
Der Wind wehte kühl über die Dächer der kleinen süddeutschen Stadt Ravensruh, einem Ort, der um das Jahr 1895 noch vollständig vom Rhythmus der Kirchenglocken, der strenge kirchlicher Moral und der tief verwurzelten Ehrfurcht vor dem Familiennamen bestimmt war.
Zwischen Fachwerkhäusern, Kopfsteinpflaster und den rauchigen Gerüchen aus Bäckereien begann eine Geschichte, die später als eine der düstersten Familientragödien Badenwürtemberbergs bekannt werden sollte. Doch damals ahnte niemand etwas, niemand außer zwei jungen Frauen, die einander vertrauten wie Schwestern. Die Familie Marfels bewohnte ein großes zweistöckiges Haus in der Adlergasse.
Nur wenige Schritte vom Marktplatz entfernt. Die Wände waren hell gekalkt, die Fenster mit dunkelgrünen Holzläden versehen und im Innenhof stand ein alter Birnbaum, der im Frühjahr die ganze Luft mit süßem Duft erfüllte. Der Hausherr August Marfels war damals Jahre alt, ein angesehener Kaufmann, Besitzer zweier Kolonialwaren Läden und eines Geschäfts für feine Stoffe aus Frankfurt.
Monatlich verdiente er mehr als 200 Mark, ein Vermögen für jene Zeit. Seine Frau Rebecca Marfelz, eine tiefreligiöse Frau, leitete den örtlichen katholischen Frauenbund, organisierte Suppenküchen und war jeden Morgen in der Pfahrkirche St. Martin zu sehen, wo sie mit gefalteten Händen und strengem Blick betete.
Das Paar hatte drei Kinder. Die älteste Elisabeth Marfels, 20 Jahre alt, war bekannt für ihre Sanftheit und für ihr warmes Lächeln. Sie hatte dunkelbraunes Haar, das ihr bis zur Teil reichte, und klare bernsteinfarbene Augen. Ihr Traum war es, Lehrerin zu werden und Kindern aus armen Familien lesen und Schreiben beizubringen.
Doch eine unverheiratete Frau aus gutem Hause durfte damals weder arbeiten noch ihre eigenen Lebenswege wählen. Ihr Leben war vorgezeichnet, eine gute Heirat, ein gepflegter Haushalt, gehorsam. Dann gab es Robertzehn Jahre alt, stolz, pflichtbewußt und stets bemüht in die Fußstapfen des Vaters zu treten.
Und die jüngste Katharina, gerade 15, lebhaft, verträumt und völlig ahnungslos über die strengen Regeln, die über ihrem Leben schwebten. Doch jemand kannte Elisabeth besser als alle anderen. Ihre Cousine Josephine Adler, ebenfalls 20 Jahre alt. Tochter eines einfachen Volksschullehrers.
Die beiden Mädchen hatten ihre Kindheit zusammen verbracht, hatten Geheimnisse geteilt, sich gegenseitig getröstet und unzählige Stunden auf den Wiesen hinter der Stadt gespielt. Trotz der Unterschiede im sozialen Stand waren sie unzertrennlich und dann kam der Mann, der alles veränderte. Am Dreikönigstag, dem 6. Januar 1895 begegnete Elisabeth demer Ferdinand Ritter.
Er warund Jahre alt, unterrichtete an der kleinen Volksschule in der Kirchstraße, spielte abends in der Kirche die Orgel und glaubte tief daran, dass Bildung der Schlüssel zu einer gerechteren Gesellschaft sei. Er wohnte in einem schlichten Zimmer über einer Bäckerei, besaß kaum mehr als einige Bücher, eine Reisetasche und seine Mandoline. Doch er hatte etwas, das August Marfels niemals verstehen würde.
ein warmes Herz und die Fähigkeit Menschen anzusehen, als wären sie wertvoll, unabhängig von Herkunft und Besitz. Elisabeth und Ferdinand begegneten einander während der Messe. Elisabeth brachte Kuchen und Brot für eine Spendenaktion. Ferdinand organisierte eine kleine Feier für die Kinder der armen Weberfamilien. Als sich ihre Blicke trafen, geschah etwas, das beide erschreckte und gleichzeitig unausweichlich schien.
In den Wochen danach trafen sie sich heimlich, erst zufällig, später bewusst. Dienstags in der kleinen Stadtbibliothek, sonntags nach der Messe im Stadtgarten hinter dem alten Musikpavillon. Und stets war Josephine dabei, offiziell als Anstandsdame, in Wahrheit als Verbündete. Sie sprachen über Bücher, über Ungerechtigkeit, über Träume.
Sie stellten sich ein Leben vor, in dem Menschen nicht nach Vermögen, sondern nach Güte beurteilt wurden. Und langsam, unaufhaltsam verliebten sie sich. Doch im Juli kam das Geständnis, dass alles veränderte. Elisabeth erschien eines Nachmittags bei Josephine. Ihr Gesicht war verweint, ihre Hände zitterten.
