Der Klang. Ein schneidender Wind fegte durch die kahen Buchen und Eichen der norddeutschen Landschaft, ließ morsches ge ächtzen und irgendwo in der Ferne prasselten vereinzelte Regentropfen auf verrostetes Metall. Es war der 18. März des Jahres 1834, ein Mittwochmorgen, an dem der Himmel über der Handelsstadt Lübeckbleiern hing und ein nahendes Unwetter ankündigte.
Der Hafen sonst voller Stimmen, Hufgetrappel und Rufen der Fischer, wirkte unnatürlich still. Selbst die Möwen schienen tiefer zu fliegen, als fürchteten sie die Luft. In dieser seltsamen Stille erhielt der Stadtvogt Johannfriedrich Mertens einen Brief ohne Absender.
Der Umschlag war mit dunklem Wachs versiegelt, die Handschrift darauf zittrig, als sei sie von jemandem mit schwacher Hand oder in großer Eile geschrieben worden. Im Innern fand der Fogt nur einen Satz: “Die Kinder weinen unter dem Boden der von Reichenbachs.” Der Name ließ ihn unwillkürlich aufmerken. Das Gut Reichenbach, etwa 7 km außerhalb der Stadt bei jedem Lübecker bekannt.
Die Besitzer Albrecht von Reichenbach und seine Gattin Elisabeth von Reichenbach galten seit Jahren als Innbegriff christlicher Wohltätigkeit. Der Adlige war aus einer altbürgerlichen Hamburger Kaufmannsfamilie hervorgegangen, die in preußischen Kreisen Einfluss gewonnen hatte und seine Frau entstammte einem angesehenen schlesischen Ärztegeschlecht.
Seit 181 führten sie auf ihrem Gut ein Weisenhaus, das unzählige Kinder aufgenommen hatte, vor allem Opfer von Hungerwintern, Soluchen und den Unruhen nach den napoleonischen Kriegen. Ihre Stiftung, Licht für die Klein stand unter dem Schutz der örtlichen Kirchengemeinde und genoss hohes Ansehen.
Bei jeder Ratsversammlung wurden die Reichenbachs als Musterbild christlicher Nächsten Liebe gepriesen. unantastbar, sagte man oft hinter vorgehaltener Hand, denn sie hatten sowohl die Gunst der Kirche als auch der Hansiatischen Kaufmannsgilde. Doch Mertens, seit sechs Monaten neuem Amt und zuvor in Berlin tätig, verspürte von Anfang an ein leises Misstrauen. Die Zahlen stimmten nie ganz, hatte er bereits im vergangenen Winter in sein Tagebuch notiert.
Die Reichenbachs gaben an, 73 Weisenkinder zu betreuen. Doch bei öffentlichen Feiern zeigte man nie mehr als 15. Die übrigen waren angeblich krank, verlegt oder für einige Zeit auf Außenhöfen untergebracht. All das klang immer zu glatt, zu einstudiert. Der Stadtvogt wusste, die Nachricht, die er nun in der Hand hielt, war kein Gerücht, kein beiläufiger Hinweis.

Sie war eine Warnung und sie klang wie ein Echo dessen, was er längst befürchtet hatte. Am folgenden Morgen, dem März nutzte Mertens die Abwesenheit von Albrecht von Reichenbach. Dieser befand sich angeblich geschäftlich in Danzig, um Handelsverträge mit Getreideimporteuren zu erneuern.
Der Vogt erschien auf dem Gut in Begleitung von drei Stadtwachen und einer rechtlich bestätigten Inspektionsanordnung, unterschrieben von Richter Heinrich Ortmann, einem jungen Magistrat aus Mecklenburg, der wie Mertens nicht in die lokalen Verflechtungen eingebunden war. Geräusche, Hufe auf matschigem Weg, das Knarren eines schweren Eisentores, dahinter gedämpftes Kinderlachen.
Oder war es doch etwas anderes? Die Luft roch nach feuchtem Holz, kalter Erde und dem scharfen Rauch einer Küche, die bereits seit Morgengrauen brannte. Elisabeth von Reichenbach empfing höflichen, beinahe ätherischen Lächeln. Die hochgewachsene Frau war dafür bekannt, immer markellos aufzutreten, selbst an regnerischen Tagen. Ihr dunkles Haar war streng zu einem Knoten gebunden, ihr Kleid schlicht, aber von ausgesuchter Qualität.
Ein typisches Merkmal der Norddeutschen Oberschicht dieser Zeit. Natürlich dürfen Sie alles sehen sagte sie ohne sichtbare Regung. Unser Heim hat keine Geheimnisse. Die Inspektion zog sich über vier Stunden hin. Die Schlafseele wirkten makellos. Betten ordentlich gefaltet, kleine Holzspielzeuge fein säuberlich aufgereiht, Schulmaterialien auf Tischen sortiert.
Alles sah aus wie in einem Musterheim, fast zu perfekt, unnatürlich ruhig. Kein Wein, kein Streit, kein Lachen. Mertens spürte ein Ziehen im Magen. Als sie schon fast gehen wollten, geschah es. Eine junge Küchehilfe, Caroline Bäcker, kaum 14 Jahre alt und erst seit wenigen Monaten im Dienst, näherte sich unauffällig dem Stadtfogt. Ihre Hände zitterten, als sie den Kopf senkte und flüsterte.
Das Weinen kommt von unten her fogt, wenn es stark regnet. hört man es deutlicher. Mertens Herz schlug schneller. Ein Keller. Laut allen Bauunterlagen des Gutes aus dem Jahr 1809, die der Vog zuvor studiert hatte, existierte kein einziger unterirdischer Raum.
Der Boden in dieser Gegend war feucht, schwer und galt als ungeeignet für weitläufige Kellerräume. Und dennoch, sie gingen in das private Arbeitszimmer von Albrecht von Reichenbach. Auf dem Teppich aus ostpreußischer Wolle, direkt unter dem massiven Schreibtisch, entdeckten sie eine schmale Holzkonstruktion, deren Maserung nicht zum restlichen Boden passt.
Als Mertens die Hand darüber gleiten ließ, spürte er die feine Linie einer versteckten Klappe. Unter dem Teppich war eine verriegelte Falltür aus Eisen und Eichenholz verborgen. In diesem Augenblick veränderte sich Elisabeth von Reichenbach. Die höfliche Kontinen brach wie dünnes Porzellan. Ihre Pupillen weiteten sich, Atemzüge wurden hektisch, Worte stolperten übereinander. Erst bot sie dem Vogt Geld an.
Schmuckstücke, die sie hastig aus einer Kommode zog. alte Familienstücke aus Schlesien, Gold und Bernstein. Als Märtens die Annahme verweigerte, griff sie plötzlich in den Hals ihres Kleides und riss ein kleines silbernes Fläschchen hervor, gefüllt mit einer dunklen Flüssigkeit. Sie werden unangenehme Dinge entdecken, preßte sie hervor. Aber ich werde sie nicht miterleben.
Bevor sie trinken konnte, entrissen die Wachen ihr das Fläschen. Geräusche, schweres Metall, das über Stein schleift, der dumpfe Schlag eines alten Schlosses, das sich widerwillig öffnet. feuchte Luft, die wie ein Grabatem aus der Dunkelheit quillt. Das, was Sie unter dem Gut Reichenbach fanden, würde später als Berichtnummer 1834 RB073 in den Archiven des Königreichs Preußen geführt werden und es sollte ein Kapitel deutscher Geschichte öffnen, das viele Jahrzehntelang niemand hatte aussprechen wollen.
Der Abstieg in die Dunkelheit begann mit einem einzigen schwankenden Öllämmchen, das die Wachen angezündet hatten. Der schmale Schacht, kaum breiter als ein erwachsener Mann, führte über eine steile, aus dem morastigen erdreich geschlagene Treppe hinab. Der muffige Geruch nach feuchter Erde, moder und altem Schweiß wehte ihnen entgegen, begleitet von einem kaum wahrnehmbaren, aber unheilvollen Laut.
ein wimmerndes kehiges Atmen, so dünn, daß es eher wie der Wind in einem Riss klang. Als sie die letzten Stufen erreichten, öffnete sich ein niedriger Gang, der sich in beide Richtungen erstreckte. Unterstützt von zwei Lämpchen war eben genug Licht vorhanden, um die Wände aus rohbehauenem Leben zu erkennen, in denen Holzbalken schief eingesetzt waren wie Knochen in einem schlecht verhalten Körper.
Der Gang war rund 15 m lang, doch jeder Schritt darin fühlte sich an, als würde man sich tiefer in einen lebenden Organismus vorwagen. Zu beiden Seiten des Ganges standen Eisenkäfige, jeder kaum 2 Quadratmeter groß. Das Metall war schwarz vom Rost und vom Schmutz unzähliger Hände. Einige Gitter waren mit Tüchern verhängt, andere offen, zu offen.
Darin hockten 26 Jungen und vier Mädchen im Alter von etwa 5 bis 13 Jahren. Ihre Körper, ausgemergelt und verletzt, wirkten wie Schatten, die sich in die Dunkelheit zurückziehen wollten. Manche hatten karle Stellen am Kopf, andere frische Wunden, die noch nsten. Wieder andere wiesen kreisrunde Brandmale auf dem Rücken und an den Armen auf, wie sie nur glühendes Eisen hinterließ. Niemand sprach, nicht einmal ein Schluchzen war zu hören.
Die Kinder starrten die Männer an, die mit den Lichtern kamen, starrten wie Wesen, die nicht mehr wussten, ob Lichterlösung oder Bestrafung bedeutete. Stadtvogt Mertens spürte, wie ihm der Boden unter den Füßen wegzuschwimmen schien. Wer hat, warum? Er brachte den Satz nicht zu Ende. Die Antwort lag ohnehin in der Luft. Ein solches System war nicht spontanes Chaos, sondern sorgfältige Organisation.
Die Wachen öffneten vorsichtig die ersten Käfigtüren. Einige Kinder wichen zurück, andere schlossen instinktiv die Augen. Ein Junge von vielleicht 9 Jahren kroch aus seinem Käfig und presste sich mit dem Rücken gegen die Wand, als wolle er eins mit ihr werden.
Seine Knöchel waren blutig, die Metallfesseln hatten sich tief in die Haut geschnitten. Ein Mädchen, kaum älter als sieben, hob zögerlich die Hand und zeigte auf ihren Hals. Dort fehlte ein Stück Haut, sauber herausgeschnitten. Ein Verband, der einmal weiß gewesen war, klebte dunkel an ihr. Die Männer wussten, sie mussten sofort ärztliche Hilfe organisieren.
Gleichzeitig entdeckte einer der Wachen zum Ende des Ganges hin einen kleinen Raum, verschlossen mit einer schweren Tür aus Eichenholz. Das Schloss war neu, viel neuer als der Rest der Konstruktion. Als sie die Tür öffneten, schlug ihnen ein beißender Geruch entgegen. Drinen befand sich ein improvisierter Arbeitsraum, Metalltische, verschmutzte Tücher, mehrere chirurgische Instrumente, darunter Sägen, Meißel, Zangen, Skalpellbrüche und zwei Gläser mit verblaster Flüssigkeit, in denen etwas Trübes schwamm.
Auf einem Stuhl lag ein Protokollbuch, vollgeschrieben in präziser Handschrift. Darin standen Spalten mit Bezeichnungen wie Körperbau, Verwertbarkeit, anatomischer Zustand. Schnell wurde klar, diese Räume waren nicht nur Verließ, sie waren Labor. Die Männer trugen die Kinder hinaus, wickelten sie in Mäntel und Decken, während draußen das Unwetter über Lübeck losbrach.
