Das Undenkbare: Die verfrühte Freigabe des Tatort-Areals
Der wohl gravierendste Fehler in der Chronologie der Ermittlungen ist jedoch die verfrühte Freigabe des Fundortes in Klein Upal. Die Leiche Fabians wurde am 14. Oktober gefunden. Nur einen Tag später, am 15. Oktober, wurde das weitläufige Waldgebiet rund um den Tümpel wieder für die Öffentlichkeit freigegeben.
Dies ist bei einem Kapitalverbrechen, insbesondere einem Tötungsdelikt an einem Kind, ein nahezu unverzeihlicher Fehler. Ein Tat- oder Fundort in unwegsamem Gelände muss für mehrere Tage, oft wochenlang, hermetisch abgeriegelt und systematisch durchkämmt werden.
Die Dimension der verlorenen Spuren:
Als das Areal freigegeben wurde, betraten laut Berichten zahlreiche Menschen das Gelände: Schaulustige, Journalisten, Anwohner. Sie traten über mögliche Reifenspuren, hinterließen ihre eigenen DNA-Spuren und vernichteten unwissentlich entscheidende forensische Beweise. Erst am 16. Oktober erkannte die Polizei offenbar den Irrtum und sperrte das Gelände erneut ab – zu spät.
Welche kritischen Spuren könnten in diesem 24-Stunden-Fenster der Kontamination unwiederbringlich verloren gegangen sein?
-
Fuß- und Reifenspuren: Abdrücke des Täters oder seines Fahrzeugs, die Aufschluss über Schuhgröße, Gewicht oder den Fahrzeugtyp hätten geben können, wurden durch die Schritte und Fahrzeuge von Dutzenden Unbeteiligten überlagert oder zerstört.
-
DNA und Fasern: Am Fundort hinterlässt der Täter Hautzellen, Schweiß oder Fasern seiner Kleidung. Der Wind, der Regen und vor allem die vielen fremden Berührungen haben diese Spuren kontaminiert. Es wird unmöglich, die relevante Täter-DNA von der irrelevanten DNA der Besucher zu trennen.
-
Spuren von Brandbeschleunigern: Da ein Versuch unternommen wurde, die Leiche zu verbrennen, gab es höchstwahrscheinlich Rückstände von Brandbeschleunigern am Boden oder an umliegenden Objekten. Diese Spuren sind extrem flüchtig und werden durch Regen oder das Begehen des Geländes schnell vernichtet oder bis zur Unnachweisbarkeit verdünnt.
Das erneute Absuchen des Geländes nach der Wiedereröffnung kann niemals die forensische Reinheit der ersten 24 Stunden wiederherstellen. Die Kritik von Experten ist entsprechend heftig: Diese Vergehen zeigen Mängel in der Ausbildung, im Protokoll oder in der Ressourcenplanung, die bei einem Fall dieser Tragweite nicht tolerierbar sind. Die Ermittler haben der Verteidigung damit ein perfektes Argument für die Unzuverlässigkeit der gesicherten Umfeld-Beweise geliefert.
Die Tatverdächtige und der Triumph des Schweigens
Mitten in diesem Chaos sitzt die Tatverdächtige Gina H. in Untersuchungshaft. Die Ex-Freundin von Fabians Vater schweigt zu den Vorwürfen – ein Recht, das ihr ihr Verteidiger Andreas Om geraten haben dürfte.
Das Schweigen der Verdächtigen ist eine gängige Strategie, die nun durch die Fehler der Polizei massiv gestärkt wird. Die Verteidigung muss nicht die Unschuld von Gina H. beweisen; sie muss lediglich vernünftige Zweifel an ihrer Schuld säen.
Die Ermittlungsfehler der Polizei liefern hierfür die Munition:
-
Argument der Kontamination: Die Verteidigung kann argumentieren, dass alle Umfeld-Spuren (DNA, Fasern, etc.), die nach dem 15. Oktober gefunden wurden, durch Dritte kontaminiert sein könnten.
-
Argument des Irrtums: Der angekohlte Handschuh wird als reine Verwirrung oder unverwertbarer Beweis dargestellt.
-
Argument der Unvollständigkeit: Das Fehlen der Tatwaffe (wie Oberstaatsanwalt Novak bestätigte) und die verlorenen Spuren am Fundort machen eine lückenlose Rekonstruktion der Tat unmöglich.
Die Staatsanwaltschaft sieht sich nun gezwungen, ihren Fall fast ausschließlich auf unbestreitbare Beweise – wie eindeutige DNA-Spuren direkt auf dem Opfer oder unanfechtbare digitale Daten – zu stützen. Die gesamte * circumstantial evidence* (Beweise aus dem Umfeld), die in solchen Fällen oft entscheidend ist, ist nun massiv angreifbar.
Im Angesicht der Gerechtigkeit: Was nun auf dem Spiel steht
Der Fall Fabian ist nicht nur eines der dunkelsten und rätselhaftesten Verbrechen der jüngeren Geschichte in Mecklenburg-Vorpommern, er ist auch zu einer Probe aufs Exempel für das deutsche Justizsystem geworden. Die Kritik an den Ermittlern ist so heftig, weil die Fehler nicht nur ein technisches Versagen darstellen, sondern das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Fähigkeit der Behörden, einen komplexen Mordfall professionell zu lösen, zutiefst erschüttern.
Für Fabians Familie, die ohnehin unter unvorstellbarer Trauer leidet, bedeutet dies eine zusätzliche, quälende Ungewissheit. Sie müssen nun befürchten, dass die Gerechtigkeit für ihren Sohn nicht an mangelnden Hinweisen, sondern an schwerwiegenden Verfahrensfehlern scheitern könnte.
Die Staatsanwaltschaft steht nun vor der Mammutaufgabe, trotz dieser Pannen einen Anklagepunkt zu konstruieren, der vor Gericht Bestand hat. Dies erfordert höchste Präzision in der weiteren Beweisanalyse und eine unmissverständliche Darstellung der verbleibenden Fakten.
Am Ende des Tages schuldet die Gesellschaft dem achtjährigen Fabian und seiner Familie nicht nur Antworten, sondern eine professionelle und fehlerfreie Ermittlung. Die nun eingeräumten Versäumnisse sind ein klarer Aufruf an die politischen und polizeilichen Verantwortlichen: Es müssen Ressourcen und Protokolle geschaffen werden, die sicherstellen, dass bei Taten dieser Grausamkeit die Jagd nach der Wahrheit nicht durch schlichte Unachtsamkeit oder Hektik im Keim erstickt wird.