Der Mordfall um den getöteten Jungen Fabian hat erneut einen Siedepunkt erreicht. Doch dieses Mal steht nicht ein neuer Verdächtiger im Fokus, sondern die Arbeit der Ermittler selbst. Ein brisanter Vorwurf der Verteidigung stellt die entscheidende Frage: Haben die Ermittlungsbehörden aus Nachlässigkeit oder aus einer gnadenlosen, aber möglicherweise verhängnisvollen strategischen Entscheidung eine potenziell zentrale Zeugenaussage ignoriert?
Die Anwältin der festgenommenen Tatverdächtigen Gina H. (Ex-Freundin des Vaters) schlägt Alarm. Sie behauptet, eine Zeugin, die sie für absolut zentral hält, sei über einen langen Zeitraum schlichtweg nicht angehört worden. Wenn man hört, was diese Zeugin zu sagen hat, versteht man, warum dieser Vorwurf nun wie eine Bombe in den laufenden Prozess einschlägt. Der Fall Fabian ist damit zum Schauplatz eines klassischen, philosophischen Dilemmas der Kriminalistik geworden: Muss jeder noch so vage Hinweis verfolgt werden, oder muss die Polizei ihre knappen Ressourcen strategisch auf die “harten Fakten” konzentrieren, selbst wenn sie riskiert, das eine entscheidende Goldkorn zu übersehen?

Der explosive Vorwurf: Ein “Volltreffer” wurde ignoriert
Der Vorwurf der Anwältin Habeta hat es in sich und wird von der Öffentlichkeit als schwere Ermittlungspanne wahrgenommen. Es geht um eine Zeugin, die eine Beobachtung machte, die in Kriminalromanen oft den entscheidenden Durchbruch bringt:
Die Zeugin sagt aus, sie habe am Tag, an dem Fabians Leiche gefunden wurde, ein verdächtiges Auto ganz in der Nähe des späteren Fundorts gesehen. Das ist für sich genommen schon ein wichtiger Hinweis. Doch die Aussage wird zur potenziellen Bombe, weil die Zeugin sich ziemlich sicher ist, die Beifahrerin in diesem Wagen erkannt zu haben.
Dieses Detail macht den Hinweis von einer vagen Beobachtung zu einer konkreten Spur, die direkt zu einer Person führen könnte. Ein verdächtiges Fahrzeug, am richtigen Ort, zur richtigen Zeit, und obendrein eine mögliche Identifizierung – aus der Ferne betrachtet und auf dem Papier klingt dies nach dem Traum eines jeden Ermittlers. Man würde erwarten, dass sofort ein ganzes Team ausschwärmt, um die genannte Person unauffällig zu überprüfen und die Spur zu sichern. Doch genau das ist anscheinend nicht passiert.
Für die Verteidigung ist dies ein unverzeihlicher Fehler. Sie sieht eine konkrete Spur, die direkt zu einer Person führt und die lange ignoriert wurde. Der Vorwurf der Ermittlungspanne ist aus ihrer Perspektive zwingend und verständlich. Ein potenzieller Volltreffer lag auf dem Tisch, und er wurde beiseitegeschoben.
Die nüchterne Logik der Polizei: Das Kennzeichen fehlt
Die offizielle Antwort von Ermittler Novak (Staatsanwaltschaft) bricht jedoch mit diesem Klischee und gibt einen ungeschminkten Einblick in die brutale Realität polizeilicher Arbeit. Novak rückt die Aussage der Zeugin in einen ganz anderen, nüchternen und methodischen Kontext. Sein Hauptargument ist die Qualität und die Verwertbarkeit des Hinweises:
-
Der Zeitfaktor und die Erinnerung: Novak betont, dass die Zeugin sich Tage nach der Tat gemeldet hat. Erinnerungen verblassen schnell und können sich verzerren.
-
Das Fehlen harter Fakten: Das entscheidende Detail, das für Ermittler den Unterschied zwischen interessant und verwertbar macht, fehlt: Die Zeugin konnte kein Kennzeichen nennen. Ohne Kennzeichen ist ein Auto selbst mit einer guten Beschreibung wie die berühmte Nadel im Heuhaufen. Es gibt wahrscheinlich Tausende ähnlicher Fahrzeuge in der Region.