Der Regen trommelte wie Nägel auf die Steinplatten des Hofes, während Pechfackeln auflammten und die Türen des Gutes aufgerissen wurden, um die Kleinen ins Freie zu bringen. Einige Kinder konnten laufen, andere mussten getragen werden. Manche weinten lautlos, Tränen ohne Stimme. Unter den Geretteten befand sich auch ein Mädchen, das später eine Schlüsselrolle spielen würde.
Luise Adler, 12 Jahre alt, aus einem Weisenhaus nahe Schwerin. Ihre Augen, groß und grau wie der Winterhimmel über der Ostsee, waren noch immer auf die Falltür gerichtet, selbst als man sie bereits auf einen Karren legte. In dieser Nacht erfuhr Lübeck, dass die Wohltäter des Landes nicht waren, wofür man sie gehalten hatte.
Und doch ahnte niemand, daß dies erst der Beginn war, die oberste Schicht eines Abgrunds, der sich unter dem Deckmantel norddeutscher Tugend und protestantischer Wohlanständigkeit ausgebreitet hatte. Die Glocken der Marienkirche begannen zu schlagen, als wollten sie den Himmel selbst wachrütteln.
Der Fall Reichenbach würde die Stadt, die Region und bald darauf das ganze Königreich erschüttern. Handwerkergilden, Ärzte, Kirchenvorstände, reiche Handelshäuser. Überall sollte sich zeigen, dass die Fassade aus Moral und Wohltätigkeit Risse hatte und dass manche dieser Risse viel tiefer reichten, als irgendjemand ermessen konnte. Der Regen prasselte weiter auf die Dächer Lübecks, als die Kinder in das Heiliggeisthospital gebracht wurden.
Eine der ältesten Wohlfahrtseinrichtungen der Stadt. Die schweren Holztüren öffneten sich mit gedämpftem Knarren und die Nonnen der evangelischen Schwesternschaft eilten herbei. Erschrocken, aber diszipliniert, wie man es in Jahrhunderten strenger Klostertraditionen gelernt hatte.
Flackernde Kerzen warfen lange Schatten über die gewölbten Gänge und ließen die Gesichter der Geretteten gespenstisch wirken. Der leitende Arzt Dr. Martin Schubert, ein Mann mit grauem Haar und einer Stimme, die in ruhigeren Zeiten sanft geklungen hätte, doch nun hart vor Entsetzen war, examinierte die Kinder sorgfältig.
Schon nach wenigen Minuten füllte sich sein Bericht mit Worten, die er bis dahin nur aus militärischen Lazaretten kannte und selbst dort selten: Schwere Unterernährung, multiple Bruchstellen älteren Datums, chirurgische Eingriffe ohne Betäubung, Narben kreisförmiger Art, Anzeichen systematischer Fesselung.
Er sah zu Mertens auf und sagte leise, aber mit bitterem Nachdruck: “Dies ist kein Versehen. Es ist ein System.” Währenddessen begannen die Ordensschwestern die Kinder zu waschen. Das Wasser in den Eimern färbte sich rasch dunkel. Manche der Kleinen schrien, sobald ihre Haut das warme Wasser berührte. Andere blieben vollkommen stumm, selbst wenn die Wunden erneut aufbrachen.
Eine Nonne, Schwester Agnes, die seit über 20 Jahren im Hospital diente, weinte, als sie sah, wie ein kleiner Junge von etwa 8 Jahren reflexartig die Arme über den Kopf hob, sobald jemand sich ihm von der Seite näherte. “Er erwartet Schläge”, murmelte sie. Er weiß gar nicht, dass er nun in Sicherheit ist.
Kurz darauf erreichte die Nachricht die Ratsstube am Markt. Die Stadtherren, zunächst ungläubig, dann zornig, beriefen eine außerordentliche Sitzung ein. Der Regen trommelte gegen die Glasfenster, während der Raum sich mit schweren Stimmen füllte. Harmlose Wohltäter. Die Reichenbachs hatten seit Jahren das Vertrauen der Obrigkeit genossen, Spenden gesammelt, Gottesdienste gehalten, Patronate übernommen.
Niemand, jedenfalls niemand, der es offen aussprach, hatte jemals Verdacht geschöpft. Doch der Fund unter ihrem Gut war eindeutig. Stadtvogt Mertens verlaß die ersten Ergebnisse der Bergung, die Käfige, die Fesseln, die chirurgischen Instrumente, die Protokollbücher. Das Entsetzen im Saal wandelte sich rasch in Unruhe.
Lübeck, als freie Stadt und wichtiger Handelsort durfte keinen Skandal zulassen, der ihre Reputation beschädigte. Doch ein Fall dieses Ausmaßes ließ sich nicht verschweigen und schlimmer noch, schon in den Papieren, die man im versteckten Arbeitszimmer gefunden hatte, tauchten Namen auf, die in der Stadt nicht unbekannt waren.
Adlige aus Mecklenburg, Gutsherren aus Holstein, zwei angesehene Ärzte aus Hamburg, ein Pastor aus Drave Münde. Wenn diese Liste stimmte und alles deutete darauf hin, dann breitete sich das Netz der Komplizenschaft weit über Lübeck hinaus aus. Während die Ratsmitglieder noch stritten, ob man die königliche Regierung in Berlin sofort informieren müsse, saß Luise Adler im Hospital auf einem schmalen Bett.
Sie war eines der wenigen Kinder, die überhaupt auf Fragen reagierten. Eine junge Novizin, Schwester Johanna, hatte sich neben sie gesetzt und hielt ihre Hand. Luise war erschöpft. Ihr Körper zitterte unkontrolliert und doch wirkte ihre Stimme klarer, als sie zu flüstern begann. Er kommt immer spät. Der Mann mit dem silbernen Stock. Schwester Johanna beugte sich zu ihr.
Welcher Mannkind? Der Fremde. Er spricht Deutsch, aber anders. Sein Akzent. Luise suchte nach Worten. Er sagt immer, er brauche die Kleinen für seine Studien, für seine Anatomie. für das große Werk. Der Name, den sie dann nannte, ließ die Novizin erbleichen. Sie notierte ihn und brachte den Zettel Märtens.
Als dieser ihn las, wurde ihm schlagartig klar, dass das, was man unter dem gut Reichenbach entdeckt hatte, nicht nur eine lokale Verirrung war. Es war der äußerste Rand eines Systems, das sich über Ländergrenzen hinweg erstreckte. Noch in derselben Nacht ordnete er an, das gesamte Anwesen zu versiegeln, alle Bediensteten festzunehmen und sämtliche Archive sichern zu lassen.
Draußen peitschte der Wind über die Dächer und der Regen nahm weiter zu, als wolle er die Stadt wachrütteln. Dass Lübeck für immer verändert aus dieser Nacht hervorgehen würde, ahnte zu diesem Zeitpunkt noch niemand. Aber der Name auf dem Zettel, dieser Name würde bald das gesamte Königreich erschüttern. Der Morgen nach der Entdeckung brach grau und schwer über Lübeck herein.
Das Heiliggehospital war erfüllt von gedämpften Stimmen, eilenden Schritten und dem beständigen Rascheln medizinischer Berichte. Die Nonnen hatten die Nacht hindurchgearbeitet und dennoch wirkte der Ort wie eine Insel aus erschöpfter Stille im Sturm des Entsetzens, der nun durch die Stadt ging. Stadtfugt Mertens saß in einem kleinen Schreibzimmer nahe der Kinderstation. Auf dem Tisch lagen drei Dinge.
Ein Protokollbuch aus dem unterirdischen Raum, eine Liste der Verletzungen der Kinder und der Zettel, den Luise nach stundenlangem Zögern diktiert hatte. Darauf stand ein Name, der ihm wie ein Schock durch die Brust fuhr. Dr. Wilhelm Carsten. Ein renommierter Anatom.
Professor an der medizinischen Fakultät in Königsberg, veröffentlicht in mehreren wissenschaftlichen Journalen. Ein Mann, der in gelehrten Kreisen als brillant, aber unkonventionell galt. Seine Studien waren umstritten, ungewöhnlich detailliert, ungewöhnlich früh, ungewöhnlich kalt. Er sollte sich als eine der Schlüsselfiguren entpuppen. Während Mertens noch überlegte, wie dieser Name mit dem Gut Reichenbach zusammenhing, öffnete sich die Tür und Dr. Schubert trat ein. Sein Gesicht sah aus wie Stein, blass vor Zorn.
Drei Kinder haben Brandmale, die eindeutig mit chirurgischen Fixierungsinstrumenten übereinstimmen”, sagte er. Bei zweien fehlen Fingerglieder, sauber amputiert und eines eines hat eine drepanierte Schädelstelle, die erst vor wenigen Tagen behandelt wurde. Ein Wunder, dass das Kind noch lebt. Mertens legte die Hände an die Stirn.
Wie viele werden überleben? Der Arzt zögerte. Vielleicht zwei Drittel. Die anderen: “Es ist schwer zu sagen, wie groß der Schaden ist.” Schweigen breitete sich aus, schwerer als jede Anklage. In diesem Moment eilte Schwester Johanna herein. Herr Vogt, Luise bittet erneut um ein Gespräch. Sie sagt, sie erinnert sich an mehr.
Luise Adler saß aufrecht im Bett, eingehüllt in mehrere Schichten Leinentücher. Ihre Haare waren frisch gewaschen, aber ihr Blick blieb leer. Ein Blick, wie man ihn nur bei Kindern sah, die gezwungen worden waren, jahrelang in lautlosem Gehorsam zu überleben. Als Märtens sich neben sie setzte, sprach sie ohne Einleitung: “Der Mann mit dem silbernen Stock.
Er kam immer in Begleitung. Wessen Begleitung? von einer Frau blond, streng, mit einem Hut wie die aus Berlin. Sie nannten sie die Aufseherin. Sie entschied, wer tauglich war. Sie hat Listen geführt. Listen? Luise nickte schwach. in einem blauen Buch mit goldenen Ecken. Es lag auf dem großen Tisch im Arbeitszimmer oben.
Mertens Herz zog sich zusammen. In keinem der bisher gesicherten Dokumente war ein blaues Buch erwähnt worden. Was stand in diesen Listen, Luise? Die Zwölfjährige starrte geradeaus, als müsse sie gegen Erinnerungen kämpfen, die sie eigentlich nie wiedersehen wollte. Zahlen, Anfangsbuchstaben, Alter und und Preise. Dann brach ihre Stimme.
Schwester Johanna drückte sie fest an sich, wiegte sie, bis das Zittern nachließ. Der Stadtfucht stand langsam auf. Der Fall war nun eindeutig kein lokaler Missbrauch, keine Einzeltat eines entgleisten Ehepaars. Er war Teil eines weit verzweigten, kalt kalkulierten Systems, in dem Kinder wie Ware behandelt wurden. Und dieses System hatte Strukturen, Ordnung, Nachfrage.
Im Rathaus war die Stimmung inzwischen angespannt. Der Bürgermeister Heinrich Torwald, ein Mann mit strengem Protestantenmut, rief Mertens zu sich. Wir haben Berichte aus Travemünde, Hamburg und Wisma, begann er ohne sich zu setzen. Mehrere Weisen, die angeblich an solchen starben, wurden nie beerdigt.
Bei drei mittlerweile verstorbenen Gutsherren fanden wir ungewöhnlich hohe Zahlungen an die Stiftung Licht für die Kleinen. Er legte mehrere Dokumente auf den Tisch. Diese Angelegenheit greift weit über Lübeck hinaus. “Wir müssen Berlin informieren”, sagte Mertens. Torwald nickte. “Schon geschehen. Ein königlicher Kommissar wird in zwei Tagen eintreffen.
” Doch bevor diese Worte wirklich sacken konnten, öffnete sich abrupt die Tür. Zwei Stadtwachen traten ein. In ihren Händen ein kleines ledergebundenes Heft, verschmiert mit Erde. Gefunden in einer versteckten Schublade im Arbeitszimmer von Herrn von Reichenbach, sagte einer der Männer heiser. Mertens nahm es entgegen. Als er die erste Seite aufschlug, lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter.
