Doch noch bevor der Bericht fertig wurde, geschah etwas, das den Verlauf der Geschichte unerwartet veränderte. Ein junger Historiker aus Berlin, Rafael Mertens, der von dem Fall über Zeitungsartikel erfahren hatte, reiste in die Lüneburger Heide, um Nachforschung für ein Buch anzustellen, dass er über ungewöhnliche Verbrechen der 20er Jahre schreiben wollte. Dingemann begegnete ihm auf dem Dorfplatz, als Rafael höflich nach dem Kloster fragte.
“Noch ein Journalist?”, fragte Dingemann skeptisch. “Nein”, antwortete Rafael ruhig. “Ich möchte nicht über das Grauen schreiben. Ich möchte über die Menschen schreiben, die überlebt haben.” Dinge musterte ihn lange. Schließlich nickte er. “Dann sprechen sie mit Anna, wenn sie es zulässt.” Es dauerte mehrere Tage, bis Anna sich bereit erklärte.
Doch irgendwann an einem stillen Nachmittag, als die Glocken zur Nonnwesper riefen, trat sie in den kleinen Besucherraum des Klosters. Sie war schmal, zart, doch ihre Haltung war gerade. Rafael verneigte sich leicht. Ich danke Ihnen, dass Sie mich empfangen. Anna setzte sich langsam, als teste sie erst, ob der Stuhl sicher war.
“Ich kann nicht viel sagen”, murmelte sie. Ich möchte nur verstehen, sagte Rafael, und ich möchte ihre Schwestern verstehen, nicht nur was ihnen genommen wurde, sondern wer sie waren. Enna hob den Blick. Zum ersten Mal seit langer Zeit sah sie jemandem direkt in die Augen. Vielleicht zum ersten Mal überhaupt einem fremden Mann. Wenn Sie wirklich zuhören wollen, dann erzähle ich Ihnen, was ich weiß.
In den folgenden Tagen sprach sie mit Rafael, manchmal im Garten, manchmal im kleinen Bibliotheksraum des Klosters. Sie erzählte ihm von den Kleinigkeiten des Lebens, die in keinem Polizeibericht standen, wie Helen immer barfuß lief, selbst im Winter.
Wie Margarete Geschichten erfand, die sie den Kleinen vor dem Einschlafen zuflüsterte, wie Grätchenblumen liebte, besonders die gelben Heideblüten, die sie Sonnenstücke nannte. Rafael machte sich sorgfältige Notizen, doch niemals fragte er nach den grausamen Details, die längst dokumentiert waren. Er fragte nur nach dem, was ein menschliches Leben ausmacht. Und Anna bemerkte, dass es ihr leichter fiel zu sprechen.
Nicht einfach, aber leichter. Mit jeder Begegnung schien ein wenig Last von ihren Schultern zu fallen. Als Rapael ging, sagte er: “Ich werde es schreiben, nicht als Sensation. sondern als Zeugnis eurer Stärke.” Anna nickte und zum ersten Mal, als sie ihm die Hand reichte, zitterte sie nicht.
Dies war der Beginn einer Geschichte, die noch viele Menschen erreichen würde, doch auch der Beginn eines neuen Kapitels in Annas Leben. Eine lange Reise lag noch vor ihr, aber der Weg war nicht mehr völlig dunkel. Und Eichenmor sollte bald erfahren, dass das Erinnern nicht nur Schmerz bringt, sondern auch Heilung.
Rafael Mertens Abreise aus dem Kloster markierte einen Wendepunkt nicht nur für Anna, sondern auch für das ganze Dorf Eichenmoor. Obwohl der junge Historiker nach Berlin zurückkehrte, um an seinem Buch zu arbeiten, blieb sein Besuch wie ein leiser, aber klarer Klang in der Luft. Ein Klang, der den Menschen erinnerte, dass die Geschichte der Schwestern Steinbrecher nicht im Schweigen verrotten sollte.
Wochen verging. Die Heide wurde dichter, sommersüß, schwer vom Duftblühender Kräuter. Die warmen Winde trugen das Summen der Bienen, das Rascheln der trockenen Halme. Doch trotz der friedlichen Geräuschkulisse war die innere Welt vieler Menschen noch immer von Unruhe erfüllt. Besonders in Anna regte sich mit jeder Woche etwas Neues. Sie lernte länger zu schlafen.

Die Albträume wurden seltener, auch wenn sie manchmal noch erwachten, zitternd, als würde ein unsichtbarer Arm sie würgen. Schwester Magdalena blieb stets an ihrer Seite, geduldig wie ein Fels in einem wildschlagenden Meer. Anna arbeitete viel im Garten.
Sie war oft dort, zwischen den niedrigen Holzzeunen, pflegte die Kräuterbete, schnitt Rosen zurück oder wusch Gemüse am Brunnen. Die Schwestern beobachteten, dass sie manchmal mitten in der Arbeit inne hielt, die Augen schloss und tief einatmete, so als koste sie jeden Tropfen Frieden aus, der ihr gegeben wurde. Die älteren Nonnen nickten dann einander zu. “Sie schafft es”, sagten sie. Langsam, aber sie schafft es.