Doch niemand ahnte, dass in diesen Tagen etwas Wichtiges vorbereitete. Etwas, dass sie seit Wochen in sich trug. An einem warmen Juniorgen, während die Nonnen beim Frühstück zusammenßen, klopfte Anna an die Tür des Arbeitszimmers von Schwester Magdalena. Die Oberin blickte auf und lächelte, doch als sie Annas Gesicht sah, änderte sich ihr Ausdruck.
“Was ist, Kind?” “Ich brauche einen Ausflug”, sagte Anna und ihre Stimme zitterte kaum merklich. Magdalena legte die Nadel aus der Hand. “Wohin möchtest du?” Zum Friedhof von Eichenmoor. Ein tiefer, schwerer Moment entstand im Raum wie ein Tuch, das über die Möbel fällt. Magdalena strich langsam über das Holz der Tischkante. Willst du sicher gehen? Ich muss sie sehen.
Alle zum ersten Mal ohne Angst. Die obere nickte nur. Kein Vorwurf, kein Zögern. Dann gehen wir heute. Am Nachmittag brachen sie auf. Zwei Schwestern begleiteten sie nicht aus Mißstrauen, sondern zum Schutz, nicht vor äußeren Gefahren, sondern vor den inneren Kämpfen. Der Weg nach Eichenmor führte durch sandige Pfade vorbei an Birkenheinen und offenen Heideflächen.
Die Luft roch nach Harz und Sonne. Erner schwieg die ganze Zeit. Als sie die ersten Holzhäuser des Dorfes erreichten, wurde es still. Menschen blickten aus Fenstern, vom Brunnenplatz aus, von den Schuppen. Niemand sprach, aber einige zogen die Mützen, andere senkten respektvoll den Kopf. A bemerkte es kaum. Sie ging wie in einem Traum. Der Friedhof lag am Rand des Dorfes, geschützt von alten Eichen.
Die Grabsteine warfen lange Schatten, denn die Sonne stand bereits tief. Anna ging voran, als spürte sie jeden Schritt im Boden. Sie fand die Gräber sofort. Fünf einfache Holzkreuze, frisch, sauber und gepflegt. Auf jedem stand ein Name. Helene Steinbrecher, Margarete Steinbrecher, Liselotte Steinbrecher, Grätchen Steinbrecher und dann der kleine Sammelag, auf dessen Kreuz lediglich stand.
Unvergessen Anna kniete nieder. Die Knie sanken in die weiche Erde und sie legte die Hände auf den Boden. Lange sagte sie nichts, dann hauchte sie mit einem Zittern: “Ich bin hier.” Ihr Atem bebte. Schwester Magdalena stellte sich schweigend hinter sie, “Nicht näher, um Anna Raum zu geben.
Anna strich mit den Fingern über die Erde, als würde sie die Hände ihrer Schwestern darin fühlen. “Es tut mir leid”, flüsterte sie. Ich konnte euch nicht retten.” Die Worte brachen aus ihr heraus wie ein langer zurückgehaltener Schrei, doch ihre Stimme blieb leise, fast wie ein Windstoß. Ihr wart so tapfer, so mutig und ich war immer nur still. Sie senkte den Kopf auf die Erde. Aber ich lebe für euch.
Ich lebe, weil ihr es nicht konntet. Schwester Magdalena trat näher, legte ihr sanft die Hand auf die Schulter. Anna, sagte sie leise. Deine Schwestern haben dich nicht verlassen. Sie sind in allem, was du überlebt hast und in allem, was du noch schaffen wirst. Anna weinte still, aber ihre Tränen waren klar, nicht wie jene der Panik, die sie so oft im Kloster heimgesucht hatten.
Dies waren Tränen der Trauer und der Befreiung. Als sie sich erhob, wirkte ihr Körper leichter, nicht geheilt, aber anders fester. Als sie den Friedhof verließen, bemerkte Anna etwas. Am Rand der Gräber stand ein Strauß frischer Heideblüten, gelb, rosa und violett, gebunden mit einem einfachen Faden.
“Wer bringt das?”, fragte Anna leise. Magdalena lächelte, jemand mit einem guten Herzen. Und als sie aufblickte, sah Anna am Rand des Friedhofs Abundius Meier stehen. Er winkte nicht, er sagte kein Wort, aber die Art, wie er dort stand, still, aufmerksam, respektvoll, sprach genug. Anna senkte den Kopf.
Zum ersten Mal fühlte sie, daß das Dorf nicht nur die Last der Erinnerung, sondern auch den Willen zur Wiedergutmachung trug. In der Nacht, zurück im Kloster saß Anna an ihrem kleinen Tisch und öffnete ein neues leeres Heft. Sie schrieb langsam, zögerlich, aber bestimmt die ersten Wörter hinein für meine Schwestern, damit niemand vergisst, wer wir waren.
Es war das erste Mal, dass Anna selbst ihre Geschichte aufschrieb und es war erst der Anfang. Der Sommer von legte sich warm über die Heide, als wolle die Natur selbst Eichenmord trösten. Die Felder schimmerten im Sonnenlicht und die schmalen Wege zwischen Wachholder und Kiefern flimmerten vor Hitze. Doch die äußerliche Ruhe konnte nicht verbergen, dass im Dorf tief unsichtbare Furchen geblieben waren.