Es war blau mit goldenen Ecken, genauso wie Luise es beschrieben hatte. Und darin standen Tabellen, Spalten und Kürzel in einer Handschrift, die mit ruhiger Präzision geführt worden war. Jedes Kürzel war ein Kind, jede Zeile ein Schicksal, jede Zahl ein Preis und am unteren Rand klebte ein Siegel, das alle Anwesenden verstummen ließ. Das Wappen der Universität Königsberg.
Während draußen der Wind die Dächer peitschte und die Türme der Marienkirche in Nebelschwaden verschwanden, wurde allen im Raum klar, dass dies nicht nur der Fall Reichenbach war. Es war der Beginn eines historischen Skandals, der Mediziner, Adlige, Händler und Amtsträger in ganz Preußen und darüber hinaus erschüttern sollte.
Und die Wahrheit war bei weitem noch nicht vollständig ans Licht gebracht. Der Nachmittag des 19. März brachte keine Ruhe, weder in Lübeck noch in den umliegenden Dörfern. Das blaue Buch mit den goldenen Ecken lag nun im Zentrum aller Untersuchungen. Stadtfogt Mertens verbrachte Stunden damit, die Tabellen und Kürzel zu entziffern, während Doktor Schubert und mehrere Schwestern versuchten, aus den Berichten der Kinder Hinweise zu gewinnen.
Doch je mehr sich herauskristallisierte, desto klarer wurde, dies war kein improvisiertes Register, sondern ein ausgefalltes System. Auf jeder Seite war links ein Buchstabe verzeichnet, gefolgt von einer Zahl. Manche Seiten enthielten rote Markierung, andere schwarze. Die roten markierten offenbar vollständig verwertete Kinder.
Die Schwarzen hingegen solche, die zu schwach waren oder deren Zustand sich es verschlechtert hatte. Und dann war da die dritte Markierung, ein kleines silbernes Kreuz. Es tauchte nur selten auf. Märtens fiel auf. daß jedes dieser Kreuze neben Kindern stand, deren Alter zwischen fünf und sieben Jahren lag. Er wußte nicht warum, doch es ließ ihm das Herz krampfen. Als er gerade die dritte Seite studierte, klopfte es an der Tür.
Eine Wache trat ein, schlamm verschmiert und atemlos. Herr Vogt, wir haben etwas im Wald gefunden. Sie gingen ohne zögern. Hinter dem gut Reichenbach führte ein schmaler Forstweg in ein Gebiet, das die Bauern den alten Wald nannten. Dort zwischen umgestürzten Stämmen und dichtem Unterholz lag ein halb verrotteter Karren.
Das Holz war aufgequollen, doch die Metallstreben waren eindeutig erkennbar, stabil, mit Haken und Ösen versehen. ein Transportmittel, kein gewöhnlicher Karren, sondern ein speziell umgebautes Gefährd, wie es Händler nutzen, wenn sie lebende Tiere transportierten, die sich nicht bewegen durften.
Im Inneren waren Reste von Decken, einige davon mit Blut getränkt und eine zerrissene Kinderjacke aus dunklem Lein. Auf der Innenseite des Karrens fanden sie eingeritzte Zeichen, kleine Striche, Zählmark, fünf Striche nebeneinander, dann ein sechster quer darüber. Es waren viele, viel zu viele. “Wie weit reicht das alles?”, murmelte der Vog tonlos. Die Antwort kam unerwartet.
Einer der Bauern, der den Fund gemeldet hatte, erzählte, er habe vor einigen Wochen einen Wagen gesehen, der spätnachts die Straße Richtung Travemünde hinunterrollte. Keine Laternen. Die Pferde waren schwarz verhüllt, zwei Männer drauf, beide mit dunklen Mänteln. “Haben Sie eines der Gesichter erkannt?”, fragte Mertens. Den vorderen nicht, aber der hintere, wenn ich richtig gesehen habe, trug er ein Abzeichen, ein Wappen.
Königsberger Farben. Ich habe Jahre in Ostpreußen gearbeitet. Ich vergesse so etwas nicht. Mertens Atem stockte. Noch ein Hinweis auf die Universität Königsberg. Die Fäden führten immer wieder dorthin zurück, als wäre dies das Zentrum eines Netzes, das sich über das ganze Land zog. Zurück im Hospital erreichte ihn eine weitere Nachricht.
Elisabeth von Reichenbach verlangte erneut mit ihm zu sprechen. Trotz ihrer Festsetzung war sie erstaunlich gefasst. Ihre Haare, die zuvor streng gebunden gewesen waren, fielen nun wirre über die Schultern, doch in ihren Augen lag eine merkwürdige Klarheit. “Sie haben das Buch gefunden”, sagte sie, kaum dass Märtens die Zelle betrat.
Es ist nicht das einzige. Der fugt verharte. Wie viele gibt es? Drei in unserem Haus, zwei in Königsberg und eines beim Mann mit dem silbernen Stock. Ihr Blick trübte sich, als sie fortfuhr. Sie denken, wir seien die Quelle, aber wir waren nur ein Glied. Ein notwendiges Glied, sagen sie.
Wer ist sie? Elisabeth schwieg lange, dann hob sie den Kopf, als wolle sie sich zu einer letzten Wahrheit durchringen. Die Gesellschaft für angewandte Anatomie. Der Vogt starrte sie an, unfähig sofort zu reagieren. Dieser Name, er hatte ihn schon einmal gehört in medizinischen Schriften, die seit Jahren unter Gelehrten kursierten.
Eine elitäre Verbindung von Ärzten, Forschern und Förderern, die behauptete, den Fortschritt der Wissenschaft über alles zu stellen. Gerüchte besagten, die Gesellschaft sei international mit Anhängern in Preußen, Dänemark, Russland und sogar England. Sie denken, der Mensch sei rohmaterial, flüsterte Elisabeth. Und Kinder, Kinder seien das reinste Material.
Noch während sie sprach, klang draußen das Leuten der Glocke des Hospitals. Eine Nonne rannte den Gang entlang, bleich im Gesicht. Herr Furgt, rief sie, Luise. Luise erinnert sich an einen Namen. Mertens eilte mit ihr in die Kinderstation. Die Zwölfjährige saß aufrecht, die Decke bis zum Hals gezogen, ihre Augen weit geöffnet. “Er hieß Carsten”, wisperte sie.
Und er war nicht allein. “Da war noch einer, der Mann, der immer sagte, es gehe um Fortschritt für das Reich.” “Wie hieß er?”, fragte Mertens. Luise zitterte. presste die Hände an ihre Ohren, als müsste sie einen Klang verdrängen. Dann hauchte sie ernst von Hardenberg. Mertens erstarrte, ein Name, der weit über Lübeck hinaus Gewicht hatte, ein Mitglied einer einflussreichen preußischen Familie, ein Mann mit Zugang zu Regierungskreisen und ein Mann, der angeblich seit Monaten zu Forschungszwecken durch Norddeutschland reiste.
In diesem Augenblick wusste der Vogt, die Wahrheit war größer, tiefer und gefährlicher, als er es sich je ausgemalt hatte. Und Lübeck stand erst am Anfang eines Albtraums, der Preußen erschüttern würde. Der Abend des März senkte sich wie ein schwerer Vorhang über die Stadt, doch niemand kam zur Ruhe.
Im Heiliggeisthospital liefen Diener, Nonnen, Ärzte und Wachen wie in einem angespannten Ameisenhaufen umher. Stadtfurgt Mertens hatte mittlerweile vier Berichte fertig gestellt und an das Berliner Innenministerium gesandt, doch er wußte, daß die Antworten Tage brauchen würden. Und so blieb Lübeck mit einer Wahrheit zurück, die immer größer wurde.
Die Erwähnung des Namens Ernst von Hadenberg hatte wie ein Donnerschlag gewirkt. Noch bevor Mertens darüber nachdenken konnte, welche Konsequenzen das haben würde, kam ein Bote in voller Eile ins Hospital gerannt. Er trug die graue Livre des Stadtrats und hatte Schnee auf den Schultern, obwohl es nicht schneite.
“Herrt”, rief er und übergab ein zusammengefaltetes Schriftstück, ein Schreiben aus Königsberg. Nur wenige Minuten, nachdem ihr Bericht abgesandt wurde. Mertens riß das Siegel und überflog die Zeilen. Das Papier war dünn, die Tinte hastig aufgetragen, es war anonym und nur ein Satz stand darauf.
Sehen Sie genauer hin, wem Hadenberg dient. Keine Unterschrift, kein Hinweis auf die Herkunft, nur dieser Satz wie ein kalter Finger auf seiner Wirbelsäule. Während Mertens noch darüber nachdachte, erschien Dr. Schubert am Ende des Flurs. Er wirkte erschöpft und älter als am Morgen. Er fogt: “Wir haben weitere Untersuchungen abgeschlossen.
Sie sollten das sehen.” Sie gingen gemeinsam in den kleinen Raum, in dem die detaillierten medizinischen Protokolle geschrieben wurden. Auf dem Tisch lagen zwölf neue Blätter, sorgfältige Beschreibungen der Kinder. Bei drei von ihnen, sagte Dr. Schubert leise, fanden wir Spur an einer Substanz, die ich seit Jahren nicht mehr gesehen habe.
Ein Betäubungsmittel, das vor allem in militärischen Lazaretten experimentell genutzt wurde. Nur wenige Ärzte beherrschen es. Wer? Fragte Mertens. Unter anderem ein gewisser Professor Carsten aus Königsberg. Wieder dieser Name. Die Fäden zogen sich enger. Die Verbindung war nicht länger Theorie. Sie war belegbar. Schubert holte tief Luft, bevor er fortfuhr. Einige der Verletzungen deuten auf wiederholte operative Eingriffe hin.
Eine Art systematischer Testreihe, nicht improvisiert, sondern geplant und immer dieselben Instrumente. Präzision auf akademischem Niveau. Mertens spürte einen wachsenden Druck in den Schläfen. Das war kein Zufall. Kein einzelner Wahnsinn. Eine Struktur mußte dahinter stehen, eine Leitung, ein Zweck. Plötzlich ertönte draußen im Hof eine hohe Stimme.
Ein Karren hielt vor dem Hospital, begleitet von zwei Wachen. Zwischen Decken und Kisten saß ein Mann, gefesselt, doch bei Bewusstsein. Ein Kutscher hatte ihn im Wald gefasst, als er versuchte Richtung Wisma zu fliehen. Sein Name: René Falk. Stallknecht. auf dem Gut Reichenbach.
Er war verschmutzt, blass und sichtlich verängstigt. Mertens ließ ihn sofort in einen Nebenraum bringen, setzte sich ihm gegenüber und starrte ihn an wie ein Messer, das langsam angesetzt wurde. “Sie wussten alles”, begann er ohne Umschweife. “Und sie werden uns jetzt erklären, was hinter diesem System steckt.” Der Mann zitterte. Ich habe nur getan, was man mir gesagt hat.
Ich wußte nicht, was oben besprochen wurde. Ich habe die Wagen vorbereitet, die Kinder. Wie viele Transporte? Unterbrach Mertens. Wie oft? Falk schluckte. Es begann vor 5 Jahren. Erst selten, dann jeden Monat. Immer nachts. Immer die gleiche Route. Über die Landstraße nach Greesmühlen, dann weiter nach Rostock oder Travemünde. Dort warteten Schiffe.
Schiffe? Wiederholte Mertens. Wohin? Nach Danzig, nach Riger, manchmal nach Stin. Ich weiß nicht, was auf der anderen Seite geschah. Der Vogt lehnte sich zurück. Das Bild wurde dunkler, größer, grenzenloser. Und Hadenberg? Fragte er schließlich. Der Stallknecht zuckte zusammen, als hätte der Name selbst Gewicht.
