Es war die Angst vor dem Erkennen. Er öffnete den Mund, um zu sprechen, doch es kam kein Ton. Er sah so viel an, als könnte sie ihm die Antwort verweigern, als würde er lieber im Dunkeln sterben, als zu wissen. Aber er wußte bereits, er verstand und das zerbrach ihn. Währenddessen fielen die Gäste einer nach dem anderen in Erschöpfung, manche bewusstlos, manche schluchzend, manche so benommen, dass sie nur noch im Kreis krochen.
Die Kerzen begannen wieder zu flackern, als ob etwas Unsichtbares durch den Raum schritt. Sophie bewegte sich nun langsam, Schritt für Schritt, nicht um zu fliehen oder um anzugreifen, sondern um zu sehen, um Zeugin zu sein. Der Saal, der solange ein Ort der Demütigung, der Erniedrigung, der Unterdrückung gewesen war, verwandelte sich vor ihren Augen. Die Pracht bröckelte, die Stimmen verstummten.
Der Wahnsinn ergoss sich über die Seelen jener, die ihn genährt hatten. Und Sophie spürte einen seltsamen gefährlichen Frieden. Nicht Freude, nie Freude, aber eine Gerechtigkeit, die so alt war wie die Wälder Hessens, so kalt wie ihre Winter, so unerbittlich wie der Boden, den sie seit Jahren geschruppt hatte.
Sie war keine Heilige, sie war kein Monster, sie war das Resultat, das unausweichliche Ende einer Rechnung, die viel zu lange offen gewesen war. Und die Nacht war noch lange nicht vorbei. Die Türen des großen Saals standen noch immer offen, doch niemand erreichte sie. Die wenigen Gäste, die sich in ihrer Panik dorthineschleppt hatten, fanden sich wie gelähmt wieder, als hätten unsichtbare Fäden ihre Körper festgehalten.
Jeder Versuch voranzukommen endete damit, dass sie zurückwichen, stürzten oder schreiend die Richtung wechselten. Es war, als würde das Haus selbst seine Mauern verschieben, als spiele es mit ihnen wie mit Spielzeugfiguren, die es jahrelang beobachtet hatte. Der Boden vibrierte erneut. Ein dumpfes Zittern, das in Wellen durch den Raum ging und den Gästen das Gefühl gab, sie stünden auf einem schwankenden Schiff.
Manche hielten sich an Stühlen fest, andere klammerten sich aneinander. Doch die Wände rückten nicht näher und auch nicht weiter weg. Es war nur die Welt in ihrem Inneren, die wankte. Sophie war der einzige Punkt, der vollkommen unverändert blieb. Ihre Füße standen fest auf dem mit Wein und blutgetränkten Teppich. Ihr Blick war ruhig. unerschütterlich und doch wachsam.
Sie beobachtete nicht nur die Menschen, sondern das Haus selbst, als könnte sie seine Atmung hören. Der Kamin im Saal, dessen Feuer seit Stunden brannte, knisterte plötzlich laut. Eine Flamme schoss höher, dann noch eine. Die Hitze breitete sich aus wie ein Zischen. Einige Gäste schrienen auf und wichen zurück, doch das Feuer berührte sie nicht.
Es war nicht gekommen, um zu zerstören. Es war gekommen, um zu zeigen. Die Flammen warfen Schatten an die Wand. Schatten, die sich zu bewegen begannen, nicht wie gewöhnliche Schatten, die flackern oder tanzen. Diese wuchsen formten Gestalten, die sich von der Wand lösten und wieder darin verschwanden. Silhouetten von Menschen, gebeugt, arbeitend, leidend, Silhouetten von Kindern, die schrien, Silhouetten einer Frau mit gesenktem Kopf, deren Körper gebogen war, von unsichtbarer Last. Manche der Gäste begannen zu wimmern, als erkennten sie in den Schatten die Ergebnisse ihrer
Taten, die Reflexionen ihrer eigenen Grausamkeit. “Nein”, flüsterte eine Frau mit zitternden Händen. “Das bin ich nicht.” “Das war ich nicht.” Doch die Schatten widersprachen nicht. Sie zeigten nur und die Wahrheit selbst genügte. Herr Friedrich, dessen Körper immer weiter zitterte, wurde durch die Schatten auf eine Weise getroffen, die man nicht sehen, nur spüren konnte.
Sein Gesicht verzerrte sich, als sehe er sein eigenes Leben vor sich, doch nicht die Momente, die er anderen gezeigt hatte, die Fassade, den Stolz, den Erfolg. Nein, er sah die Momente, die hinter verschlossenen Türen stattfanden, die Schläge, die er selbst austeilte, die Worte, die er brüllte, die Menschen, die er erniedrigte.
Und da war etwas, das er noch nie gesehen hatte, sein eigenes Spiegelbild im Schmerz der anderen. Er ließ ein Würgen hören und fiel wieder auf die Knie. Seine Finger groen sich in den Teppich, seine Augen weiteten sich und er zog scharf die Luft ein, als würde er ertrinken. Ich wollte das nicht. Ich Die Worte brachten nichts. Sie prallten ab, nutzlos wie Regen auf Stein.