Im kleinen Hof hinter dem Haus der Familie Adler, unter einem Apfelbaum, sang sie auf eine Bank und flüsterte: “Jose, ich bin guter Hoffnung.” Josephine erschrag, doch sie nahm Elisabeths Hände. “Bist du sicher? Seit zwei Monaten keine Blutung. Mir ist jeden Morgen schlecht. Ich weiß es einfach.” Weiß Ferdinand es. Elisabeth nickte. Er will mich heiraten. Er sagte, wir könnten nach Freiburg oder Stuttgart ziehen, beide arbeiten, ein neues Leben beginnen. Josephine drückte ihre Hand.
Dann tue es. Geh mit ihm. Ich helfe dir. Meine Eltern helfen dir. Du darfst hier nicht bleiben. Doch Elisabeth schüttelte den Kopf. Ich kann meine Familie nicht beschämen. Mein Vater würde alles verlieren. Seinen Ruf. seine Kunden und Robert und Katharina, sie würden nie gute Ehen finden.
Josephine sah sie fassungslos an. Und du, dein Leben zählt nicht. Elisabeths Stimme brach. Meine Mutter wird helfen. Sie ist streng, ja, aber sie liebt mich. Sie findet sicher einen Weg. Dieser Glaube wurde ihr verderben. Drei Tage später, am 14. August ging Elisabeth in die Küche, wo Rebecca Marfels gerade Birnenkonfitüre kochte.
Der süßschwere Duft lag wie eine Decke in der Luft. Elisabeth atmete tief ein und sagte leise: “Mutter, ich muss dir etwas sagen.” Als sie die Wahrheit aussprach, entgleisten Rebecas Züge vollständig. Die Schöpfkelle fiel klirrend zu Boden und dann kam die Ohrfeige so heftig, dass Elisabeth gegen den Tisch stolperte. Ein Lehrer, ein armer Mann.
Das ist der Vater deines Schandkindes. Rebecca stürmte davon, sprach mit August und innerhalb einer Stunde wurde Elisabeth in das Arbeitszimmer ihres Vaters gerufen. Er schlug sie zuerst mit Worten wie Messern, dann mit der Hand und schließlich sprach er das Urteil aus, sie würde eingesperrt werden, bis zur Geburt des Kindes, und danach würde er entscheiden.
In den folgenden zwei Wochen ließ August den Dachboden umbauen. Ein massives Schloss von außen, die Fenster vernagelt, nur eine schmale Öffnung nahe der Decke, zu hoch, um hinauszusehen. Ein KR, 12 Quadratmet, ein Metallbett, ein Stuhl, ein Eimer. Und am 20. September 1895 wurde Elisabeth hinaufgeführt.
Ihre letzten Worte, bevor die Tür zuschlug, waren ein geflüstertes Mutter, bitte. Der Riegel krachte und die Dunkelheit begann. Der erste Morgen im Dachboden war der Beginn eines Leidens, das niemand in Ravensruh je für möglich gehalten hätte. Als Elisabeth erwachte, war der Raum dunkel, stickig. und still. Nur ein schmaler Lichtstreifen fiel durch die winzige Öffnung nahe der Decke und zeichnete eine dünne, helle Linie auf den Boden aus alten knarrenden Holzbrettern.
Der Geruch von Staub, kalter Luft und feuchtem Holz erfüllte ihre Nase. Es gab kein Geräusch, keine Stimme, keinen Hinweis darauf, dass unter ihr ein ganzes Haus weiterlebte, während für sie die Zeit anhielt. Um sech Uhr früh hörte sie Schritte auf den Stufen. Das Schloss knackte, die Tür öffnete sich und ihre Mutter trat ein, eine Schale mit kalten Kartoffeln und Brot in der Hand, den Blick fest auf den Boden gerichtet. Kein Wort, kein Blick, kein Funken von Mitgefühl.
Sie stellte das Essen ab, wechselte den Eimer, nahm das Tablett vom Vortag und schloss wieder. Der Riegel schob sich zurück mit einem dumpfen, beklemmenden Geräusch. Ein Geräusch, das für Elisabeth in den kommenden Jahren zum Symbol ihrer Gefangenschaft werden sollte. Mittags und abends dasselbe, immer dieselbe Stille, dieselbe Härte, dieselbe Kälte.
Elisabeth sprach am Anfang mit ihrer Mutter, flehte, weinte, aber Rebecca antwortete nie. Ihre Augen waren leer, als sei ihre Tochter bereits begraben. Nach wenigen Tagen begann Elisabeth die Zeit zu verlieren. Ohne Licht, ohne Uhr, ohne Geräusche, außer den Glocken der Stadtkirche, die gedämpft durch die Holzbalken drang, zerfiel jeder Tagesrhythmus. Sie versuchte sich an den Glockenschlägen festzuhalten.
Sechs am Morgen, zwölf am Mittag 6 am Abend. Doch selbst diese Orientierung wurde Waage, als ihre Sinne vernebelten und die Dunkelheit ihr Innenleben zersetzte. Sie sprach mit dem Kind in ihrem Bauch. “Du bist nicht schuld”, flüsterte sie. “Ich werde dich beschützen. Ich werde stark sein für uns beide.
” Doch innerlich wußte sie kaum noch, wie viel Kraft sie hatte. Währenddessen versuchte Josephine die Wahrheit zu erfahren. Sie kam jeden Sonntag nach der Messe zum Haus der Marfels, manchmal mit Blumen, manchmal mit einem selbstgebackenen Kuchen und bat darum, Elisabeth zu sehen.