Er kam zweimal im Jahr, immer mit dem silbernen Stock. Als er das letzte Mal hier war, sagte er, sagte er, dass das Projekt beschleunigt werden müsse. Welches Projekt? Falk schüttelte heftig den Kopf. Das weiß ich nicht. Aber er sprach von neuen Studienrahmen, von Notwendigkeit, von Verantwortung der Oberschicht für wissenschaftlichen Fortschritt. Mertens starrte ihn schweigend an. Ein brennendes Unbehagen wuchs in ihm.
Der Mann log nicht. Er wußte wirklich nicht mehr, doch seine Worte reichten. Der Vogt stand abrupt auf, griff nach seinem Mantel und befahl zwei Wachen, sich bereit zu halten. “Wohin gehen Sie?”, fragte Dr. Schubert besorgt. Mertens antwortete ohne anzuhalten. Zum Gut Reichenbach. Wenn es weitere Bücher gibt, müssen wir sie heute finden, bevor jemand anders es tut.
Die Nacht war kalt, der Wind scharf, doch er spürte weder das eine noch das andere. Alles, was er fühlte, war die Nähe einer Wahrheit, die so gefährlich war, dass schon ihr Schatten tödlich sein konnte. Und irgendwo in dieser Wahrheit bewegte sich ein Mann mit einem silbernen Stock. Die Nacht verschluckte die Straßen zwischen Lübeck und dem gut Reichenbach.
Der Wind riss an Bäumen, deren Äste wie dünne Finger über den Himmel kratzten, während der Karren des Stadtvogts über den holbrigen Weg rollte. Zwei Wachen begleiteten ihn schweigend, entschlossen. Niemand wollte laut aussprechen, dass die Zeit gegen sie arbeitete. Zu viele wussten nun von den Funden. Und jeder Hinweis darauf, dass weitere Bücher existierten, bedeutete Gefahr.
Nicht nur für die Wahrheit, sondern für jeden, der sie suchte. Als sie das Gut erreichten, waren die Fackeln der Nachtwachen fast erloschen. Das große Herrenhaus lag dunkel da, wie ein lebloser Körper, dessen Adern vor wenigen Stunden noch pulsiert hatten. Mertens gab sofort Anweisungen. Alle Räume durchsuchen. Es darf kein Winkel unberührt bleiben.
Sucht nach versteckten Fächern, Doppelwänden, Schreibtischen, Truhen und achtet auf Stellen, an denen die Dielen uneben sind. Die Männer nickten. Sie wussten inzwischen, daß es hier keine gewöhnlichen Geheimnisse gab. Fast zwei Stunden gingen sie systematisch durch das Haus. Im Arbeitszimmer, zwischen schweren dunklen Möbeln und staubigen Regalen, fanden sie schließlich, was sie suchten.
Einer der Wachen hockte vor einer Kommode, deren Beine kunstvoll geschnitzt waren. Herr Furgt, rief er, sehen Sie das? Eine der Schubladen war ungewöhnlich kurz. Hinter ihrer Rückwand ertastete man einen schmalen Hohlraum. Mertens zog mit einem Messer die hölzerne Leiste heraus. Dahinter lag ein Bündel aus Leder, sorgfältig verschnürt.
Er hielt den Atem an. Als er das Bündel öffnete, sah er zwei weitere Bücher. Blau mit goldenen Ecken, identisch mit dem ersten. Doch eines von ihnen war noch bedeutender. Es trug kein Wappen der Universität Königsberg, sondern ein anderes. Ein Wappen, das jedem preußischen Beamten vertraut war. Der preußische Adler. Das war mehr als ein Hinweis. Es war ein politischer Sprengsatz.
In diesem Moment hörten sie im Hof Schritte. schnelle, hastige eine Wache stürmte herein. Her fogt unter den Stallungen, wir haben etwas gefunden. Sie liefen in die Kälte hinaus. Hinter dem Pferdestall gab es eine kleine unauffällige Hütte. Niemand hatte ihr bisher Bedeutung beigemessen. Doch nun stand die Tür offen und ein fauliger Geruch wehte ihnen entgegen.
Innen war es dunkel, bis auf eine Öllampe, die an einem Haken baumelte. Die Männer starrten auf den Boden. Ein frischer Erdhügel, daneben eine Schaufel. Mertens sank auf die Knie, fuhr mit der Hand über die feuchte Erde. “Graben”, sagte er tonlos. Die Wachen begann. Wenige Minuten später stießen sie auf Holz. Eine Kiste.

Klein, viel zu klein. Als sie den Deckel öffneten, legte sich eine tiefe Stille über den Raum. Darin lag ein Körper. Ein Junge, vielleicht sech Jahre alt, die Haut blass, der Körper sorgfältig gewaschen, fast vorbereitet, als sollte er jemandem präsentiert werden. Kein Blut, keine Gewalt der letzten Stunde, aber ein sauberer Einschnitt am Bauch.
Dr. Schubert wäre in diesem Moment der einzige gewesen, der die Wahrheit sofort erkannt hätte, doch er war nicht hier. Mertens wußte dennoch, was es bedeutete. Ein vorbereitetes Präparat, ein Objekt für den Transport, ein Untersuchungsstück, kein Mensch mehr in den Augen derer, die ihn in diese Kiste gelegt hatten.
Er war für die Abreise bestimmt, flüsterte einer der Männer. Vielleicht schon morgen. Mertens schloss die Augen. Niemals in seinem Leben hatte er eine Last wie diese gespürt. Er stand auf, drehte sich zu den Wachen, sichert die Hütte. Niemand betritt sie ohne meine Genehmigung. Der Junge wird ins Hospital überführt und schreibt in euren Bericht. Das war kein Unfall. Kein verzweifelt verschartes Opfer.
Dies war Vorbereitung. Während sie den Ort versiegelten, hörten sie aus der Ferne das Donnern eines Pferdewagens. Ein Kutscher kam im schnellen Galopp die Landstraße entlang. Die Laterne schwankte wild im Wind. Er rief schon von weitem: “Her furgt! Die Stadt bestellt sie sofort zurück. Ein Bote ist aus Berlin eingetroffen.
Mertens blickte noch einmal auf die beiden neu entdeckten Bücher in seiner Hand, dann auf das Herrenhaus, in dem die Schatten der Schuld noch immer klebten und schließlich auf die kalte Erde, in der der kleine Körper gelegen hatte. Die Wahrheit fraß sich wie Feuer durch seine Gedanken. Berlin wußte Bescheid und wenn Berlin reagierte, bedeutete das nur eines. Das Ausmaß war größer, als Lübeck allein tragen konnte.
Als Mertens in die Stadt zurückkehrte, hatte Lübeck seine gewohnte Form verloren. Die Straßen, sonst erfüllt von dem gedämpften Lärm der Händler, wirkten wie eingefroren. Menschen standen gruppenweise zusammen, flüsterten, sahen sich ständig um, als Laure etwas Unsichtbares in den Schatten.
Nachrichten hatten sich schneller verbreitet, als es ein offizielles Schreiben jemals könnte. Und die Ankunft eines Boten aus Berlin hatte die Unruhe nur verschlimmert. Der Bote wartete im Rathaus in einem kleinen fensterlosen Raum, der normalerweise für geheime Beratungen genutzt wurde. Er war ein magerer Mann in der typischen dunkelblauen Uniform des Innenministeriums mit einem Gesicht, das wie aus trockenem Papier gefertigt wirkte. Sein Name: Konrad Elas, geheimer Regierungsrat.
Herr Stadtfogt, begann er ohne Grußformel. Ihre Berichte sind angekommen. Man hat mich entsandt, um die Lage einzuschätzen, bevor der königliche Kommissar selbst eintrifft. Und wie ist die Einschätzung des Ministeriums? Fragte Mertens. Elas zog ein Dokument aus seiner Mappe.
In Berlin hält man den Fall für potenziell staatsgefährdend. nicht wegen des Verbrechens an sich, so grausam es ist, sondern wegen der Namen, die darin auftauchen. Haden murmelte Mertens. Der Regierungsrat nickte kaum merklich. Er gehört zu einem weit verzweigten Netzwerk einflussreicher Familien. Dass sein Name in einem solchen Zusammenhang erscheint, könnte politisch verheerend sein.
Mertens spürte eine Mischung aus Zorn und Erschöpfung mit Verlaub, Herr Regierungsrat. Kinder wurden gefoltert und verkauft. Politische Befürchtungen dürfen dabei keine Rolle spielen. Elas Blick blieb unbewegt. Realität und Moral sind selten Verbündete. Was erwartet Berlin von uns? Absolute Diskretion. Keine Veröffentlichung. Keine Verhaftung ohne vorherige Genehmigung.
Und sie sollen er machte eine kurze Pause diese Bücher nicht aus der Hand geben. Mertens presste die Lippen zusammen. Sie bleiben in Lübeck unter meiner Aufsicht. Elas Augen verengten sich. Doch bevor er etwas erwidern konnte, klopfte es heftig an der Tür. Eine Wache stürmte herein. Herr Furgt, einer der Jungen, der älteste. Er ist wach und er spricht. Der Junge lag im Hospital auf einer schmalen Liege, umgeben von drei Nonnen.
Er war vielleicht 13 oder 14h, Hager, mit eingefallenen Wangen, aber seine Augen, dunkel, voller ruhelosem Feuer, ließen keinen Zweifel. Er hatte gesehen, was andere überlebt hatten, aber nicht verstehen durften. Als Mertens näher kam, hob der Junge den Blick. “Sie suchen den Mann mit dem Stock”, sagte er ohne Einleitung.
Die Worte klangen wie aus einem tiefen Brunnen gezogen. Ich kenne seinen Namen. Mertens Herz schlug schneller. Du darfst ruhig sprechen. Niemand tut dir hier etwas. Er heißt Hardenberg, flüsterte der Junge. Aber er ist nicht der Kopf, nicht der, der befiehlt.
Wer dann? Der Junge schloss kurz die Augen, atmete tief ein und wieder aus. Dann öffnete er die Lieder und sah direkt in die des Vogts. Wir nannten ihn den Grauen. Eine Nonne bekreuzigte sich unwillkürlich. Mertens blieb ruhig. Wie heißt er wirklich? Der Junge zögerte lange. Er war groß, schlank, immer in einem Mantel. Eine Stimme, wie kalter Nebel.
Sie sagten, er sei ein Professor, aber keiner von Königsberg. Er kam aus Berlin. Ein weiterer Akademiker. Der Junge nickte. Er stellte Fragen, viele. Er berührte nie ein Kind, nie? Aber wenn er kam, wurden alle angespannt. Die Aufseherin sagte, er sei derjenige, der die Regeln ändere.
Wie sah sein Gesicht aus? Ich habe es nie richtig gesehen”, flüsterte der Junge. Er trug ein Tuch, manchmal eine Brille mit dunklem Glas, aber seine Hände, er hielt inne. Seine Hände sind weiß, so weiß wie Papier und sie zittern leicht, wenn er schreibt. Mertens tauschte einen Blick mit Dr. Schubert, der inzwischen hinzugetreten war.
Zittern, Akademiker, Berlin, eine hohe Position. Hat er seinen Namen irgendwo hinterlassen? Ein Dokument, eine Unterschrift? Der Junge dachte nach. Dann nickte er. Einmal im Keller, fiel ein Blatt vom Tisch. Ich hob es auf. Da stand ein Name oder ein Titel oder mehrere Buchstaben.
