Die Pathologische Bindung: Besuche ohne Ankündigung
Das Muster der Grenzüberschreitung eskalierte. Dorina L. enthüllte, dass Gina H. in den Wochen vor der Tat mehrfach unangemeldet bei ihr vor der Haustür auftauchte. Zunächst schien es der Mutter verständlich: Gina H. vermisste Fabian, der Teil ihrer Alltagsroutine war.
Doch die Besuche wurden häufiger, unangekündigter, zu ungewöhnlichen Uhrzeiten. Die Mutter empfand dies zunehmend als seltsam und grenzüberschreitend, aber sie wollte keinen Konflikt heraufbeschwören. Was, wenn es genau umgekehrt war? Was, wenn Gina H. nicht loslassen konnte und in eine gefährliche Fixierung auf Fabian hineingerutscht war?
Psychologen sprechen hier von einer pathologischen Bindung, bei der eine Beziehung zur Obsession wird. In solchen Fällen wird das Kind zum Ersatzobjekt. Es repräsentiert nicht sich selbst, sondern etwas anderes: die verlorene Beziehung, die Familie, die man sich gewünscht hatte. Wenn diese Projektion zusammenbricht, kann dies zu einer explosiven und destruktiven Reaktion führen. Die unangekündigten Besuche waren demnach wahrscheinlich keine harmlosen Abschiedsversuche, sondern Ausdruck eines wachsenden Kontrollverlusts.
Der Ultimative Durchbruch: Das Sieben-Minuten-Gespräch
Das wohl brisanteste neue Detail betrifft den Morgen des 10. Oktober, den Tag von Fabians Verschwinden.
Dorina L. sagte aus, dass Fabian an diesem Morgen ein Telefonat in seinem Zimmer führte – leise, fast flüsternd. Als sie nachfragte, sagte Fabian, er habe mit einem Schulfreund gesprochen. Die Mutter hakte nicht weiter nach.
Jetzt haben die Ermittler die Telefondaten ausgewertet. Das schockierende Ergebnis:
Dieses Telefonat war nicht mit einem Schulfreund – es war mit Gina H.
Das Gespräch dauerte etwa sieben Minuten. Sieben Minuten, die nicht für ein kurzes „Wie geht’s?“ benötigt werden. Das ist ein Gespräch, in dem etwas vereinbart wurde.
Diese Information legt den Schluss nahe, dass es sich nicht um eine spontane Tat handelte:
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Woher wusste Gina H. von Fabians Zustand? Sie wusste, dass Fabian krank zu Hause war und nicht in der Schule. Hatte sie die Familie systematisch beobachtet und die Routine gekannt?
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Die Vereinbarung: Es ist wahrscheinlich, dass Gina H. Fabian im Gespräch gebeten hat, zu ihr zu kommen. Sie könnte ihm einen Vorwand genannt haben – vielleicht eine „Überraschung“, die ein „Geheimnis“ bleiben sollte.
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Der Missbrauch des Vertrauens: Fabian hatte keinen Grund, misstrauisch zu sein. Er vertraute ihr, seine Eltern hatten ihr vertraut. Die Gefahr kam nicht vom Fremden auf der Straße, sondern von der vertrauten Bezugsperson.
Das flüsternde Telefonat und die daraufhin folgende Tat deuten auf Vorsatz und Berechnung hin. Der Verdacht, dass Gina H. auf die Gelegenheit gewartet hat – den Tag, an dem Fabian krank und möglicherweise unbeaufsichtigt war –, wird durch dieses Telefonat zur Gewissheit.
Die Maskerade der Anteilnahme: Grausame Täuschung
Das Ausmaß der Perfidie wird noch klarer, wenn man Gina H.s Verhalten nach Fabians Verschwinden betrachtet. Während der vier Tage, in denen Dorina L. hoffte und betete, meldete sich Gina H. bei der Mutter, zeigte Anteilnahme und bot Hilfe bei der Suche an. Die Mutter empfand dies damals als tröstlich.
Wenn Gina H. jedoch die Täterin ist, war dies eine eiskalte Maskerade, eine Täuschung, eine perfide Manipulation. Sie schaute der trauernden Mutter in die Augen und log.
Der Gipfel des Grauens folgte am 14. Oktober, als Gina H. anrief und die tote Auffindung Fabians meldete. Die Mutter brach zusammen. Doch Gina H. schilderte den Fund mit Weinen und Schluchzen. In diesem Moment der höchsten Verzweiflung, in dem ihre Welt zerbrach, tröstete die Mutter des Ermordeten die mutmaßliche Mörderin und bedankte sich bei ihr für den Fund.
Die Mutter kämpft heute mit massiven psychologischen Folgen. Sie muss mit dem Gedanken leben, die mutmaßliche Mörderin ihres Sohnes getröstet zu haben. Die Gefahr war für sie nicht zu sehen; sie ging davon aus, dass Menschen, die sie kannte, keine Monster waren. Gina H. konnte ihre Fassade der Normalität und Fürsorglichkeit perfekt aufrechterhalten.