Doch Rebecca antwortete stets mit der gleichen eisigen Stimme. Sie ist krank. Der Arzt hat jegliche Besuche verboten. Josephine spürte, daß das gelogen war. Und doch war sie machtlos. In Ravensru galt August Marfels als respektabler Bürger. Sein Wort war Gesetz. Niemand stellte seine Entscheidung in Frage. Niemand, außer Josephine.
Doch sie war nur eine junge Frau aus bescheidenem Hause. Die Wochen vergingen, der Herbst wurde kälter und Elisabeth lag nachts zitternd auf dem dünnen Matratzenstück, das man ihr gelassen hatte. Sie hatte keine Decke, nur ihren alten schwarzen Wollschal, mit dem sie sich bedeckte. Der Wind pfiff durch die Ritzen der vernagelten Fensterbretter.
Manchmal hörte sie die Rufe der Händler auf dem Marktplatz. Frische Äpfel, warme Kastanien und ihr Herz schmerzte bei dem Gedanken, wie nah die Welt war und doch unendlich weit entfernt. Dann kam der Winter. Die Kälte kroch ihr bis in die Knochen. Ihre Finger wurden steif, ihre Lippen rissen auf, die Mahlzeiten wurden knapper. Oft erhielt sie von den Speiseresten der Familie nur das, was übrig blieb.
kalte Kartoffeln, hartes Brot, manchmal eine dünne Suppe. Sie sprach weniger, sie weinte weniger und sie begann Dinge zu sehen. Schatten, die sich bewegten, Stimmen, die ihren Namen flüsterten, Schrittgeräusche, die nicht existierten. Doch das Schlimmste war das Schweigen.
Das Schweigen, das tiefer war als die Dunkelheit, das Schweigen, das sie verschlang. Im Februar, als ihr Kind zur Welt kommen sollte, wachte Elisabeth mitten in der Nacht mit heftigen Krämpfen auf. Der Schmerz durchzuckte sie wie Feuer. Sie schrie, schlug gegen die Tür, flehte nach Hilfe. Niemand kam, niemand antwortete. Stunden vergingen. Der Schmerz wurde unerträglich.
Ihr Rücken krampfte. Schweiß lief ihr über die Stirn. Sie sank zu Boden bis in den Ärmel ihres Kleides, um nicht zu schreien. Ihre Hände krampften sich in das Holz des Bettes. Sie fühlte, wie das Leben aus ihr herausriss und sie war allein, völlig allein. Erst am Morgen öffnete sich die Tür.
Rebecca trat ein, sah die blutverschmierte Matratze, sah ihre Tochter, die sich krümmte und wimmerte. Das Kind kommt, keuchte Elisabeth. Rebecca stellte das Tablett ab und sagte nur: “Lee dich auf das Bett, ich komme später.” Dann ging sie hinaus und ließ ihre Tochter allein in den Wehen liegen. Es dauerte viele Stunden, bis das Kind kam.
Ein kleines Mädchen, zart, schwach, doch lebendig. Elisabeth nahm es in die Arme, wickelte es in ihren Schal, drückte es fest an sich und flüsterte seinen Namen Isabel, nach meiner Großmutter. Sie verbrachte drei Tage mit ihr. Sie sang ihr Lieder vor, sie wärmte sie mit ihrem Körper. Sie betete mit gebrochener Stimme. Doch die Milch blieb aus.
Zu wenig Nahrung, zu viel Kälte, zu viel Schmerz. Die Kleine wurde immer schwächer. Am dritten Tag atmete sie kaum noch. Elisabeth rief, weinte, flehte: “Bitte, bitte, stirb nicht, bitte.” Isabel starb in ihren Armen gegen Mittag, während die Glocken der Stadt läuteten.
Als Rebecca hereinkam und das tote Kind sah, sagte sie nur drei Worte: “Es ist besser so.” August kam eine halbe Stunde später, nahm das kleine Bündel aus Elisabeths Armen und sagte: “Man wird sie im Garten begraben. Niemand darf es wissen.” Elisabeth schrie. Sie versuchte sich an ihr Kind zu klammern, doch ihr Vater riss sie fort. Er verließ den Dachboden und schloss die Tür.
Sie hörte, wie seine Schritte die Stufen hinuntergingen und dann hörte sie nichts mehr. Kein Herzschlag, kein Atemzug, keine Hoffnung, nur den Wind hinter den vernagelten Brettern und die Stille der Welt, die sie vergessen hatte. Als Elisabeth nach dem Tod ihrer kleinen Isabelle im Dachboden zurückblieb, verwandelte sich die Welt für sie in einziges endloses Grau.
Sie saß stundenlang auf dem Boden, den Kopf an die Knie gezogen und hielt den Schal, in den sie ihr Kind gewickelt hatte, fest an sich gedrückt. Der Stoff roch noch nach dem winzigen Körper, nach schwachem Leben, nach Hoffnung und nach Verlust. Sie konnte nicht begreifen, wie die Welt weiterging, wie Menschen lachten, arbeiteten, schliefen, während ihr Herz still stand.