-
Die Wackeligkeit der Identifizierung: Eine Aussage wie “Ich glaube, ich habe Person X erkannt” ist ermittlungstechnisch und später vor Gericht extrem wackelig. Die Polizei müsste sofort Fragen klären: Wie sicher ist die Zeugin auf einer Skala von 1 bis 10? Wie gut kennt sie die Person? Was waren die Lichtverhältnisse (dämmrig, geblendet)? Aus welcher Entfernung und wie lange hat sie die Person gesehen? Solange diese Fragen nicht geklärt sind, bleibt die Aussage auf dem Stapel “vage Vermutung” und nicht auf dem Stapel “harter Fakt”.
Kriminalistische Ökonomie: Die brutale Mathematik der Ressourcen
Der härteste Punkt von Novaks Argumentation betrifft die Ressourcenverteilung. Er sagte sinngemäß, es gäbe für die Ermittlungskräfte relevantere Aufgaben, um die sie sich kümmern müssten. Dieses klingt im ersten Moment arrogant, spiegelt aber die brutale Realität der kriminalistischen Ökonomie wider.
Die Ermittler leiten eine Sonderkommission mit begrenzter Manpower. Gleichzeitig müssen sie DNA-Spuren vom Tatort auswerten, Handydaten analysieren, Dutzende andere Zeugen befragen und eine gerichtsverwertbare Beweiskette aufbauen.
-
Eine forensische Spur (DNA, Fingerabdruck) führt zu einer konkreten Person oder schließt sie aus – das ist die höchste Erfolgswahrscheinlichkeit.
-
Ein Hinweis ohne Kennzeichen führt zu hunderten Stunden Arbeit, die mit einer Wahrscheinlichkeit von 99 % im Nichts endet.
Die Ermittler müssen “wetten”. Sie setzen ihre Manpower dort ein, wo die Wahrscheinlichkeit eines greifbaren Ergebnisses am höchsten ist – also bei den harten Fakten. Jede Stunde, die in eine Sackgasse investiert wird, ist eine Stunde, die nicht für die vielversprechende Spur genutzt werden kann. Diese brutale Mathematik ist die bittere Notwendigkeit hinter solchen Entscheidungen. Das Risiko ist immens: Wenn sie falsch liegen, übersehen sie möglicherweise den entscheidenden Hinweis. Wenn sie richtig liegen, sparen sie wertvolle Zeit und kommen dem Täter schneller näher.

Das Dilemma: Moralische Pflicht versus Strategische Effizienz
Der Fall Fabian wirft damit eine fast philosophische Frage der Kriminalistik auf, auf die es keine einfache Antwort gibt:
Auf der einen Seite steht die Position der Verteidigung: In einem Mordfall darf es keine Kompromisse geben. Die moralische Pflicht verlangt, jedem Hinweis nachzugehen, egal, was es kostet. Das Risiko, den entscheidenden Hinweis zu übersehen – wie es oft in berühmten True-Crime-Fällen passiert ist, wo ein vager Hinweis Jahre später den Durchbruch brachte –, ist unerträglich.
Auf der anderen Seite steht die strategische Effizienz der Polizei: Die Polizei hat die Verantwortung, die Ressourcen der Steuerzahler klug einzusetzen. Sie müssen professionell und rational abwägen und sich auf das konzentrieren, was am ehesten zu einem Ergebnis führt, auch wenn das bedeutet, manche Spuren bewusst fallen zu lassen.
Novak warnt zusätzlich davor, dass die Verbreitung von unbestätigten Infos in den Medien (“öffentliche Mutmaßungen”) pures Gift für eine laufende Ermittlung sei. Es erzeugt öffentlichen Druck, der die Ermittler zwingen könnte, Ressourcen auf eine Spur zu setzen, von der sie intern nicht überzeugt sind. Im schlimmsten Fall warnt es sogar den Täter und ermöglicht ihm, Beweise zu vernichten.
Das Dilemma ist somit der Konflikt zwischen einer potenziell brisanten Geschichte und einer methodisch sauberen, faktenbasierten Ermittlung. Der Fall Fabian wird zeigen, ob die nüchterne Logik der Ermittlungsökonomie am Ende zur Wahrheit führt, oder ob die Anwältin Habeta mit ihrem Vorwurf Recht behält und der entscheidende Hinweis tatsächlich aus Angst vor einer Ressourcenverschwendung bewusst fallengelassen wurde.
Die Wahrheit in diesem Fall hängt von der Antwort auf die Frage ab: War diese eine Beobachtung der wackeligen Zeugin das unentdeckte Goldkorn oder nur eine Ablenkung, die wertvolle Zeit gekostet hätte? Die Ermittler haben ihre Wette platziert. Die Konsequenzen dieser Wette werden das Endergebnis des Falls Fabian maßgeblich bestimmen.