, das Beil, dass sie wie eine Fortsetzung ihres Arms hielt. Samuel stürzte sich auf sie mit einem Stück Kette als Waffe. Thomas nutzte den Moment, rannte hinaus in den peitschenden Regen.
Das Feuer hinter ihm loderte. Der Himmel glühte wie ein offener Riss in der Nacht. Er erreichte das Haus, stieß die Tür auf. Drin war es dunkel, warm, voll von dem beißenden Geruch der Kräuter, die in Bündeln von der Decke hing. Die Stille war trügerisch. Er stürzte zur Kommode neben dem Bett. Dort lag sie, die kleine Holzkiste. Er riß sie auf.
Schlüssel, Dutzende und Papier, Listen, Namen. Datt über Jahrzehnte. Jeder Mann verzeichnet, jede Tat beschrieben mit kühler, sachlicher Schrift. Gott hat uns erwählt. Die Saat ist rein. Thomas Hände zitterten. Er griff das Gewehr über dem Kamin. Lut es durch. Draußen gälte ein Schrei, dann Stille.
Als er zurück zur Scheune rannte, sah er den Flammen entgegen und in ihnen die Schatten der Männer, die sich bewegten, kämpften, befreiten. Und Elisabeth, die fiel, verschluckt vom Rauch. Martha stand am Rand der Flammen, ihr weißes Kleid brannte und sie lächelte. “Es ist vollbracht”, flüsterte sie, bevor sie stürzte. Das Feuer hatte den Himmel in eine glühende Wunde verwandelt.
Die Scheune stand lichterl, Flammen leckten an den Balken, Funken stoben in die Nacht. Der Schnee schmolz im Umkreis zu schwarzem Schlamm und der Regen zischte, als er auf die Glut traf. Thomas stolperte hinein, hielt das Gewehr fest umklammert. Der Rauch brannte in seinen Augen. Das Atmen war ein Kampf.
Überall lagen Körper, manche reglos, andere noch in Bewegung. Männer, die ihre Ketten zerrissen, Männer, die wankend versuchten, ins Freie zu gelangen. Ein Schrei schnitt durch das Tosen. Samuel. Thomas sah ihn am Boden, das Gesicht ruß verschmiert, die Hände blutig. Neben ihm lag Elisabeth, das Ball noch immer in ihrer Faust, doch ihr Brustkorb hob sich nicht mehr.
“Sie ist tot.” keuchte Samuel. Martha Thomas drehte sich. Martha stand auf der anderen Seite der Scheune, halb im Rauch, halb im Licht. Ihr Haar hing wirr. Ihr weißes Kleid war schwarz vor Asche, aber sie lebte. In ihren Augen loderte kein Schmerz, nur fanatische Ektase. “Ihr versteht es nicht”, rief sie. “Wir haben Neues geschaffen.
Reinheit. ihr zerstört, was Gott uns befahl zu bauen.” Sie hob die Arme, als wolle sie das Feuer umarmen und lachte. Ein Laut, der lauter war als der Sturm. Dann brach ein brennender Balken von der Decke und traf sie an der Schulter. Sie taumelte, schrie, viel zurück in die Flammen.
Für einen Moment sah Thomas, wie sie sich aufrichtete, die Hände gegen den Himmel gestreckt, ehe der Rauch sie verschlang. Die Männer flohen einer nach dem anderen in den Schnee, in die Dunkelheit, in die Freiheit. Thomas packte Samuel, zog ihn hinaus. Hinter ihnen stürzte die Scheune ein mit einem Krachen, das durch das Tal rollte. Der Wind trug Funken bis weit über die Baumwipfel.
Beide Männer fielen auf die Knie, keuchend, zitternd, halblind. Der Regen löschte die letzten Flammen. Der Rauch stieg wie ein grauer Schleier auf. Niemand sprach. Erst als die ersten Dämmerungsstreifen am Horizont erschienen, hörten sie Stimmen. Viele, durcheinander, laut. Laternen tauchten auf. Männer in Uniform, Dorfbewohner neugierig, verängstigt.
Jemand rief Thomas Namen. Ein Offizier. Herr Abenrad, sind Sie das? Er nickte, unfähig zu antworten. Im Dorf sagten sie, sie seien tot. Wir kamen, weil Rauch gesehen wurde. Was ist hier geschehen? Thomas sah auf die Asche, auf die Reste der Ketten, die noch im Boden glühten. Die Wahrheit, sagte er heiser.
Die Wahrheit ist endlich verbrannt. Der Morgen nach dem Brand war still. Kein Wind, kein Vogel, nur der schwache Geruch von Rauch, der über der Asche hing. Die Männer vom Gendarmerie Kommando durchkämten den Hof. Ihre Stimmen waren gedämpft, fast ehrfürchtig. Zwischen den verkohlten Balken fanden sie Reste von Eisenringen, verbrannte Kleidung, Knochen.