Ihre Mutter kam weiterhin zweimal täglich, stellte das Essen hin, wechselte den Eimer, sprach keinen Ton. Elisabeth hörte nicht auf zu weinen, doch Rebecca blieb stumm wie Stein. Sie sah ihre Tochter nicht an, selbst jetzt oder gerade jetzt nicht. Die Scham, die Angst vor Gerede, die kalte Härte der gesellschaftlichen Moral hatten ihr Herz versteinert. Vielleicht glaubte sie sogar, dass sie richtig handelte. Vielleicht.
Doch für Elisabeth fühlte es sich an wie Verrat, so tief wie Wunden, die niemals heilen würden. Tage wurden zu Wochen. Elisabeth aß kaum. Ihr Körper war schwach, ihr Geist erschüttert. Sie sprach mit niemandem, außer mit Isabelle. Sie hielt imaginäre Gespräche mit ihr, als wäre sie noch da.
Hättest du ein Lachen gehabt wie ich oder wie er? Hättest du lesen gelernt? Hättest du in den Apfelbaum im Garten klettern wollen? und dann leise flüsternd, ich hoffe, du bist nicht allein. Der Februar verwandelte sich in März, der Winter in ein graues kaltes Frühjahr und dann eines Morgens tat Elisabeth etwas, was sie schon viele Wochen zuvor hätte tun können. Doch dafür hatte sie keine Kraft gehabt.
Sie stand auf, nahm ihre dünne, ausgefranzte Bettdecke, riss sie in Streifen und knotete daraus eine improvisierte Schlinge. Ihre Hände zitterten nicht. Ihr Herz schlug langsam, gleichmäßig, als hätte es längst aufgegeben. Sie stellte die wacklige Holzstuhllehne unter eine tiefe Dachbalkenstrebe, kletterte hinauf und flüsterte.
Isabelle, ich komme. Der Stuhl kippte. Nur wenige Minuten später lief August die Treppe hinauf. Er hatte etwas gehört, den dumpfen Fall des Stuhls, ein Geräusch, das ihm seltsam vorkam. Er öffnete die Tür, fand seine Tochter mit der Schlinge um den Hals. Ihr Körper hing schlaff, ihre Lippen waren bläulich, ihre Augen geschlossen.
Er riss sie herunter, legte sie auf den Boden, doch nicht, weil er um ihr Leben fürchtete, nur weil er wusste, dass sie tot zu sehen gefährlicher war, als sie lebendig zu halten. Eine tote Tochter bedeutete Erklärungsnot, Skandal, Fragen, Polizei. Er schlug sie, als hätte sie ihn persönlich beleidigt, schlug mit Fäusten auf sie ein, während sie nach Luft rang.
“Du wirst nicht sterben”, schrie er. “Nicht, bis ich es dir erlaube.” Elisabeth überlebte, nur knapp, nur zufällig. Er nahm ihr die Bettdecke weg, alles, womit sie sich hätte verletzen können. Der Stuhl wurde entfernt, der Tisch ebenso. Sie blieb zurück mit einem Metallbett und vier Wänden, die enger wurden, Tag für Tag.
Zwei Monate später versuchte sie es erneut. Diesmal mit einer abgebrochenen Holzsplitterkante aus dem Stuhlbein, das sie heimlich gelöst hatte. Sie schnitt sich die Handgelenke auf, doch nicht tief genug. Ihre Mutter fand sie. Rebecca weinte nicht. Sie schrie nicht. Sie band ihre Hände mit Leintüchern und sagte nur: “Du darfst nicht. Gott sieht dich.
” Doch es war nicht die Stimme Gottes, die Elisabeth hörte. Es war die Lehre, das Schweigen, das endlose Nichts. Nach diesem zweiten Versuch ließ August alles entfernen, was ihr noch blieb. Sogar der Stuhl wurde hinausgetragen. Der Raum wurde noch kaher, noch brutaler. Alles, was nicht fest in der Wand verankert war, wurde fortgebracht.
Elisabeth verstand, sie konnte nicht sterben und sie konnte nicht leben. Dann machte sie eine Entscheidung, nicht aus Hoffnung, sondern aus bitterer Entschlossenheit. Wenn sie schon leben musste, würde sie überleben. Trotz allem. Aus Trotz. aus purer Sturheit. Sie begann sich Routinen zu schaffen. Jeden Tag, wenn Rebecca das Essen brachte, ritzte Elisabeth eine kleine Linie in die Wand mit einem winzigen Stein, den sie in einer Ritze gefunden hatte. Eine Linie für jeden Tag.
Fünf Linien ergaben einen Block, vier Blöcke, eine Woche. Sie zählte die Tage nur, um nicht den Verstand zu verlieren. Und als die Jahre vergingen, ein Jahr, zwei Jahre, 3 Jahre, füllte sich eine Wand des Dachbodens mit Linien, Hunderte, tausende. Nach zehn Jahren gab sie das Zählen auf, nicht weil es ihr egal wurde, sondern weil die Zeit bedeutungslos geworden war.