Ich kann mich nicht gut erinnern, aber es war etwas wie E H von St. Seine Stimme brach ab und er begann heftig zu husten. Mertens legte ihm die Hand auf die Schulter. Das reicht. Du warst sehr tapfer. Doch innerlich bebte der Vogt e H von St. Ein Titel, ein Name, ein Adelsprädikat. Noch bevor er weiterdenken konnte, stürmte erneut eine Wache in den Raum. Herr furgt, keuchte sie. Einer der Gefangenen ist verschwunden.
Wer? Der Stallknecht René Falk. Seine Zelle steht offen und auf dem Boden liegt ein Brief. Mertens sah auf und sein Magen zog sich zusammen. Ein Brief? Ja, Herr Vogt und er trägt das Siegel aus Königsberg. Die Temperatur im Raum schien plötzlich zu fallen. Jemand aus Königsberg war nahe genug gewesen, um den Mann zu erreichen.
Jemand, der verhindern wollte, dass er mehr sagte. Und jemand, der keine Angst davor hatte, ein Siegel zu hinterlassen als Warnung oder als Botschaft. Mertens nahm den Brief an sich, er öffnete ihn. Nur ein einziger Satz stand darin: Schweigen ist Leben. Und darunter in blasser Tinte Ehaf Day.
Der kalte Nebel schien sich nicht nur durch die Fenster zu schleichen, er stand plötzlich in Märtens eigenen Gedanken. Die Spur war klar, der Gegner war mächtig und er wusste, dass man ihn suchte. Noch in derselben Stunde wurde das gesamte Rathaus alarmiert. Wachen durchkämten die Straßen, die Tore der Stadt wurden geschlossen und niemand durfte das Hospital ohne ausdrückliche Genehmigung verlassen.
Doch es war zu spät. Ren Falk blieb verschwunden. Die einzige Spur war der Brief mit den Initialen EHV sein ein Gespenst aus Berlin, das nun deutlich genug gezeigt hatte, wie weit sein Arm reichte. Mertens stand am Fenster des Beratungszimmers im Rathaus, die Hände auf die Fensterbank gestemmt. Draußen flackerte das Licht der Laternen im Wind.
Die Stadt wirkte wie eine Festung im Sturm, doch in Wahrheit war sie offen wie ein unverschlossener Schrank. Wir müssen das entschlüsseln”, sagte er. Der Bote aus Berlin, Regierungsrat Elas, der schweigend im Raum stand, räusperte sich. Diese Initialen könnten vieles bedeuten. Ein Professor, ein hoher Beamter, ein Adelstitel, von zweit vielleicht von Steinberg, von Städten, von Storch.
Preußen hat zahlreiche Linien. Mertens wandte sich abrupt zu ihm um. Sie wissen mehr als sie sagen. Warum wurden sie wirklich geschickt, um Informationen zu sammeln oder um sie zu begrenzen? Elas blieb ungewöhnlich still. Sein Blick wich kurz aus, kehrte dann zurück, nüchtern wie zuvor. Ich wurde geschickt, um zu verhindern, dass dieser Fall dem Königreich schadet.
Der Fall schadet Kindern. Das reicht. Das Reich besteht aus mehr als Kindern. Herr Stadtfurgt, dann ist das Reich weniger wert, als es vorgibt. Ein Herzschlag lang herrschte absolute Stille, dann klopfte es an der Tür. Eine Schwester aus dem Hospital stand dort, nervös, fahrig. Erfogt: “Luise! Sie bittet dringend um sie.
Sie sagt, sie hat etwas geträumt oder erinnert. Sie weiß nicht, was es ist, aber es klingt wichtig. In der Kinderstation war das Licht gedämpft, eine Hand voll Kerzen flackerte und der Duft von Kräutersalben lag in der Luft. Luise Adler saß im Bett, den Rücken durch ein Kissen gestützt.
Ihre Stirn war schweißnass, doch ihre Augen hatten einen klaren, fast unnatürlichen Ausdruck. Herr Furgt, begann sie, ich erinnere mich an etwas, etwas Geräusch. Mertens setzte sich neben sie. Du mußt nichts sagen, was dir Angst macht. Aber es macht mir keine Angst, es macht mir klar. Sie atmete tief ein. Manchmal hörten wir ihn kommen, den Grauen. Er sprach nie laut, aber der Boden vibrierte.
Nicht stark, aber wie wie wenn etwas Schweres unten im Schacht stand. Ein Metallkasten oder ein Gerät. Ein Gerät. Luise nickte. Hadenberg und die Aufseherinnen nannten es den Rahmen. Sie sagten: “Der Graue bringe ihn aus Berlin.” “Für die Prüfung.” “Was für Prüfung?” Luise antwortete nicht sofort. Ihre Finger krallten sich in die Decke.
Kinder mussten stehen stundenlang in dem Rahmen. Er machte Geräusche, Summen. Und wenn der Graue etwas notierte, vibrierte es wieder. Mertens tauschte einen Blick mit Dr. Schubert. Ein summendes Gerät, ein Rahmen, vibrierender Boden. Das klang nicht nach altem medizinischem Werkzeug.
Es klang wie frühe Experimente mit mechanischen oder physikalischen Apparaturen. Doch im Jahr 1834 und in einer verborgenen Kammer unter einem Gut, kannst du dich an den Namen des Geräts erinnern oder an Worte, die sie benutzten? Nur ein flüsterte Luise. Sie nannten es den grauen Apparat. In diesem Moment stürmte eine Wache herein. Herr Vogt sofort.
Es gibt Unruhe vor dem Hospital. Mertens ging hinaus. Auf der Straße hatten sich dutzende Menschen versammelt. Einige waren Eltern, andere Nachbarn, wieder andere nur neugierige Bürger. Aber ihre Stimmen vermischten sich zu einem aufgebrachten Chor. Man sagt, die Kinder haben Pest, rief einer. Man sagt, Lübeck ist verseucht.
Ein anderer schrie: Man sagt, der Stadtfucht verhaftet Unschuldige und lässt Mörder frei. Gerüchte, schnell wie Feuer. Jemand schürte sie. Mertens wusste sofort, wer davon profitierte. Jene, die wollten, daß Lübeck sich in Panik verlor, statt konzentriert zu ermitteln. Elas trat an seine Seite. Sie sollten die Menge beruhigen.
Beruhigen, entfuhr es Märtens. Während im Krankenhaus Kinder um ihr Leben kämpfen und irgendwo in Preußen ein Mann mit silbernem Stock frei herumläuft. Wenn die Stadt kippt, verlieren sie jede Handlungsfähigkeit, sagte Elas ruhig. Chaos hilft nur ihren Gegnern. Mertens trat einen Schritt auf die Menge zu. “Lübecker”, rief er mit fester Stimme, die den Lärm durchschnitt. “Es gibt keine Pest, keine soluche.
Die Kinder sind Opfer eines Verbrechens und wir werden es vollständig aufklären.” “Wer steckt dahinter?”, rief jemand. Mertens wollte antworten, doch dann sah er ihn. Am Rand der Menge stand ein Mann, still, unbeweglich, in einem langen, grauen Mantel. Ein Hut tief ins Gesicht gezogen, in der Hand ein Stock mit silbernem Griff. Mertens Herz setzte kurz aus.
Er starrte direkt in die Richtung, doch die Gesichtsmerkmale des Mannes blieben im Schatten verborgen. Der Graue. Der Mann, der niemals selbst handelte, doch überall Spuren hinterließ. Der Mann, dessen Initialen nun in Märtens Jackentasche lagen. EV Sand. Der Fremde hob minimal den Kopf, als erkenne er Märtens.
Dann trat jemand zwischen sie und im nächsten Moment war der Platz, an dem er gestanden hatte, leer. Der Vogt stürmte los, schlug sich durch die Menschenmenge, riss zwei Wachen mit sich. Dort hinter dem Brunnen. Er darf nicht entkommen. Doch hinter dem Brunnen war nur Wind und Stille. Keine Spuren im Schneematsch, kein Schatten, kein Schritt.
Nur ein Gefühl, das Mertens wie ein Schlag traf. Der Graue war nicht geflohen. Er hatte sich gezeigt, bewusst eine Warnung oder eine Einladung. Die Straßen Lübex standen noch immer unter Strom. Der Wind frß sich durch die Gassen, die Laternen flackerten und ließen die Gesichter der Bürger wie geisterhafte Masken erscheinen. Doch trotz des Tumults war eines klar geworden. Der graue hatte sich gezeigt.
absichtlich in aller Öffentlichkeit. Und das bedeutete nur eines. Er fühlte sicher, so sicher, dass er selbst das Risiko einging, gesehen zu werden. Mertens kehrte ins Hospital zurück, begleitet von zwei Wachen. Seine Gedanken überschlugen sich. Warum war der Graue in Lübeck? Um zu beobachten, um jemanden zum Schweigen zu bringen? Oder um etwas zu holen, dass er verloren hatte? Der Stallknecht war tot oder entführt.
Das wußte Mertens inzwischen mit bitterer Gewissheit. Und das blaue Buch in seinen Händen war wahrscheinlich nicht nur ein Dokument, sondern ein Schlüssel. Als er das Hospital betrat, empfing ihn Dr. Schubert mit einer Miene, die trostloser nicht hätte sein können. “Was ist geschehen?”, fragte Mertens. Der Junge, sagte der Arzt ohne Umschweife, derzehnjährige.
Er hat weitergesprochen, nachdem sie fort sind, und kurz darauf brach er zusammen. Ein Anfall? Nein. Schuberts Gesicht verfinsterte sich. Vergiftung, feindosiert, langsam wirkend, wahrscheinlich verabreicht, bevor wir die Kinder fanden. Mertens ballte die Fäuste. Er wird überleben. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Es ist ein Gift, dass ich nur aus Aufzeichnungen kenne.
Es lässt sich nicht schnell neutralisieren. Der Fucht spürte erneut diese lähmende Mischung aus Wut und Hilflosigkeit. Der Graue ließ keine losen Enden zurück, nie? Und doch hatte der Junge noch einen letzten Hinweis hinterlassen.
Schwester Johanna eilte herbei und übergab Märtens ein zusammengefaltetes Stück Stoff. Darauf waren mit dünner, kaum sichtbarer Kreideelinien gezogen. Drei Kurven, ein Winkel, ein Kreis. Mertens runzelte die Stirn. Was ist das? Er zeichnete es kurz, bevor er zusammenbrach, flüsterte die Nonne, als wollte er etwas oder jemanden zeigen. Dr. Schubert betrachtete das Muster.
Das ist kein Bild, das ist eine Markierung, eine technische Skizze. Für den grauen Apparat? Fragte Mertens. Das wäre möglich, antwortete Schubert. Und wenn es so ist, deutet es auf etwas hin, das viel komplexer ist als primitive Instrumente. Vielleicht eine frühe Form experimenteller Mechanik oder galvanischer Versuche.
Ein weiterer Stich: Berlin, Akademiker, physikalische Apparaturen und ein Mann, der nie seine Hände beschmutzte, aber immer alles kontrollierte. Der Graue. Noch bevor Mertens weiterdenken konnte, betrat Regierungsrat Elas den Raum. Er wirkte blassß, nervös. “Wir haben eine neue Nachricht aus Berlin”, sagte er und zog ein Dokument hervor.
“Ein ausdrücklicher Befehl des Innenministeriums. Der Fall Reichenbach soll vorerst nicht öffentlich gemacht werden. Alle Materialien sind unter Verschluss zu halten.” Mertens trat einen Schritt näher. “Und wenn ich mich weigere?” Elas Stimme wurde leiser. Dann wird man sie absetzen und einen Beamten schicken, der sich an die Vorgaben hält. Die Vorgaben schützen Verbrecher zischte Mertens. Elas antwortete nicht.
Seine Hände zitterten leicht, vielleicht aus Angst oder aus Wissen oder aus Loyalität gegenüber einem System, das sich selbst über alles stellte, auch über Wahrheit. Mertens atmete tief ein. Sie wollen schweigen, aber die, die das hier getan haben, schweigen nicht.
