Zeuge meldet sich erneut – Geheime Tatwaffe zwingt Staatsanwaltschaft zu neuer Bewertung
Güstro. Die Kälte hat sich in die kleine Stadt Güstro gefressen. Doch kälter als die Novemberluft ist die Ungewissheit, die seit dem Fund des achtjährigen Fabian über den Ermittlungen liegt. Seit der Festnahme von Gina H. vor einigen Wochen schien der Fall einen klaren Rahmen zu haben. Doch die Fassade bröckelt. Hinter den Kulissen der Staatsanwaltschaft und des Ermittlerteams beginnt sich ein beunruhigender Gedanke zu verfestigen: Die Wahrheit ist komplizierter als ein Einzeltäter-Szenario. Neue Zeugenaussagen, ein lange unterschätztes Fundstück und die eisige Stille der Hauptverdächtigen zwingen Oberstaatsanwalt Harald Novak zu einer Neubewertung, die das gesamte Verfahren auf den Kopf stellen könnte. Die „geheime Tatwaffe“ ist dabei nur ein taktisch abgeschirmter Teil eines viel größeren Puzzles.

Die Mauer des Schweigens und der Berg der Hinweise
Die anfängliche Hoffnung, mit der Festnahme von Gina H. Ruhe in den Fall zu bringen, hat sich zerschlagen. Im Gegenteil: Die Ermittlungen haben eine neue, fieberhafte Schärfe erreicht. Ein wesentlicher Katalysator dafür war die Ausstrahlung der Sendung Aktenzeichen XY, die Ende Oktober eine Flut von Hinweisen auslöste. Was anfangs wie eine große, aber überschaubare Sammlung wirkte, ist inzwischen zu einem regelrechten Berg an Meldungen angewachsen, der akribisch abgearbeitet werden muss.
Viele Meldungen verpuffen schnell. Doch andere zwingen die Ermittler dazu, Abläufe neu zu sortieren und bestehende Annahmen zu hinterfragen. Es ist ein mühsamer Prozess, bei dem das Team um Novak permanent zwischen Vorsicht und offensiver Prüfung pendelt. Die Bandbreite der Meldungen ist enorm: Von simplen Momentaufnahmen bis hin zu präzisen Angaben über Fahrzeuge oder ungewöhnliche Bewegungen in der Umgebung des Fundorts. Die Kunst der Ermittlungsarbeit besteht darin, all diese Puzzleteile einzuordnen, abzugleichen und zu priorisieren. Der Aufwand, der hinter dieser Sortierung steckt, bestimmt den Takt der gesamten Untersuchung.
Gleichzeitig wird dieser gewaltige Prozess durch ein zentrales Vakuum beeinflusst: Das konsequente Schweigen der Hauptverdächtigen Gina H.. Dieses Schweigen ist mehr als nur das Ausbleiben einer Aussage; es wirkt wie eine „Lehrstelle in der Mitte des Falles“. Ohne ihre Angaben sind Ermittler und Staatsanwaltschaft gezwungen, sich ausschließlich auf äußere Daten zu stützen: Spuren, Bewegungsmuster, digitale Auswertungen und die Worte der Zeugen. Diese erzwungene Abhängigkeit zwingt die Behörden, jedes noch so kleine Detail doppelt zu überprüfen, was die ohnehin schon hohe Belastung vervielfacht. Jede alternative Erklärung, jede Unstimmigkeit, jedes unlogisch erscheinende Bewegungsmuster muss ernst genommen werden, da die einzige Person, die Klarheit schaffen könnte, eine Blockade errichtet hat.
Der Handschuh und die doppelte Rekonstruktion
Parallel zur Auswertung der Zeugenflut rückt ein einzelnes Fundstück stärker in den Fokus: Ein Handschuh, entdeckt in der Nähe des Ortes, an dem Fabians Körper gefunden wurde. Noch gibt es keine offiziell bestätigten Laborergebnisse, doch die gründliche Untersuchung zeugt davon, dass man von diesem Objekt mehr erwartet, als man offiziell sagt. In Ermittlerkreisen wird selten von einem „umfangreichen Gutachten“ gesprochen, wenn keine Erwartungshaltung besteht.
Der Handschuh ist zum symbolischen Angelpunkt dieses Kommunikationsdreiecks geworden. Er wirft unweigerlich die zentrale Frage auf, die seit Wochen im Raum steht: Handelte die Verdächtige wirklich allein? Und damit verbunden: Ist der Fundort des Körpers auch der Tatort?
Genau diese Unsicherheit zwingt die Beamten zu einer doppelten Rekonstruktion: Wie könnte die Tat abgelaufen sein und wie könnte der Junge an den Ort gelangt sein, an dem er schließlich gefunden wurde? Je mehr Aussagen und Spuren geprüft werden, desto deutlicher tritt hervor, dass manche Abläufe schwer in das Bild eines einzigen Tatortes passen. Ein möglicher zweiter Ort, sei es der eigentliche Tatort oder ein Zwischenort, würde den gesamten Fall verändern. Bewegungsmuster müssten neu bewertet und Transportwege rekonstruiert werden.
Neue Aussagen werfen Schatten, die sich nicht nahtlos in ein Einzeltäterbild einfügen. Es sind noch keine Beweise, aber es sind Spuren, die man nicht ignorieren kann. Die Überlegung, ob bestimmte Handlungen realistisch allein ausgeführt werden konnten, ist angesichts der Zeugenaussagen, die Abläufe beschreiben, die nicht automatisch zu einem Einzeltäterbild passen, unvermeidlich und verändert die innere Architektur der Ermittlungen. Die Staatsanwaltschaft muss alle Szenarien parallel betrachten: das des Einzeltäters und das eines komplexeren Geschehens.