Nur der Himmel, den sie durch das kleine Fenster sehen konnte, erinnerte sie daran, daß draußen Jahreszeiten existierten, dass die Welt weiterging. Im Dachboden lebte Elisabeth wie ein Schattenwesen. Ihr Haar wurde länger, ungepflegt, verfilzt. Ihre Fingernägel krümmten sich, weil niemand sie schnitt. Ihre Zähne begannen zu verfaulen.
Nur Brot und Kartoffeln, kein Gemüse, keine Milch, keine Pflege. Ihre Haut wurde so blass, dass sie im Dämmerlicht fast durchsichtig wirkte. Der Staub der Holzbalken legte sich wie ein zweites Fell auf sie. Doch ihr Geist, ihr Geist war das, was am stärksten litt. Der Wind sprach mit ihr. Isabelle sprach mit ihr, mal als Baby, mal als Mädchen.
Sie stellte sich vor, wie ihre Tochter jetzt wäre, 10 Jahre alt, 12, 15. Sie stellte sich vor, wie ihr Leben weitergegangen wäre. Sie erschuf in ihrer Isolation eine eigene Welt, weil sie ohne sie nicht hätte überleben können. Und draußen, draußen veränderte sich alles ohne sie.
Robert wurde erwachsen, heiratete, zog aus, kam sonntags zum Essen. Er hörte die Schritte auf der Treppe, die Riegel, die Stille und schwieg. Katharina wurde älter, heiratete, zog nach Ulm. Auch sie fragte nie wieder nach Elisabeth. Die Nachbarn vergaßen, dass es eine dritte Marfelstochter gegeben hatte. Nur eine Person vergaß es nie. Josephine.
Einmal im Monat stand sie vor der Tür der Familie Marfels und fragte: “Wie geht es, Elisabeth?” Sie bekam immer dieselbe Antwort. “Sie ist krank, sehr krank.” Doch Joseephine wußte, sie wußte es tief in ihrem Herzen. Und sie wartete Jahr für Jahr, hartnäckig, unbeirrbar, denn irgendetwas sagte ihr: “Elisabeth lebt und sie braucht mich.
” Die Jahre verstrichen unbemerkt, während Ravens Ruwuxs sich veränderte, neue Geschäfte öffnete, alte Familien starben oder wegzogen. Nur auf dem Dachboden des Hauses Marfels blieb alles gleich. Dieselbe Kälte, dieselbe Dunkelheit, dieselbe Stille. Für Elisabeth war jeder Tag eine Wiederholung des Vorigen, ein Tropfen in einem endlosen Meer, das weder Anfang noch Ende kannte.
Doch draußen tobte die Geschichte. Deutschland wandelte sich, Fabriken wuchsen, Straßen wurden breiter. Kutschen machten langsam den ersten motorisierten Fahrzeugen Platz. Menschen diskutierten über Fortschritt. Elektrizität, Frauenrechte. Doch für Elisabeth existierte nichts davon.
Ihr Universum blieb zwölf Quadratmeter groß, mit schiefen Holzbalken, staubigen Dielen und der schmalen Lichtlinie, die wie ein ferner grausamer Witz die Welt draußen erahnen ließ. Währenddessen wurde August älter, strenger, unnachgiebiger. Je weiter die Jahre voranschritten, desto weniger erinnerte er sich daran, weshalb er seine Tochter eingesperrt hatte.
Für ihn wurde es einfach eine Tatsache der Ordnung, eine häusliche Struktur, ein Geheimnis, das niemand hinterfragte. Rebecca wiederum sprach nicht mehr über Elisabeth, als wäre sie ein Schatten, den man aus dem Gedächtnis streichen konnte. Ihre religiöse Stränge verschmolz mit ihrer Angst vor gesellschaftlicher Verurteilung, bis beides ununterscheidbar wurde.
Doch Elisabeth hörte in all den Jahren jedes Geräusch, die Glocken, die jeden Morgen und jeden Abend läuteten, die Schritte der Familie, das Lachen von Robert und später seiner Kinder, wenn sie zu Besuch kam, die gedämpften Stimmen von Katharina, die hin und wieder aus Ulm anreiste. Jedes Leben, das weiterging und jedes Leben, das sie vergessen hatte, ihr eigenes.
So verging das Jahr 1900, dann 1902 1904. Deutschland wandelte sich, Ravensruh wandelte sich, die Marfelsfilie wandelte sich, Elisabeth nicht. An manchen Tagen glaubte sie, daß sie sich in Luft verwandelt hatte, an anderen, daß sie längst tot sei und nur ihre Seele in diesem Raum gefangen blieb. Im Jahr 1905 begann etwas Merkwürdiges.
Elisabeth hörte unten eine fremde Stimme, eine Kinderstimme, die hell klang wie ein Silberglöckchen. Robert hatte inzwischen ein eigenes Kind, einen kleinen Jungen. Er nannte ihn Konrad. Wenn Robert zu Besuch kam, lief der kleine Konrad kreischend durch das Haus, spielte auf der Treppe, die zum Dachboden führte. Einmal hörte Elisabeth, wie der Junge neugierig sagte: “Papa, was ist da oben?” Robert antwortete sofort mit fester warn Stimme. Nichts, da geht man nicht hin. Danach zog er seinen Sohn weg.
