Eine Münze, alt, schwarz, kaum erkennbar. Als sie den Dreck abwischte, sah sie das eingeprägte Wort: “Reinheit!” Sie steckte sie ein. Die letzte Eintragung in ihrem Notizbuch lautete: “Ich höre Kinder. Sie singen wieder. Ich glaube, sie sind unter mir.” Leadorn kehrte nie zurück. Zwei Tage später fand ein Wanderer ihr Auto. Die Schlüssel steckten, der Motor war kalt.
Auf dem Beifahrersitz lag ein Notizbuch mit einem nassen Umschlag darin. Auf dem Umschlag stand in ihrer Handschrift: “Nicht öffnen.” Natürlich öffnete man ihn. Innen befanden sich drei Fotografien: Unscharf, grau. Auf der ersten ein Stück Wald, völlig normal. Auf der zweiten dieselbe Stelle, doch zwischen den Bäumen standen Gestalten, klein, kindlich, verschwommen, auf der dritten dieselbe Perspektive, aber nun war die Kamera am Boden und mitten im Bild lag etwas Schwarzes, längliches, ein verkohltes Kreuz. Die Polizei nahm die Fotos als Beweisstücke, doch die Negative verschwanden kurz darauf aus
dem Archiv. Offiziell hieß es, sie sein durch Feuchtigkeit unbrauchbar geworden. Noch im selben Jahr wurde das eiserne Tal endgültig von der Öffentlichkeit abgeschottet. Die Landesregierung erklärte das Gebiet zur ökologischen Sperrfläche. Der Zugang wurde mit Kameras überwacht, Zäune verstärkt, alle Wege auf Karten gelöscht.
Doch in den Nächten, wenn der Wind aus dem Süden kam, hörten Bewohner der umliegenden Dörfer manchmal Gesang. Kein Hall. Kein Echo, nur Stimmen, hoch, hell, kindlich, die etwas wiederholten, das niemand verstand. Ein Förster, der in jener Zeit dort arbeitete, sagte später anonym: “Ich war auf der Anhöhe über dem Tal. Es war Vollmond.
Ich sah Rauch aufsteigen, nicht wie Feuerrauch, heller, fast weiß. Er kam aus der Erde, als würde sie atmen. Im Herbst desselben Jahres tauchte im Internet ein kurzer Clip auf. Er zeigte das Tal bei Dämmerung, gefilmt aus der Ferne. Kein Ton, nur Wind. Doch als man das Video verlangsamte, sah man im Schatten der Felsen etwas, das sich bewegte.
Kein Mensch, kein Tier, etwas, das sich aufrichtete, als wüsste es, dass man es ansah. Dann Standbild Ende. Der Account, der das Video hochgeladen hatte, wurde wenige Stunden später gelöscht. In einem anonymen Forum schrieb jemand danach: “Sie sind nicht tot. Sie schlafen nicht. Sie warten, bis jemand sie wieder beim Namen nennt.” Im Frühjahr 2023 begann es wieder.
In den umliegenden Dörfern verschwanden Tiere. Zuerst Hühner, dann Ziegen, schließlich ein Hund. Niemand wollte es offenprechen, aber nachts hörten die Menschen im Tal etwas, das wie Gesang klang. Fern, kindlich, fast feierlich. Im Nebel sah man Lichter tanzen, als zögen Kinder mit Laternen durch den Wald.
Manche sagten, es seien Wanderer oder Touristen, doch niemand kam oder ging in dieser Zeit. Im Mai entdeckte ein Landwirt aus Neustadt am Rennsteig am Rand seines Feldes Spuren. Kleine nackte Fußabdrücke im Schlamm. Er dachte an Kinder aus dem Dorf, doch sie führten nicht zum Ort, sondern von ihm fort, aus der Richtung des gesperrten Waldes.
In der darauffolgenden Nacht hörte seine Frau, wie jemand vor dem Fenster stand und leise klopfte. Als sie hinausging, war da niemand, nur das Gras platt getreten in der Form kleiner Füße. Die Geschichten verbreiteten sich. Alte nannten es den Atem des Tals. Jüngere lachten, doch sie lachten leise. Niemand ging mehr nach Einbruch der Dunkelheit hinaus. Am 12.
Juni betrat ein Team des Forstamtes das Gebiet offiziell, um die Umzäunung zu kontrollieren. Einer der Männer, Erik Mann, ein erfahrener Ranger, berichtete später in seinem Tagebuch: “Das Tal ist anders. Es riecht nach Regen, obwohl der Himmel klar ist. Die Erde ist warm, als würde darunter etwas leben.
” Ich hörte etwas, das wie Kinderstimmen klang, aber zu tief, zu langsam. Ich glaube, sie sagten meinen Namen. Erik Mann wurde zwei Tage später tot aufgefunden, fünf Kilometer vom Tal entfernt in einem Bachbett. Kein Zeichen von Gewalt, keine Spuren, nur seine Stiefel fehlten.
Nach seinem Tod erhielt die Landesregierung mehrere anonyme Schreiben. Eines davon bestand aus alten Zeitungsausschnitten über den Schäferprozess von 1919 sorgfältig ausgeschnitten, mit roter Tinte umrahmt. Auf der Rückseite stand in kindlicher Schrift: “Wir sind noch rein.” Die Behörden reagierten mit Schweigen. Der Zugang zum Gebiet wurde vollständig blockiert, sogar für Forstarbeiter.