Einer der Beamten übergab Thomas eine Decke, doch ihm war nicht kalt. Er sah auf das, was von der Scheune geblieben war, und fühlte nichts. Keine Erleichterung, keinen Triumph, nur eine schwere Lehre, die sich wie Blei in seiner Brust ausbreitete. Samuel saß auf einem umgestürzten Karren, das Gesicht in den Händen, unfähig zu sprechen.
Als die Sonne stieg, kamen die Journalisten aus Freiburg, aus Karlsruhe, sogar aus Berlin. Sie stellten Fragen, drängten sich, wollten Details, Schlagzeilen. Wie lange haben Sie dort gelebt? Stimmt es, dass es über 30 Opfer waren? Was war das Motiv? Thomas antwortete kaum. Er schrieb später in seinem Bericht nur einen Satz: “Die Hölle braucht keinen Teufel, nur Schweigen.
” Die Ermittlung dauerten Wochen. Die Beamten fanden in Marthas Zimmer Bücher, keine Bibeln, sondern Aufzeichnungen. Darin stand alles. Listen von Männern, Beschreibungen der Rituale, Zeichnungen, die keiner deuten konnte. Am Rand einer Seite hatte sie geschrieben: “Der Leib ist das Gefäß. Der Wille, das Feuer. Wir reinigen, um neu zu sehen.
Die Schwestern Schäfer wurden postum zu Symbolen für Wahnsinn und Verderben erklärt. Man sprach vom Fall Schwarzwald, als sei es ein Sturm, kein Verbrechen. Thomas musste mehrmals aussagen. In einem kleinen Gerichtssaal in Freiburg saß er zwischen Aktenstapeln, die nach Schimmel und Tinte rochen und sprach über das, was er gesehen hatte, über die Männer, die Ketten, das Summen. Der Richter nickte, schrieb, fragte kaum.
In der Presse erschien bald der Artikel Die schweigende Ernte von St. Georgen. Thomas Bericht gedruckt auf der Titelseite. Er wurde über Nacht berühmt. In Berlin las man ihn beim Frühstück. In München diskutierten Professoren über den moralischen Verfall der Provinz. Doch für Thomas war es kein Sieg. Er blieb noch einige Wochen in Trieber.
Jeden Morgen ging er zum Hügel über dem verbrannten Hof. Das Land dort war schwarz, tot. Kein Gras wuchs, keine Kräuter, keine Geräusche. Und manchmal, wenn der Wind von Osten kam, glaubte er, eine leise Melodie zu hören, ein Summen, das von weit her kam, wie aus dem Boden selbst. Dann drehte er sich um und ging schneller, ohne zurückzublicken.
Samuel kehrte nach Hause zurück nach Rheinland Pfalz. Seine Schwester hatte ihn längst für Tod gehalten. Man sagte, er lebte fort an zurückgezogen, sprach nie wieder über die Schäfer Schwestern. Manche meinten, er sei an einem kalten Frühlingstag in den Wald gegangen und nie wiedergekehrt. Niemand suchte ihn lange. Thomas fuhr im Frühjahr nach Freiburg zurück.
Sein Redakteur umarmte ihn, klopfte ihm auf die Schulter, nannte ihn einen Helden des freien Wortes. Doch in Thomas Augen lag etwas, das kein Applaus berühren konnte. In seinem Zimmer über dem Schreibtisch hängte er ein Foto. Die verbrannte Scheune, aufgenommen am Morgen nach dem Feuer. Die geborstenen Balken ragten in den Himmel wie Finger eines ertrunkenen Tieres.
Daneben im Dreck sah man noch Reste von Ketten. Darunter schrieb er mit schwarzer Tinte: “Wahrheit ist nie frei. Jemand zahlt immer.” Die Monate vergingen, doch der Schwarzwald blieb in Thomas Gedanken wie ein Schatten, der sich nicht abwaschen ließ. Er schrieb weitere Artikel, Reportagen über soziale Missstände, über Armut, über Glauben und Macht.
Die Zeitung priesen ihn als Symbol des neuen mutigen Journalismus. Doch in den Nächten, wenn er allein in seiner Freiburger Wohnung saß, hörte er manchmal wieder das Summ. dumpf, entfernt, kaum wahrnehmbar wie ein Echo aus einer anderen Welt. Er begann Briefe von Fremden zu erhalten. Manche lobten ihn, andere beschimpften ihn.
Ein Pfarrer aus Konstanz schrieb: “Was Sie gesehen haben, war kein Wahnsinn, sondern Versuchung. Der Mensch fällt, wenn er vergisst, dass das Böse immer menschlich ist.” Ein anderer Brief ohne Absender enthielt nur einen Satz. Sie haben das Nest zerstört, aber die Saat bleibt. Thomas verbrannte den Zettel, doch die Worte brannten sich in ihn ein.