Doch Elisabeth hatte die Worte gehört. Der Gedanke, dass ein Kind in ihrer Nähe war, ein Kind, das lachte, frei war, atmete, rannte, traf sie wie ein Messer, nicht aus Neid, sondern aus Schmerz über das, was ihr genommen worden war. Und doch fühlte sie etwas warmes, eine Erinnerung, einen Hauch von Menschlichkeit.
Eines Tages, als Rebecca das Essen brachte, wagte Elisabeth es nach Jahren des Schweigens, ein Wort zu sprechen. Wie alt ist er? Rebecca erstarrte. Sie hatte nicht erwartet, dass Elisabeth sprach. Ihre Lippen zitterten, doch sie antwortete nicht. Sie stellte das Essen ab und ehe Elisabeth ein zweites Wort aussprechen konnte, war sie verschwunden.
Wieder Stille, wieder Dunkelheit, wieder Einsamkeit. Doch etwas hatte sich verändert. Elisabeth begriff plötzlich, daß Worte noch existierten, dass ihre Stimme noch existierte, dass sie trotz allem immer noch jemand war. Das Wissen war schmerzhaft, aber es war auch der erste Funke eines Widerstands, der in den kommenden Jahren wachsen sollte.
Als das Jahrzehn begann, hörte Elisabeth zum ersten Mal in ihrem Leben Schüsse. Weit entfernt, aber unmissverständlich. Die Menschen draußen sprachen über Aufstände, Züge voller Soldaten, neue politische Strömung. Elisabeth verstand nicht, was geschah, doch sie wusste, dass das Land bebte. Während der Unruhen kam es mehrmals vor, daß August und Rebecca wegen der Ausgangssperren nicht hinaufgehen konnten. Elisabeth verbrachte zwei ganze Tage ohne Nahrung.
Am dritten Tag rüttelte sie schwach an der Tür, unfähig zu rufen und sank auf den Boden. Sie dachte, sie würde sterben. Vielleicht wäre es auch besser gewesen. Doch sie starb nicht. Rebecca erschien schließlich bleich, erschöpft und ungewohnt zittrig. Als sie Elisabeth eine Schale mit dickflüssiger Gerstensuppe hinstellte, blieb ihre Hand kurz an der Türzitze hängen, als würde sie etwas sagen wollen. Aber sie sprach nicht.
Ihre Lippen öffneten sich kaum sichtbar. Dann zog sie die Hand zurück und ging. Trotzdem hatte Elisabeth einen Moment lang etwas gesehen, was sie jahrelang nicht gesehen hatte. ein menschliches Zucken im Gesicht ihrer Mutter. Vielleicht war es Reue, vielleicht Erschöpfung, vielleicht nur Einbildung, aber es war etwas.
Und in der völlig dunklen Welt, in der Elisabeth lebte, war selbst ein winziger Funke ein Ereignis. Doch der Funke erloschnell. Denn im Jahr 1913, als das Land durch politische Spannungen und wirtschaftliche Krise ging, erlebte Elisabeth etwas, das schlimmer war. als Hunger, Kälte und völlige Dunkelheit. Hoffnung, Hoffnung, die sich als Illusion entpuppte. Eines Abends, als die Glocken der Kirche die neunte Stunde schlugen und die Stadt zur Ruhe kam, hörte sie Schritte auf der Treppe. Nicht die regelmäßigen routinierten Schritte ihrer Mutter, nicht die schweren Schritte ihres
Vaters. Es waren leichte Schritte, zögernd, unsicher und dann klopfte jemand. Zum ersten Mal seit acht langen Jahren klopfte jemand an ihre Tür. “Hallo”, flüsterte eine junge Frauenstimme. “Elisabeth, bist du wirklich hier oben?” Josephines Stimme viel reifer, als Elisabeth sie in Erinnerung hatte, doch unverkennbar. Elisabeths Herz raste.
Ihre Kehle war trocken. Sie versuchte aufzustehen, doch ihre Beine gaben nach. Sie kroch zur Tür. “Jose” flüsterte sie. Doch in diesem Moment hörte sie hastige Schritte, ein tiefes, drohendes Murmeln, das Elisabeth nur allzu gut kannte. August. Er packte Josehine grob am Arm, zerrte sie die Treppe hinunter und fauchte. “Du bleibst von hier fern. Sie ist tot für dich, hörst du? tot.
Die Tür schlug zu. Der Riegel krachte und Josephines Stimme erstarb. Elisabeth sank auf den Boden. Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie hatte die Rettung gespürt, einen Atemzug lang, nur einen. Dann war er verschwunden und wieder blieb ihr nichts als Finsternis. Die Jahre nach Josephines erster abrupt abgebrochener Annäherung wurden für Elisabeth zu einer neuen Form des Gefängnisses. Nicht nur einem aus Holz und Dunkelheit, sondern einem aus zerstörter Hoffnung.
