
“Wir sind falsch abgebogen”, sagte Tobias. Doch niemand erinnerte sich abgebogen zu sein. Die Kompasse zeigten alle verschiedene Richtungen. Dann hörten sie Kinderstimmen. Nicht nah, nicht fern, irgendwo dazwischen. Worte, die sich wiederholten, flüsternd, singend: “Rein, rein, rein.” Saga begann zu weinen. Nina rief laut, dass sie aufhören sollten, doch die Stimmen antworteten mit lachen, hell und leer.
Lukas zog sie alle zusammen. Wir bleiben ruhig. Wir warten, bis der Nebel sich legt. Doch der Nebel legte sich nicht. Die Stunden vergingen und das Licht wurde immer grauer. Ihre Lampen flackerten, dann fielen sie aus. Tobias sagte, er habe etwas gesehen. Kinder, drei oder vier, nackt, bleich, mit schwarzen Augen.
Niemand glaubte ihm, bis sie die Geräusche hörten. Schritte ganz nah, aber ohne Richtung. Sie liefen. Am nächsten Morgen fand ein Förster Holger Stein am Waldrand Ninas Rucksack ausgeweidet, als hätte jemand sorgfältig alle Taschen geöffnet und den Inhalt nebeneinander gelegt. Kamera, Notizbuch, Thermosflasche. Die Kamera enthielt 38 Fotos.
Die letzten drei jedoch waren nur verschwommene graue Flächen. Die Tonaufnahmen endeten mit Ninas Stimme, die flüsterte. Sie kommen, sie beten. Sie danach Stille. Die Polizei suchte eine Woche lang, fand keine Spur, keine Fußabdrücke, keine Kleidungsreste, keine Körper.
Nur am dritten Tag entdeckten sie an einer Baumwurzel ein altes Stück Holz, ein Kreuz schwarz verkohlt, in das mit zittriger Hand das Wort Schäfer geritzt war. Der Fall wurde nie aufgeklärt. In den Akten steht: “Vier vermisste Personen, Succhaaktion ohne Ergebnis, Vermutung, Unfall, Orientierungslosigkeit, Unterkühlung.
Doch Förster Stein, der die Reste gefunden hatte, erzählte Jahre später, kurz vor seinem Tod Geschichte. In einem Interview sagte er: “Ich war oft dort, aber seit jenem Tag gehe ich nicht mehr. Ich schwöre, der Wald atmet. Wenn man still steht, hört man, wie er dich anzieht. Und manchmal, wenn der Wind richtig steht, hört man Kinder lachen, aber nicht wie Kinder lachen sollten.
Der Fall der vier verschwundenen Studenten von Jena hätte eigentlich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich ziehen müssen, doch er versandete im Laufe der Jahre. Die Familien bekamen keine Antworten, nur standardisierte Briefe, in denen von ungünstigen Witterungsverhältnissen und möglicher Orientierungslosigkeit die Rede war.
Das eiserne Tal wurde erneut gesperrt, diesmal mit Warnschildern aus Metall, betreten, verboten, Lebensgefahr. Niemand aus der Forstverwaltung übernahm gern die Verantwortung für diese Zone. Sie wurde zu einem weißen Fleck auf der Karte, einer Stelle, die selbst Satellitenbilder mieden, als ob die Erde dort keinen Schatten mehr werfen wollte.
In den folgenden Jahren erfassten nur wenige den Mut oder die Torheit, den Ort zu betreten. Doch im Herbst, mehr als ein Jahrhundert nach der ursprünglichen Tragödie kehrte jemand dorthin zurück, der eine Verbindung zur Vergangenheit hatte. Sie hieß Klara Weiß, war Historikerin und Nachfahrerin eines der Polizisten, die mit Kommissar Heinrich Schwarz ins Tal gegangen waren.
In den Familienerzählungen hieß es: “Ihr Urgroßvater sei nach dem Einsatz nie wieder derselbe gewesen. Er habe nachts geschrien, die Bibel verbrannt und den eigenen Hund erschossen, weil er behauptete, das Tier flüstere ihm.” Klara wollte wissen, was er damals gesehen hatte.
Sie arbeitete an einer Dissertation über religiösen Fanatismus im isolierten ländlichen Raum und hatte in den Archiven von Weimar die alten Schäferakten gefunden. Die Berichte von Schwarz, Fink und den Gerichtszeugen waren vollständig erhalten. Doch zwischen den Seiten lag ein einzelnes Blatt, vergilbt, unnummeriert. Darauf stand mit krakelig Schrift: “Das Tal schläft nicht.” Niemand hatte es je katalogisiert. Clara war fasziniert.
Sie beschloss, den Ort selbst zu sehen. Am 9. Oktober fuhr sie nach Ilmenau, mietete ein kleines Gästezimmer und besorgte sich alte Karten aus der Vorkriegszeit. Zwei Tage später machte sie sich mit einer Kamera, einem Tonrekorder und einem Notizbuch auf den Weg. In ihrem Tagebuch, das später gefunden wurde, schrieb sie: “Ich habe keine Angst.