Eines Abends, im Herbst klopfte es an seiner Tür. Ein Mann stand davor, in abgetragener Kleidung, mit einem Gesicht, das von Krankheit und Hunger gezeichnet war. “Ich war einer von ihnen”, sagte er leise. “Sie nannten mich acht. Ich habe gehört sie leben. Ich wollte sehen, ob es wahr ist. Thomas ließ ihn herein, gab ihm Suppe, saß ihm gegenüber.
Der Mann aß schweigend, zitternd. Dann hob er den Kopf. Ich höre sie noch. In meinen Träumen. Sie singen. Und manchmal seine Stimme brach. Manchmal wache ich auf und singe mit. Thomas spürte, wie sich die Luft im Zimmer veränderte. Draußen begann es zu regnen. Leise, stetig.
“Sie sind frei”, sagte er, aber der Mann schüttelte den Kopf. “Nein, niemand ist frei, nicht wenn man’s gehört hat.” Er stand auf, blickte zum Fenster, wo die Tropfen in schmalen Linien hinabglitten. “Ich wollte Ihnen danken, aber vielleicht hätten sie uns lieber im Feuer lassen sollen.” Dann ging er. Thomas lief ihm nicht nach. Er schrieb in jener Nacht nichts.
Stattdessen saß er lange am Schreibtisch, das Gewehr neben sich, die Fotografie der Scheune im Blick. Der Rauch auf dem Bild schien sich zu bewegen, lebendig. Und irgendwo in seinem Inneren regte sich die Frage, ob wirklich alles verbrannt war oder ob im Boden jener Hügel etwas zurückgeblieben war, etwas, das auf einen neuen Frühling wartete.

Im Frühling darauf kam ein Brief von der Gendarmerie. Man hatte in den Ruinen des Schäferhofes gegraben, um die letzten Beweise zu sichern. Man fand Metallreste, Glas und in der Erde unter den Balken einen zweiten verborgenen Kellerraum. Die Männer dort unten sein anders gewesen. Sie lebten nicht, aber sie waren auch nicht tot.
Mehr stand nicht in dem Brief. Kein Name, keine Erklärung, nur das Siegel der Behörde und ein Tintenfleck, der sich über das Papier zog wie ein schwarzer Riss. Thomas legte den Brief unter das Foto auf seinem Schreibtisch. Zum ersten Mal seit Monaten griff er nach der Schreibmaschine und er begann zu schreiben langsam, mit zitternden Fingern. Vielleicht war das Feuer nicht das Ende.
Vielleicht war es nur der Atem zwischen zwei Gebeten. Mit jedem Tag, der verging, wurde Thomas stiller. Die Stadt rauschte um ihn herum, modern, laut, rastlos, Zeitungen, Züge, Stimmen. Doch in ihm blieb nur das Echo des Waldes. Freunde sagten: “E habe sich verändert. Seine Augen sehen Dinge, die niemand sonst sah.
Er lachte selten, sprach wenig. Die Redaktion schickte ihn auf neue Aufträge, aber er brachte keine Artikel mehr zurück. Seine Texte wurden kürzer, dichter, dunkler. Kein Pathos, keine Sensation, nur Beobachtung. Kälte, Wahrheit ohne Trost. Im Sommer 1902 reiste er noch einmal nach Süden, offiziell, um über den Wiederaufbau der Berggemeinden zu schreiben.
Inoffiziell, um dorthin zurückzukehren, wo es begonnen hatte. Der Zug hielt in Trieberg und der Wind roch noch immer nach Harz und feuchtem Holz. Viele der Dorfbewohner, die ihn damals gemieden hatten, waren verschwunden oder alt geworden. Der Gendarm Brot war im Gefängnis, verurteilt wegen Beihilfe durch Unterlassung. Niemand sprach über die Schäferschwestern.
Ihr Name war aus den Kirchenregistern gestrichen worden, als hätte es sie nie gegeben. Thomas ging zu Fuß den alten Pfad hinauf. Der Wald war gewachsen, dichter, dunkler. Der Boden war weich, mit Moos bedeckt. Die Lichtung war kaum wieder zu erkennen. Wo einst der Hof gestanden hatte, lag nun nur eine Klefläche Erde aus der junge Birkensprossen.
Der Wind wehte sanft, trug einen schwachen, süßlichen Geruch mit sich, den er sofort erkannte. Lavendel, vermischt mit etwas Bitterem. Er blieb lange stehen. Die Stille war vollkommen. Kein Vogel, kein Insekt, kein Laut, nur das Pochen seines Herzens. Er kniete sich nieder, berührte die Erde. Sie war warm, zu warm für den kühlen Morgen. Er zog die Hand zurück, sah die feine Spur von Rauch, die zwischen seinen Fingern aufstieg und im Wind verschwand.