Das Wissen, dass Josephine sie gesucht hatte, daß sie nur wenige Schritte entfernt gewesen war, machte die Einsamkeit noch unerträglicher. In ihren Gedanken wiederholte sich der Klang ihrer Stimme unzählige Male, wie ein schwaches Echo aus einem anderen Leben. Elisabeth, bist du wirklich hier oben? Diese Worte bohrten sich tiefer in ihr Herz als jede Entbehrung, jeder Hunger, jede Kälte, denn sie bedeuteten, dass jemand wusste, dass jemand sie nicht vergessen hatte, und gleichzeitig bedeuteten sie, dass sie trotzdem im Dunkeln blieb. August hatte nun eine
neue Angst, dass jemand die Wahrheit herausfand. Wie ein Wachhund ging er wachsamer durchs Haus, hielt die Türen im Blick, schloss den Dachboden doppelt ab, verbot jedem Besucher in das obere Stockwerk zu gehen. Wenn Josephine vorbeikam, wurde sie kalt empfangen. “Elisabeth ist schwer krank”, sagte Rebecca immer wieder mechanisch. “Sie braucht Ruhe.
” Die junge Frau sah die Lügen, doch sie konnte sie nicht beweisen. Erst recht konnte sie nicht gegen den angesehenen August Marfels antreten. Die Jahre gingen weiter, 1910, 1911 1912. Dann kam der Sommer 1914 und mit ihm der Krieg. Elisabeth hörte es zuerst an der Unruhe in den Stimmen im Haus. Robert, inzwischen ein erwachsener Mann mit eigener Familie, sprach laut und ernst mit seinem Vater über Rekrutierung, Einberufung, patriotische Pflicht.
Katharina schrieb weniger Briefe und kam seltener zu Besuch. Der Bahnkehr wurde unzuverlässiger. Elisabeth hörte manchmal, wie Rebecca leise betete, intensiver als zuvor. Doch all das waren nur Geräusche, die durch Balken und Staub drang. Für Elisabeth änderte sich kaum etwas, nur der Hunger wurde häufiger.
August, der stolz darauf war, sparsam und pflichtbewusst zu wirtschaften, begann auch an Elisabeths Mahlzeiten zu sparen. Manchmal kam nur einmal am Tag jemand hoch, einmal sogar zwei Tage lang niemand. Und Elisabeth lag reglos auf dem Boden, sicher, dass dies das Ende sei. Doch sie starb nicht. Es war, als hätte ihr Körper, obwohl zerbrechlich und ausgemärgelt gelernt, sich an alles zu klammern, was nach Leben aussah.
Vielleicht war es reine Sturheit, vielleicht der Gedanke an Isabelle, vielleicht ein Funke, den sie selbst nicht verstand. Als der Krieg sich hinzog, hörte Elisabeth neue Geräusche, fremde Stimmen, verwundete Soldaten, die in der Stadt versorgt wurden, Schluchzen von Frauen, deren Männer an der Front waren, Kinder, die weinten. Die Stadt war nicht mehr dieselbe.
Und während Deutschland blutete, blutete auch Elisabeth Seele still weiter. Im Jahr 1915, 20 Jahre nach ihrem ersten Tag im Dachboden, geschah das erste sichtbare Zeichen, dass August und Rebecca älter wurden. Ihre Schritte wurden langsamer. Rebecca keuchte manchmal auf der Treppe. Augusts Stimme, sonst so kontrolliert und schneidend zitterte gelegentlich.
Und doch änderte sich für Elisabeth nichts. Sie spürte nur durch den Rhythmus der Schritte, daß ihre Wächter schwächer wurden. Sie begann Kleinigkeiten zu bemerken, die vorher nie geschehen waren. Einmal vergaß Rebecca den Eimer mitzunehmen, ein anderes Mal ließ sie ein Stück Seife fallen.
Elisabeth hob sie auf, als wäre es ein Schatz, denn es war der erste Gegenstand seit Jahren, der nicht bewusst für sie kontrolliert wurde. Und einmal an einem Abend, als der Wind über die Dachziegel strich, hörte sie, wie Rebecca auf der Treppe stehen blieb. Eine halbe Minute, eine ganze Minute, zwei Minuten, als würde sie den Mut sammeln, etwas zu tun oder etwas zu sagen, doch sie tat es nicht.
Sie brachte das Essen, stellte es ab, ging schweigend, wie immer. In diesen Jahren begann Elisabeth endgültig, sich in ihre eigene Welt zurückzuziehen. Ihre Gedanken wanderten zu Isabelle, die in ihrer Fantasie inzwischen eine junge Frau geworden war. Elisabeth stellte sich vor, wie ihre Tochter aussehen würde.
Dunkles Haar, wie ihr es einmal gewesen war und klare Augen, die trotz allem voll waren. Sie sprach mit ihr, unterhielt ganze Gespräche. “Heute habe ich einen Vogel durchs Fenster gesehen”, flüsterte sie eines Abends. Er war grau, unscheinbar, aber er war frei. Und in ihrer Vorstellung antwortete Isabelle mit einer sanften, erwachsenen Stimme. Ich bin auch frei, Mama. Du wirst es eines Tages auch sein.
Elisabeth wusste, dass es nur Fantasie war, doch es hielt sie am Leben. Unterdessen vergaßen die Menschen in Ravens Ruh mehr und mehr, dass die Marfels einst drei Kinder gehabt hatten. Neue Familien zogen ein, ältere starben. Die Vergangenheit verwischte. Robert sprach nie über seine Schwester.
