Falk sah sich das Bild lange an und sagte dann nur: “Nicht alles, was brennt, ist Feuer.” Im Frühjahr 2019 organisierte Falk eine kleine Gruppe von Gläubigen, die das Tal segnen wollten. Er war überzeugt, dass dort etwas Unreines gebunden war. Am Abend des 14. April machten sie sich auf den Weg. Vier Männer, zwei Frauen, eine Laterne und eine Bibel. Niemand sah sie wieder.
Am nächsten Tag fand man am Waldrand die Laterne, noch warm, das Glas gesprungen. Darin klebte eine dünne Schicht schwarzer Asche. Auf dem Boden lag die Bibel, geöffnet beim Buch Jesaja, Kapitel 22, Vers 14. Und der Herr der Herrschaffenbart: Wahrlich, diese Schuld soll euch nicht vergeben werden, bis ihr sterbt.
Nach diesem Ereignis wurde das Tal endgültig zur Sperrzone erklärt. Es wurde ein Metallzaun errichtet, 2 m hoch, mit Warnschildern, betreten strengstens untersagt, Eigentum des Landes Thüringen. Doch das hielt die Neugierigen nicht ab. Im Internet kursierten Videos von sogenannten Urban Explorern, die versuchten, die Absperrung zu überwinden.
Einige von ihnen erreichten den Eingang, filmten die Felsen, die in der Abendsonne rot glühten, erzählten von einem Druck auf der Brust, der zunahm, je weiter sie ging. Einer, ein junger Mann mit dem Spitznamen Wech, veröffentlichte sein Video unter dem Titel Eisental, das verbotene Tal. Man sah ihn lachen, fluchen, schließlich flüstern. Es ist so still, dass ich mein Blut höre.
Das Video endet abrupt, die Kamera fällt um, man hört Schritte, viele kleine Schritte und eine Stimme, die flüstert, bleib. Danach Schwarzbild. Der Kanal wurde drei Tage später gelöscht. das Originalvideo nie wiedergefunden. Manche sagten, es sei entfernt worden. Andere behaupteten, der Server habe selbst überschrieben.
Doch in den Wochen danach begannen seltsame Dinge. Nutzer berichteten, dass sich das Video von selbst wieder öffnete, nachts, obwohl sie es gelöscht hatten. Immer nur ein paar Sekunden. Die letzten Worte: “Bleib.” Einer schrieb in einem Forum: “Ich habe es dreimal gesehen.” Dann zog ich den Stecker vom Computer. Trotzdem flüsterte es weiter.
Die Administratoren hielten es für einen Scherz, löschten den Thread. Aber das Wort bleib tauchte weiter auf in Kommentaren, in Nachrichten, auf Bildschirm. Immer dasselbe. Keine Quelle, kein Autor, nur das Echo eines Ortes, der nicht vergessen werden wollte. Im Sommer 2020 erreichte das eiserne Tal zum ersten Mal die nationale Presse. Eine Reporterin der Frankfurter Allgemein Lea Dorn recherchierte für eine Artikelreihe über vergessene Orte und ihre Mythen.
Als sie vom Eisental hörte, glaubte sie zunächst, es handle sich um einen typischen Fall von moderner Legendenbildung, Internetgerüchte, urbane Mythen, vermischt mit ein wenig Lokalvolklor. Doch je mehr sie las, desto weniger passte das Muster. Zu viele vermissten Fälle, zu viele offizielle Sperrungen und immer dieselben Wörter in den alten Berichten.
Stille, Wärme, Kinderstimmen, Licht. Lea war rational. Sie glaubte an Dokumente, nicht an Dämonen. Sie verbrachte Wochen damit, Archive zu durchforsten und stieß schließlich auf die originalen Schäferakten, die über 100 Jahre alt waren. Die Schriftstücke von Kommissar Heinrich Schwarz, Dr. Fink, die Prozessprotokolle, selbst die Fotografien der verkohlten Fundamente.

Sie las bis spät in die Nacht. In ihren Notizen schrieb sie: “Wenn man die Zeilen liest, hört man sie fast. Diese Ruhe zwischen den Wörtern, die kein Zufall ist. Am 5. August fuhr sie selbst nach Ilmenau. Sie übernachtete im selben Gasthof, in dem eins der Förster Brechtel gewohnt hatte, der Elisabeth Schäfer gefunden hatte.
“Die Wirtin, eine Frau Mitte 60”, warnte sie. Gehen Sie da nicht hin, Fräulein. Das Tal ist kein Ort. Es ist ein Hunger. Lea lächelte höflich, ignorierte es und machte sich am nächsten Morgen auf den Weg. Sie fuhr bis zur Absperrung, parkte das Auto und ging zu Fuß weiter. Der Himmel war klar, das Licht grell.
Doch als sie die Felsen erreichte, änderte sich die Temperatur. Es war als drehte man in Wasser. Ihre Aufnahmegeräte funktionierten einwandfrei, bis sie die Schwelle überquerte. Dann fiel alles aus. Kein Signal, kein Ton. Sie machte Notizen per Hand. Die Stille hier ist nicht leer. Sie hat Gewicht. Sie beschrieb die Ruinen, machte Skizzen, vermerkte, dass das Moos ungewöhnlich feucht war, obwohl es seit Wochen nicht geregnet hatte. Dann fand sie etwas im Boden.