Sie arbeiten weiter, sie transportieren weiter, sie kaufen weiter. Das Reich ist nicht bereit für einen solchen Skandal, sagte Elas tonlos. Dann ist das Reich schwächer, als ich dachte. Eine Wache stürmte herein. Herr Fogt, sie müssen sofort kommen. Eine der Nonn hat in den Sachen der Aufseherin etwas gefunden. Sie eilten in einen kleinen Nebenraum im Hospital. Auf dem Tisch lag ein Mantel.
Der Mantel der Aufseherin, die zusammen mit Elisabeth von Reichenbach festgenommen worden war. Schwester Agnes zeigte auf eine unscheinbare Naht. Ich habe den Faden gefühlt. Er war zu fest. Und sehen Sie, sie zog vorsichtig eine winzige Metalldose aus der Innenseite des Mantels. Darin lag ein Brief, versiegelt mit einem grauen Wachsabdruck.
Keine Initialen, kein Wappen, nur ein stilisierter Kreis mit drei Linien, exakt dieselbe Markierung, die der Junge gezeichnet hatte. Mertens Herzschlag beschleunigte sich. Ein Symbol, ein Zeichen, ein Erkennungsmerkmal. Öffnen Sie es, flüsterte Schwester Agnes. Mertens brach das Siegel. Ein einziges Blatt lag darin.
Darauf in sauberer, erschreckend ruhiger Handschrift: “Der Rahmen bleibt, der Apparat folgt, der Norden ist nur der Anfang. Kein Name, keine Unterschrift, nur ein abschließender Zusatz. Euer Fortschritt ist unser Schweigen.” Mertens fühlte, wie der Boden unter ihm wankte. Der Graue plante weiter und der Norden, Lübeck, Mecklenburg, die Küste war nur ein Teil eines größeren Experiments.
Als er den Brief sinken ließ, sagte Elas mit brüchiger Stimme: “Herrt, verstehen Sie jetzt, warum Berlin schweigt?” Mertens drehte sich zu ihm um. Ich verstehe, warum Berlin Angst hat, aber ich schweige nicht. Und irgendwo in der Stadt, im Dunkel zwischen zwei Laternen, stand vielleicht schon jemand und lauschte. Die Nacht war tief und doch wirkte Lübeck hell vor Unruhe. Jeder Schritt durch die Gassen klang lauter als sonst.
Jeder Schatten schien sich zu bewegen. Der Graue war in der Stadt und er wusste, dass der Stadtvog die Fäden seines Werkes erkannt hatte. Mertens verließ das Hospital erst kurz vor Mitternacht. Der Wind trug den Geruch von kaltem Regen und Hafenwasser heran und irgendwo schlug eine Tür immer wieder gegen ihren Rahmen. Er wusste, Schlaf war unmöglich.

Die Wahrheit stand kurz davor, sich zu offenbaren und zugleich drohte sie, unter neuen Lügen begraben zu werden. Er ging die schmale Straße entlang, die zum Rathaus führte, als eine Gestalt aus einer Seitengasse trat. Her flüsterte eine Frauenstimme. Mertens griff instinktiv nach dem Griff seines Kurzdegens, doch die Gestalt hob die Hände.
Eine junge Frau in grober Leinenkleidung mit verweinten Augen. “Ich Ich war eine der Mägte auf dem Gut”, sagte sie leise. “Mein Name ist Anna Freit. Sie sind geflohen. Sie nickte. Und ich habe Angst, daß man mich findet. Aber ich kann nicht schweigen. Mertens bedeutete ihr in den Schatten zu treten. Sprechen Sie. Anna presste die Hände gegeneinander.
Die Aufseherin, sie hatte mehr Angst vor ihm als vor jedem anderen, vor dem Grauen. Wenn er kam, mussten wir alle raus. Niemand durfte ihn sehen. Aber einmal, einmal sah ich etwas. was ich nicht sehen sollte. Was haben Sie gesehen? Einen zweiten Eingang. Mertens erstarrte. Wo? Nicht im Haus, im Wald, unter einer alten Ulme. Eine Falltür aus Stein und Eisen mit einem Griff wie ein Haken.
Zwei Männer kamen heraus, beide in langen, grauen Mänteln. Einer hatte den silbernen Stock, der graue und ein Begleiter. Wann war das? Vor etwa fünf Wochen. Fünf Wochen, kurz bevor die Transporte häufiger geworden waren, kurz bevor der Druck auf die Kinder zunahm, kurz bevor alles eskalierte. Können Sie mir den Ort zeigen? Anna nickte zögerlich. Aber nicht heute Nacht.
Wenn Sie dort sind, ich überlebe es nicht. Mertens legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sie werden Schutz bekommen und sie werden leben. Als er weiterging, fühlte er die Last der Erkenntnis immer schwerer. Es gab einen zweiten Zugang, einen, den die Reichenbachs vielleicht nicht einmal vollständig verstanden hatten, einen, der direkt von außerhalb kontrolliert wurde. Im Rathaus wartete Regierungsrat Elas.
Seine Augen waren müde, aber nicht nur vor Erschöpfung, eher als würde er einen inneren Kampf führen. Herr Fogt, begann er vorsichtig. Ich habe über ihren Standpunkt nachgedacht und ich bin nicht blind. Ich sehe, was hier geschieht. Aber verstehen Sie, wenn wir die falschen Namen offenbaren, bricht mehr zusammen als eine Handvoll Karrieren. Dann soll es brechen.
Sie wissen nicht, wovon sie sprechen. Oh doch, sagte Mertens fest. Ich habe die Kinder gesehen. Elas senkte den Blick. Was sie in der Hand halten, diese Bücher, sie sind das gefährlichste Material, das ich in meiner Laufbahn gesehen habe. Und ich fürchte, jemand hat Berlin längst informiert, dass sie sie besitzen.
Wer? Jemand mit Einfluss, vielleicht mehrere. Eine Pause. Dann flüsterte er so leise, dass es kaum hörbar war. Vorsicht, Herr Stadtvogt. Manche Männer sterben nicht durch Schwert oder Kugel, sondern durch einen Namen. Am frühen Morgen, als die ersten grauen Streifen am Himmel erschienen, kehrte Mertens ins Hospital zurück. Schwester Johanna lief ihm entgegen.
Luise ist wach, aber sie wirkt anders. Sehr klar. Zu klar. Die Zwölfjährige saß im Bett, als er eintrat. Ihre Hände lagen gefaltet auf der Decke und ihre Augen waren ruhig. Eine unheimliche Ruhe. “Herforgt”, sagte sie. “Ich erinnere mich an seine Stimme.” “An wessen Stimme?” “An die des Grauen.” Mertens setzte sich. Er sagte einmal etwas, als die Aufseherin und Hadenberg im Raum waren.
“Ich weiß nicht, ob es an uns gerichtet war, aber ich erinnere mich an jedes Wort.” Sie schlooss kurz die Augen. Dann sprach sie langsam: “Klar, der Norden ist nur der Anfang. Wenn der Apparat steht, folgt die Hauptstadt und dann das ganze Reich.” Mertens Atem stockte. Das war kein lokales Verbrechen, kein Netzwerk alleiniger Ärzte. Das war ein Plan.
Ein Plan, der weit über Lübeck hinausging. Ein Plan, der nach Berlin zielte. Ein Plan, der Kinder als Material betrachtete und Wissenschaft als Alibi. Hat er einen Namen genannt? Fragte Mertens mit trockener Kehle. Luise nickte. Ja. Er nannte einen Mann, dem er Bericht erstattet.
Wen? Sie flüsterte nur ein einziges Wort und das Wort fiel wie ein Stein in einen tiefen Brunnen. Staatsrat. Mertens erstarrte. Ein Titel. kein gewöhnlicher Beamter, kein Professor, ein Mann auf einer der höchsten Ebenen Preußens, ein Mann, dessen Macht über Städte, Universitäten und Gerichte reichte. Ein Mann, der im Verborgenen ein Experiment leitete, dessen Ausmaß unvorstellbar war.
Bevor er reagieren konnte, läutete die Glocke des Hospitals schrill. Eine Wache rannte herein. Herr furgt. Jemand versucht das Hospital zu betreten. Er trägt einen grauen Mantel. Mertens sprang vom Bett auf. Die Luft wurde plötzlich eisig. Der Graue war zurück. Und diesmal kam er nicht, um zu beobachten.
Er kam, um etwas zu holen oder um jemanden zum Schweigen zu bringen. Der Alarmruf halte durch die Gänge des Hospitals wie ein Peitschenknall. Türen wurden zugeschlagen, Schritte hasteten, Stimmen überschlagen sich und mitten in diesem aufgewühlten Durcheinander stand Stadtfogt Mertens für einen Herzschlag lang vollkommen still, als hätte jemand die Welt um ihn herum eingefroren.
Der Graue war hier im Hospital, dort, wo die Kinder lagen, dort, wo die Zeugen waren, dort, wo die Wahrheit verwahrt wurde. Mertens riss sich los und rannte den Hauptflur entlang. Die Wachen folgten ihm. Ihre Stiefel schlugen hart auf den Steinboden. Auf Höhe der Kapelle sah er Schwester Agnes bleich, fassungslos.
Er ging nach oben rief sie, zum Dachboden. Alle Zugänge versperren, rief Mertens. Keiner geht raus, keiner hinein. Der Dachboden des Hospitals war ein Gewirr aus alten Kisten, vergilbten Kirchenbann, verstaubten Schränken, Spinnweben und knarrenden Balken. Ein Ort, den fast niemand betrat. Perfekt für einen Mann wie ihn.
Einen, der im Schatten arbeitete, einen, der Spuren verwischte. Als Mertens die enge Treppe hinaufstürmte, hörte er Schritte über ihm, nicht hastig, nicht flüchtend, gemessen, als würde der Mann oben warten. Der Vogt erreichte den Dachboden und blieb stehen. Ein schwaches Licht fiel durch ein kleines Rundfenster. Kälte kroch durch die Bretter.
“Kommen Sie näher, Herr Stadtvogt”, sagte eine Stimme. “Klar, ruhig.” Eine Stimme wie kalter Nebel, genau wie der Junge sie beschrieben hatte. Eine Gestalt trat aus den Schatten, grauer Mantel, schwarzer Hut und in der Hand der silberne Stock, dessen Griff matt im Licht glitzerte. Das Gesicht halb verborgen, nur die untere Hälfte sichtbar.
Schmale Lippen, blasse Haut, keine Panik, keine Hast. Ein Mann, der daran gewöhnt war, daß die Welt sich vor ihm beugte. “Sie hätten die Bücher nicht finden sollen”, sagte der Graue. Mertens Hand wanderte an den Gürtel zum Kurzdegen. “Und sie hätten die Kinder nicht anfassen sollen.” “Ich fasse niemals an”, erwiderte der Fremde gelassen. “Ich beobachte. Ich ordne an.
” Andere führen aus. Er tippte mit dem Stock auf den Boden. Ein leises Klingen. Wer sind Sie? fragte Mertens. Ein beinahe höfliches Lächeln, ein Diener des Fortschritts und ihr Name, der Graue hob den Kopf ein Stück. Das Licht streifte einen Schatten seiner Brille, dunkel getöntes Glas.
Mein Name bedeutet ihn nichts, doch der Mann, dem ich diene, sein Name bedeutet alles. Der Staatsrat, der Graue, nickte sanft. Sehr gut. Sie sind schneller, als man erwartet hätte. Mertens spürte, wie die Anspannung im Raum vibrierte. Warum sind Sie hier? Ich nehme mit, was mir gehört.