Nicht verbrannt, flüsterte er, nur schlafend. In diesem Moment glaubte er, eine Stimme zu hören. Leise, klar, weiblich, nicht böse, nicht drohend, fast sanft. Wir sehen weiter. Thomas stolperte zurück. Das Herz raste, doch da war nichts, nur Wind, nur Bäume, nur Erde. Er ging rückwärts, den Blick nicht abwend.
Dann drehte er sich um und lief. Den ganzen Abstieg über hörte er das Summen oder glaubte es zu hören. Mal nah, mal fern, mal ganz still. Erst als er den Rand des Dorfes erreichte, verstummte es. In der Nacht blieb er im Gasthof wach, das Gesicht zum Fenster, den Himmel über den Bergen beobachtend. Kein Feuer, kein Licht, nur Dunkelheit.
Und trotzdem er wusste, der Hügel atmete langsam. geduldig wie etwas, das Zeit hat. Am nächsten Morgen fuhr er zurück nach Freiburg. Niemand wusste, daß es seine letzte Reise war. Zwei Wochen später fand ihn der Hausknecht in seiner Wohnung am Schreibtisch den Kopf auf die Schreibmaschine gesunken. Auf dem Papier stand nur ein Satz.
Das Lied hat keinen Anfang und kein Ende. Der Herbst zog über Freiburg, als Thomas Abenrad beerdigt wurde. Ein kleiner Friedhof am Rande der Stadt, ein kalter Wind, nur wenige Menschen. Der Chefredakteur, zwei Kollegen, ein Pfarrer, der kaum ein Wort über den Toten wusste. Der Himmel war grau, der Regen feiner Staub und das Geräusch der Erde auf dem Holz des Sages klang wie das Schließen eines Buches, das niemand zu Ende gelesen hatte. Niemand sprach von dem, was er gesehen hatte.
Niemand wagte, den Namen der Schäferschwestern zu nennen. Die Freiburger Zeitung brachte einen Nachruf. Ein furchtloser Sucher der Wahrheit, dessen Federlicht in das Dunkel trug. Doch im Archiv auf der obersten Etage, wo seine Manuskripte lagerten, fand man etwas, das nie veröffentlicht wurde.
Ein Heft in graues Leder gebunden, ohne Titel, darin lose Blätter, halbgeschriebene Notizen, Fragmente, Träume. Und auf der letzten Seite in seiner schmalen, müden Handschrift: “Es ist nicht das Böse, das uns zerstört. Es ist das Schweigen, das es nährt. Wenn niemand hinsieht, wachsen Wurzeln aus den Knochen. Nach seinem Tod erschien noch ein Artikel in einer Berliner Zeitschrift, anonym.
Der Verfasser behauptete, er sei Teil der Untersuchungskommission gewesen, die den Hof der Schäferschwestern nach dem Brand erneut untersucht hatte. Er beschrieb, was unter der Erde gefunden worden war. Ein zweiter Keller, tief ohne Treppe mit Mauern aus Stein und Boden, der noch warm war, darin Spuren von Ritualen, Kräutern, Blut und etwas, das man nicht zuordnen konnte.
Gebeine, die zu klein waren für erwachsene Männer. Die Zeitschrift wurde kurz darauf eingezogen. Der Artikel verschwand aus den Archiven. Die Einheimischen erzählten sich später, daß in den Jahren nach dem Brand kein Tier mehr an jenem Ort graste. Der Boden blieb schwarz, auch wenn ringsum wieder Gras wuchs.
Jäger berichteten, sie hätten in manchen Nächten von fern ein Singen gehört, als käme es aus der Erde selbst. Ein leises, gleichmäßiges Summen, das mit dem Wind kam und im Nebel wieder verschwand. Viele Jahre später, als das Dorf längst elektrisches Licht hatte und die Straßen asphaltiert waren, kam ein neuer Pfahrer.
Er ließ auf dem Hügel ein kleines Holzkreuz errichten, schlicht, ohne Inschrift. Nur drei Worte: Herr, vergib uns. Die Alten sagten: “Es war besser so. Man sollte die Dinge ruhen lassen, die tiefer als Wurzeln liegen. Doch manche Nächte, wenn der Wind aus dem Westen kam, glaubten sie etwas zu hören.
Ein Wispern, ein Hauch, kaum mehr als ein Gedanke. Wir sind noch da. Und unten im Archiv in einer staubigen Schublade lag das Foto, das Thomas Abrad einst über seinem Schreibtisch aufgehängt hatte. Die verbrannte Scheune, die Balken wie gebrochene Rippen, der Himmel darüber grau. in der Ecke des Bildes fast unsichtbar eine Bewegung, ein Schatten, der aussieht, als würde jemand stehen oder vielleicht zwei