Wen? Die Bücher, die Kinder? Der Graue antwortete mit einem fast flüsternden Wort: Beweise. Plötzlich hörte man unten schreie, hastige Schritte. “Er ist nicht allein”, rief eine Wache aus dem Treppenhaus. Zwei weitere Männer, beide bewaffnet. Der Graue neigte den Kopf. Ich sagte doch, ich fass nicht an. Mertens zog den Kurzdegen. Die Klinge glänzte matt in der Dunkelheit. Sie kommen hier nicht hinaus.
Sie überschätzen ihren Einfluss, Herr Stadtvogt, und unterschätzen mein. Dann geschah alles in Sekunden. Ein dummverschlag von unten. Eine Wache stürzte gegen die Wand. Ein zweiter Schrei. Zwei Männer in grauen Mänteln drang die Treppe hoch. Mertens stellte sich breit vor den Grauen, doch dieser bewegte sich nicht einmal. Er führte keine Waffe. Er brauchte keine. Die zwei grauen Männer stürmten auf Märtens zu.
Der Vogt parierte den ersten Hieb, stieß den Kurzdegen vor, traf einen der Angreifer an der Schulter. Der Mann stürzte zurück. Der zweite jedoch packte Mertens am Arm, riss ihn herum. Der Fucht verlor fast das Gleichgewicht, schlug aber mit dem Knauf der Waffe zu und traf den Mann an der Schläfe. Ein Schrei, ein Sturz, Stille. Mertens keuchte. Blut tropfte ihm von der Stirn.
Der Graue stand noch da, unverändert ruhig. Sie sind, wie man mir sagte, murmelte er, starr, unbestechlich, unvorsichtig. Er trat einen Schritt zurück, als hörte er etwas, das Märtens entging. Dann hob er die rechte Hand, die im Halbdunkel fast weiß schimmerte, und zeigte hinter Mertens. Mertens drehte sich herum.
Im Türrahmen stand ein weiteres Mädchen, klein, mager und mit einem Messer in der Hand. Ihre Augen leer, nicht kindlich. “Leer. “Sie haben sie gebrochen”, flüsterte Mertens. Nein, sagte der Graue. Wir haben sie erzogen. Das Mädchen hob das Messer. Ein Reflex, ein Befehl, der tief in ihr verankert war. Mertens stellte sich nicht gegen sie.
Er kniete vor ihr nieder und sagte leise: “Du musst nichts tun, Kind, nicht mehr. Es ist vorbei.” Das Messer in ihrer Hand zitterte, ihre Lippen bebten. Doch bevor die Entscheidung fiel, riss jemand das Mädchen zurück. Schwester Johanna, “Nicht mit ihm!”, rief sie und zog das Kind an sich. “Nicht mit ihm!” Der Zauber war gebrochen.
Der Graue wusste es. Er sah Märtens an, als würde er eine Karte neu lesen. Dann verneigte er sich ein wenig, wie vor einem gleichrangigen. “Dies ist nicht das Ende”, sagte er. “Nein,” antwortete Mertens. “Es ist der Anfang.” Der Graue trat zurück und in genau diesem Moment schmetterte ein lauter Knall die Dachbodentür auf.
Soldaten, eine Kompanie in preußischer Uniform. Der Mann im grauen Mantel wandte sich nicht einmal um. Er trat ins Halbdunkel zwischen Balken und alte Truhen, und als die Soldaten den Dachboden fluteten, war er verschwunden wie ein Schatten. Zurück blieben nur der silberne Stock, der am Boden lag, und ein einzelnes Wort, das er mit Kreide an die Wand geschrieben hatte. Bald.
Der Dachboden war noch voller Staub, Kampfgeruch und aufgewühlter Schatten, als die Soldaten sich formierten. Der Kompanieführer, Hauptmann Albrecht von Möllenbeck, ein Mann mit kantigem Gesicht und scharfer Stimme, trat zu Märtens. Herr Stadtvogt, wir kamen, sobald der königliche Befehl eintraf. Sie sagten ein hochrangiger Verdächtiger sei hier gewesen. Mertens deutete auf den silbernen Stock auf dem Boden.
Er war hier, der Graue. Und er ist entkommen. Der Hauptmann kniete, hob den Stock mit einem Tuch auf. Sein Blick verengte sich. Er ist von erstklassiger Arbeit, Berliner Manufaktur, ein Symbol von Stand und Macht, ergänzte Mertens. Johanna hielt das Mädchen fest, das noch immer zitterte. Er hat sie benutzt wie eine Waffe.
Nicht nur sie, sagte Mertens, sondern viele, und viele davon werden wir nie sehen. Er nahm den Stock vorsichtig in die Hand. Die Gravur am unteren Rand, ein kaum sichtbares Muster, entsprach exakt jenem Zeichen, dass der Junge und die Nonne in den letzten Stunden gefunden hatten. Drei Linien und ein Kreis, ein Symbol, ein Siegel, ein Bekenntnis.
Hauptmann, sagte Mertensruhig, wir müssen alles sichern. Das Hospital, das Rathaus, die Fundorte, kein Brief, kein Dokument, keine Zeugenaussage darf verloren gehen. Das wird schwierig, erklärte der Offizier mit steinerndem Gesicht. Lübeck ist unruhig und ich bin nicht sicher, ob alle in dieser Stadt gute Absichten haben. Das bin ich auch nicht, murmelte Mertens.
Wenig später hielt man im Rathaus eine Krisensitzung ab. Das Zimmer war voll. Soldaten, Wachen, Schwestern aus dem Hospital, Dr. Schubert, Regierungsrat Elas und einige Ratsmitglieder. Kerzen brannten bis zum Wachsrand herunter, als würden sie den Raum eher bedrängen als erhellen. Herr Torwald, der Bürgermeister, wirkte erschüttert.
Wir müssen zugeben, dass die Situation uns entgleitet. Wenn Leute wie dieser Graue in der Stadt sind und sich sogar ins Hospital wagen, was hält sie davon ab, unsere Archive, unsere Zeugen und selbst anzugreifen? Nichts sagte Mertens. Darum müssen wir schneller sein als sie. Regierungsrat Elas räusperte sich.
Es gab eine neue Botschaft aus Berlin. Der königliche Kommissar ist unterwegs. Wann wird er eintreffen? In zwei Tagen. Zwei Tage. Zwei Tage waren eine Ewigkeit für jemanden wie den Grauen. Zwei Tage waren genug Zeit, Zeugen zu töten, Beweise zu stehlen, Spuren zu verwischen. “Wir dürfen nicht warten”, sagte Mertens. “Wir müssen handeln.
” “Wie?”, fragte ein Ratsherr. “Wir wissen nicht einmal, wer der Staatsrat ist, von dem der Graue spricht.” “Doch”, sagte Elas unerwartet. Seine Stimme war tonlos, aber fest. Ich glaube, ich habe einen Verdacht. Die Stille im Raum wurde so dicht, dass man sie hätte berühren können.
Es gibt im Innenministerium nur einen Mann mit Titel Staatsrat, der direkten Einfluss auf die Universitäten und medizinischen Kommissionen hat und gleichzeitig die Macht, solche Projekte zu verschleiern. Er atmete hörbar ein. Staatsrat Ernst Heinrich von Stehendorf. Der Name fiel schwer in den Raum, schwerer als jeder vorherige. Er ist ein Mann von unerschütterlicher Autorität, fuhr Elas fort.
Seine Entscheidungen werden selten in Frage gestellt und er hat schon früher Projekte gebilligt, die ethisch fragwürdig waren. Warum sagen Sie das erst jetzt? fuhr Mertens ihn an. Weil ich es nicht glauben wollte, antwortete Elas mit bebender Stimme. Aber der Graue, die Initialen, die Verbindung nach Königsberg, es passt alles.
Und er, er hält sich in Berlin auf, nie weit vom Ministerium, immer unter Bewachung. Bewachung oder Komplizenschaft? Und Hadenberg? Fragte Dr. Schubert. Einer seiner Schüler, sagte Elas. Er nannte ihn früher mein zukünftiges Werkzeug. In diesem Moment schlug das Rathausglockenspiel zwei schwere Schläge und genau in diesem Augenblick stürzte eine Wache durch die Tür. Blass, schweißnass: “Her furgt, das Hospital.
Jemand hat versucht, die Kinderstation in Brand zu setzen. Ein Aufschrei ging durch den Raum. Ist jemand verletzt?”, rief Mertens. Nein, Schwester Agnes hat es rechtzeitig bemerkt, aber was? Wir fanden eine Botschaft an der Wand mit Ruß geschrieben, welche? Die Wache schluckte, die Kleinen schweigen oder die Stadt brennt.
Unterzeichnet mit dem Zeichen des Grauen. Ein leises dunkles Murmeln erfüllte den Raum. “Sie greifen offen an”, flüsterte Johanna. “Nein”, sagte Mertens. Das ist keine Attacke. Was dann? Ein Ultimatum. Noch bevor jemand weiterreden konnte, ertönte ein lautes Poltern. Ein Soldat schleppte eine junge Frau heran. Anna Freit, die ehemalige Magt.
Sie bestand darauf, sofort mit ihnen zu sprechen, sagte der Soldat. Anna war außer Atem. Ihre Haare zerzaust, ihre Hände schmutzig. Herr Vogt, ich habe den Ort gefunden. Welchen Ort? Den zweiten Eingang, den im Wald. Ein Rauschen ging durch den Raum. Es gibt mehr, stieß Anna hervor. Viel mehr. Es ist kein kleiner Schacht.
Es ist ein Tunnel, ein System. Und ich glaube, ich glaube, es führt nicht nur unter das Gut. Wohin dann? Anna hob den Blick. Tränen standen in ihren Augen, zum alten Klostergrund am Wasser, zu einem Ort, den niemand mehr betritt. Warum nicht? Sie flüsterte, weil man sagt, dort verschwinden Dinge und manchmal auch Menschen. Wir gehen sofort, sagte Mertens.
Das ist zu gefährlich, warnte Elas. Jehova selbst könnte dort warten. Ich gehe trotzdem. Doch bevor er den Raum verlassen konnte, spürte er plötzlich einen kalten Hauch im Nacken. Ein Gefühl, das er inzwischen kannte. Er drehte sich um. An der Fensterscheibe des Rathauses von außen, mitten in der Nacht hing ein Stück Papier.

Vom Wind flattern gelassen wie eine Fahne. Dran stand nur ein Satz mit derselben unheimlichen Handschrift wie zuvor: “Wer den Weg findet, findet mich.” Und darunter groß und unausweichlich, das graue Zeichen. Die Suche nach dem zweiten Eingang begann noch in derselben Nacht.
Der Wind peitschte vom Meer heran und ließ die Kronen der Bäume wie schwarze Wellen über dem Wald wogen. Mertens führte die Gruppe an. Zwei Soldaten, zwei Stadtwachen, Anna Freit und Schwester Johanna, die darauf bestand, bei den Kindern zu bleiben, aber nicht zulassen wollte, dass Erna erneut allein in die Nähe jenes Ortes ging, der ihr Albträume beschert hatte. Der Wald war stiller als gewöhnlich.
Kein Vogelruf, kein Rascheln kleiner Tiere, nur das Knacken nasser Äste unter den Stiefeln. Anna blieb plötzlich stehen und zeigte mit zitternder Hand auf eine riesige Ulme, deren Stamm wie gespalten wirkte. Dort”, flüsterte sie, “hinter den Wurzeln, ich habe sie gesehen.” Als sie näher kam, erkannten sie die metallene Kante, die sich zwischen den Hügeln der Wurzeln verbarg.
Eine Falltür aus Eisen und Stein, schwer, alt, aber keineswegs verfallen. Ein Mechanismus hielt sie fest verschlossen. Mertens Kniete, fuhr über die Oberfläche und spürte in den eingeritzten Linien dasselbe Symbol. Kreis und drei Striche, das Siegel der Grauen. Öffnen befahl er.
Die Männer stemmten sich dagegen und nach mehreren kraftvollen Versuchen gab die Tür mit einem tiefen, unheilvollen Knarren nach. Ein kalter Hauch strömte ihnen entgegen, so frostig, als käme er aus einer Tiefe, in der selbst die Luft jahrelang gestorben war. Eine Treppe führte hinab, schmal aus altem Stein, feucht und glitschig. “Fackeln an”, sagte Mertens.
Sie stiegen hinab, Schritt für Schritt. Der Gang öffnete sich zu einem unterirdischen Tunnel, breiter, sorgfältiger gearbeitet als der unter dem Gut. An den Wänden waren Haken, Öen, Halterungen angebracht und erneut das graue Zeichen mehrmals wie ein Wegweiser. “Das hier ist kein Zufluchtsort”, murmelte Dr. Schubert, der sich ihnen inzwischen angeschlossen hatte.
“Es ist eine Passage, ein Transportweg für Kinder”, flüsterte Schwester Johanna schwer. Nach einigen Dutzend Metern öffnete sich der Tunnel zu einem größeren Raum. Der Boden war schwarz, nicht vom Dunkel, sondern vom Brand. Verkohlte Balken, geschmolzene Metallreste, verbrannte Kisten.
Es roch nach längst vergangenem Feuer. “Sie haben Beweise vernietigt”, sagte Mertens. “aber nicht alles war zerstört. Hinter einem halb verkohlten Tisch lag ein Stück Pergament, geschützt unter einem Metallblech. Mertens hob es vorsichtig. Darauf befand sich eine Karte, keine vollständige, doch klar genug, um den Verlauf eines Tunnelsystems zu erkennen.
Linien führten vom Gut Reichenbach, verzweigten sich unter dem Wald und mündten schließlich an einem Kreuzpunkt. “Das alte Klostergelände”, sagte Anna stockend, “dort endet es oder beginnt?”, korrigierte Mertens. Neben der Karte lag ein weiteres Objekt, ein länglicher Metallrahmen, kaum länger als ein Arm, mit Dräten, Schrauben, einem kleinen Mechanismus an der Seite.
Es war nur ein Fragment, aber sein summender Klang war noch spürbar, als wäre in seinem Inneren etwas zurückgeblieben. “Der graue Apparat”, hauchte Schubert. “Ein Teil davon”, sagte Mertens. Der Rest ist beim Grauen oder weiter. Sie folgten der Hauptlinie des Tunnels. Der Weg wurde breiter, dann wieder enger.
Schließlich führte er in einen gewölbten Raum, in dem sich ein alter Schacht befand, der senkrecht nach oben führte. Eine eiserne Leiter ragte hinein, alt, aber stabil. Ganz oben schimmerte fahles Mondlicht. “Das Kloster”, sagte Anna. Sie stiegen nach oben. Als sie die Oberfläche erreichten, standen sie auf dem Gelände des alten Zisterzinser Klosters, das seit Jahrzehnten verlassen war.
Die Steine waren feucht, von Moos überzogen, die Fenster ohne Glas, nur leere Öffnung, durch die der Wind klagte. Doch im Hof stand eine Spur, die noch frisch war. Fußabdrücke, schlanke, tiefe, nur wenige Stunden alt und daneben ein Abdruck eines Stockes. Der silberne Griff hatte den nassen Boden markiert. “Er war hier”, sagte Mertens heiser. Schwester Johanna kniete und hob ein kleines, kaum sichtbares Papierstück auf.
Es war nur die Ecke eines Briefes, doch darauf stand ein einziges Wort. Vorbereitung. Er plant hier etwas, flüsterte Anna. Nein, sagte Mertens langsam, das Herz schwer werdend. Er hat es bereits getan. In der Ferne, vom Meer her ertönte ein dumpfer Klang. Nicht Donner, nicht Wind, ein anderes Geräusch. Das ist ein Schiff, sagte Schubert. Ein großes.
Mertens Verstand. Er ist nicht nur hier gewesen, er hat etwas mitgenommen oder jemanden. Anna weinte: “Es sind noch Kinder verschwunden, die, die man nie gefunden hat.” Mertens hob die Karte. Der Tunnel endete nicht am Kloster. Er führte weiter bis zu einem alten vergessenen Bootshaus am Flußarm, der in die Trave mündete.
“Er flieht”, sagte der Vogt, mit den letzten Beweisen, mit Zeugen, vielleicht mit Teilen des Apparats. Und dann sprach er den Satz, vor dem alle sich gefürchtet hatten. Wir haben ihn nicht eingeengt. Wir haben ihn aufgeschreckt. Der Wind wurde stärker. Das Schiffshorn klang erneut. lauter, näher. Der graue war nicht verschwunden. Er war unterwegs und er hatte keinen Grund, jemals zurückzusehen.
Der Boden unter ihren Füßen vibrierte, als das ferneh ertönte. Kein Zweifel, ein schweres Schiff legte ab, vielleicht ein Frachter, vielleicht ein privates Forschungsschiff. eines jener, die nachts und ohne offizielle Registrierung die Trave hinunter glitten, Richtung Ostsee, Richtung offenes Meer. Mertens warf den Blick zur alten Klostermauer, über die der Wind pfiff wie eine Warnung.
“Wir müssen zum Bootshaus”, sagte er hart. “Sofort.” Sie rannt durch das überwucherte Gelände, über feuchte Steine, durch Kniehohes Gras. Der Mond schien blaß auf die verlassene Anlage und in seinen Strahlen wirkten die Ruinen wie Zähne eines verendeten Tiers. Der geheime Tunnel, den sie entdeckt hatten, führte direkt an den Rand des Klostergeländes.
Von dort aus schlängelte sich ein schmaler Pfad hinunter zum Wasser und noch bevor sie den letzten Hügel erreichten, sahen sie Rauch. Kein helles Feuer, kein lodernder Brand, sondern qualmende Reste eines kontrollierten Feuers, ein Bootshaus, aus dessen innerem nur verkohltes Holz und schwälende Stoffreste übrig geblieben waren.
Verbrannt, keuchte Schwester Johanna. Nicht verbrannt, korrigierte Mertens. Säuberlich vernichtet. Im Inneren lagen Metallteile, Drähte, Kistenbeschläge, vieles geschmolzen durch Hitze, anderes sorgfältig zerbrochen. Nur eines war nicht zerstört. Eine Eisenkette, die von der Decke hing. An ihrem Ende eine Ledermanschette, klein für Kinderhandelenke.
Anna schlug sich die Hand vor den Mund und unterdrückte einen Schrei. “Wir waren so nah”, flüsterte sie. “Nein”, sagte Mertens. Wir sind genau dort, wo er uns haben will. Er kniete vor einem halb verkohlten Tisch nieder. Dort lag etwas, dass die Flammen nicht vollständig verzehrt hatten. Ein Stück Pergament, gefaltet, aber nicht verbrannt.
Als er es vorsichtig entrollte, wurde klar, dass es nicht zufällig übrig geblieben war. Es war absichtlich geschützt worden. Darauf stand eine einzige kurze Botschaft, geschrieben in jener kalten markellosen Handschrift. Ihr sucht Schatten. Der Körper ist längst fort. Darunter wieder das graue Zeichen. Er verspottet uns murmelte Dr. Schubert.
Er informiert uns, antwortete Mertens. Er will, daß wir wissen, daß wir zu spät kamen. Doch er wußte, daß der Graue nicht nur Spott hinterließ. Er hinterließ Botschaften, weil er Ziele hatte und weil er zeigen wollte, wie groß dieses Netz war, dass er im Verborgenen spannte. Mertens ging zum Ufer. Im Wasser trieb ein Stück Holz, an dessen Rand frische Sägespuren zu sehen waren. Ein Teil eines Kistendeckels.
Darauf klebte ein fetzenblauer Stoff, die Farbe der Bücher. Er hat das Archiv mitgenommen, flüsterte Mertens, die Originale, die vollständigen Listen. Johanna trat neben ihn und die Kinder? Mertens schloos die Augen. Er hörte das entfernte, immer leiser werdende Grollen des Schiffes. Einige, sagte er tonlos, “sind an Bord.” Niemand widersprach.
Niemand musste es. Die Stille der Gruppe war Bestätigung genug. Als sie ins Rathaus zurückkehrten, war der Morgen bereits angebrochen. Der Himmel färbte sich grau und feiner Regen begann zu fallen. Regierungsrat Elas wartete im Besprechungszimmer aufrecht, aber mit einem Blick, der von Schlaflosigkeit und Scham gezeichnet war.
“Haben Sie ihn gefunden?”, fragte er ohne Vorrede. “Wir fanden, was er zurückgelassen hat”, sagte Mertens, “und was er mitgenommen hat. Elas Schultern sanken. Dann dann ist alles verloren. Nein, entgegnete Mertens. Nicht alles. Er legte die Karte des Tunnels auf den Tisch, den Metallrahmen, das Pergament mit dem unvollständigen Apparat, die Hälfte einer Seriennummer, die sie am Bootshaus gefunden hatten.
“Was immer der Graue plant”, sagte der Vogt, “Es ist groß, größer als Lübeckier tragen könnte. Es reicht nach Berlin, nach Königsberg, vielleicht weiter. Elas nickte schwer. Der königliche Kommissar wird in einem Tag eintreffen. Er hat Vollmachten, die weit über unsere hinausgehen. Doch, doch er wird unter Druck stehen, sagte Mertens. Vom Staatsrat. Ja, dann müssen wir schneller sein als der Staatsrat.
Schwester Johanna trat vor. Ihre Stimme war ruhig, aber fest. Und was ist mit den Kindern? Mertens sah sie lange an. Wir werden sie schützen, alle die noch leben. Und wir werden jeden Namen im blauen Buch entschlüsseln. Wir werden jeden Ort finden, jeden Komplizen. Seine Stimme bebte vor Zorn, als er fortfuhr. Es ist nicht mehr nur ein Fall.
Es ist ein Krieg gegen Leute, die glauben, dass Wissenschaft wichtiger sei als Menschlichkeit. Elas strich sich müde durchs Gesicht und der graue Mertens sah zum Fenster hinaus in den bleigrauen Morgen. “Er ist nicht verschwunden”, sagte er. “Er hat nur den Schauplatz gewechselt.” “Wohin?” Ein kurzer Windstoß ließ das Fenster klirren. Vom Hafen her war ein ferner Ruf eines Schiffes zu hören.
“Dorthin, wo man ihn am schwersten findet”, sagte Mertens. Dorthin, wo Macht und Schatten sich berühren. Dann fügte er hinzu nach Berlin. Am Nachmittag kam ein Bote aus dem Hospital gelaufen. Herr Vogt, Luise ist wach und fragt nach ihnen. Mertens eilte sofort. Das Mädchen saß aufrecht im Bett, die Decke bis zum Bauch.
Ihre Stimme war schwach, aber klar. “Er ist nicht fort”, flüsterte sie, als er sich hinsetzte. Er hat gesagt, wenn das Reich bereit ist, kehrt er zurück. Wann? Wenn der Apparat vollständig ist. Und was bedeutet das? Luise sah ihn mit jenen grauen, viel zu erwachsenen Augen an.
Es bedeutet, sagte sie leise, “dass noch nicht fertig ist.” Mertens legte seine Hand über ihre. “Dann”, sagte er, “werden wir bereit sein?” Draußen schlug die Glocke der Marienkirche. Ihr Klang halte über die nassen Straßen, über die Dächer, über die Stadt, die nun wusste, dass sie der Anfang eines viel größeren Schreckens war.
Ein neuer Klang mischte sich in das Leuten, das Horn eines Schiffes, weit draußen auf der Ostsee. Ein Schatten, der fortsegelte, ein Feind, der nicht verschwunden war, ein Krieg, der gerade begonnen hatte. Und damit endete die Lübeckerchronik nicht. Sie begann erst.