Katharina, die inzwischen in Stuttgart lebte, glaubte fest an die Geschichte ihrer Eltern. Für sie war Elisabeth ein tragischer, aber unantastbarer Verlust. Nur Josehine blieb. Sie verloren nie die Überzeugung, dass etwas nicht stimmte. Auch als sie heiratete, Kinder bekam, älter wurde. Sie kam weiterhin regelmäßig zum Haus der Familie Marfels. Manchmal stand sie minutenlang vor der verschlossenen Tür des Dachbodens, wenn niemand sie bemerkte, und horchte.
Doch Elisabeth wagte nie, ein Geräusch zu machen. Die Angst vor August war stärker als jede Hoffnung. Später, Jahre später würde Josephines Ausdauer als ein Akt stiller Heldentat betrachtet werden. Doch damals war sie eine einsame Stimme gegen eine Mauer aus Lügen. Der Krieg endete. Deutschland war erschöpft.
Ravensruh fiel in einen schweren Alltag zwischen Inflation und Mangel. Und im Dachboden saß eine Frau, deren Leben schon viel früher zerstört worden war. Als das Jahr anbrach, war Elisabethzig Jahre alt. Sie hatte mehr als die Hälfte ihres Lebens im Gefängnis verbracht.
Sie wusste nicht, welcher Tag war, nicht welche Jahreszeit, nicht wer tot oder lebendig war. Sie wusste nur, dass ihre Mutter seit Tagen nicht gekommen war, dann seit drei Tagen, dann vier, dann fünf und am sechsten Tag verstand Elisabeth. Etwas war passiert. etwas, das größer war als jede Lüge, größer als jede Angst und dass dies der Anfang vom Ende war, doch nicht ihres, sondern des Schweigens.
Der sechste Tag ohne Essen fühlte sich für Elisabeth an wie ein tiefer, endloser Tunnel, in dem weder Zeit noch Leben existierten. Ihr Körper war so schwach, dass sie kaum noch aufstehen konnte. Sie lag auf dem Boden, die Wange auf dem kalten Holz und hörte nur den eigenen flachen Atem. Hunger war sie seit Jahrzehnten gewohnt, doch diesmal war es anders. Diesmal kam niemand.
Keine Schritte, kein Schloss, das sich öffnete, kein Tablett, das klirend abgestellt wurde. Und in dieser tödlichen Stille begann sich ein neuer Gedanke in ihr zu regen. Ein Gedanke, den sie seit 30 Jahren verdrängt hatte. Vielleicht stirbt sie tatsächlich nicht durch ihre eigene Hand, sondern weil man sie vergessen hatte. Der Gedanke erschreckte sie weniger als erwartet. Vielleicht war es Erlösung.
Doch dann hörte sie Stimmen. Viele Stimmen. Tief, hell, flüsternd, klagend. Es klang als wäre das ganze Haus voller Menschen. Schritte eilten auf dem Gang hin und her, Türen schlugen. Jemand weinte laut. Elisabeth verstand plötzlich, was das bedeutete. Bei Todesfällen kamen in Ravens Ruhe immer viele Menschen zusammen und nur eine Person im Haus war alt und krank genug gewesen, um in dieser Woche zu sterben. Ihre Mutter Rebecca.
Elisabeth schloss die Augen. Nicht aus Trauer. Trauer war in ihr gestorben, lange bevor Rebecca es tat. Aber sie begriff, daß der Tod ihrer Mutter die Ordnung im Haus erschütterte und eine Erschütterung bedeutete Veränderung. Veränderung konnte Chance bedeuten, eine Chance auf Leben oder zu sterben, bevor erneut jemand an sie dachte. Am 9.
Februar vernahm sie durch die Decke das monotone Murmeln eines Rosenkranzgebets. Dann Schritte, viele Schritte und später ein dumpfes Geräusch, ein Sag, der über den Boden getragen wurde. Und während der Leichenzug am 10. Februar zum Friedhof zog, wurde Elisabeth bewusst, dass nun niemand mehr da war, der sich ihrer Existenz täglich erinnerte.
Der einzige Mensch, der jeden Morgen mechanisch, wenn auch gefühllos, die Treppe hinaufgestiegen war, lag jetzt unter der Erde. Am 12. Februar kamen die Nachbarn zum Aufräumen, wie es Tradition war. Elisabeth hörte Stühle rücken, Geschirrlappern, das Tuscheln von Frauenstimmen und dann etwas, das sie seit Jahrzehnten nicht gehört hatte.
Schritte auf der Treppe, langsam, zögernd und leichter als alle, die sie kannte. Eine Frauenstimme flüsterte etwas. Eine andere antwortete: “Vielleicht ein Tier. Hörst du nicht, wie es klopft?” “Klopft?” Elisabeth hob den Kopf. Sie selbst hatte geklopft, ohne es zu merken. Mit letzter Kraft hatte sie gegen die Tür geschlagen.
Nicht aus Hoffnung, nur aus dem instinktiven Wunsch, nicht wie ein vergessenes Tier zu sterben. Die Schritte hielten inne. Dann hörte sie eine dritte Stimme, eine, die sie sofort erkannte, auch wenn sie älter klang, müder, aber fester denn je. Was ist das? Wer ist da oben? Josephines Stimme 30 Jahre älter, aber noch immer eindeutig. Elisabeth versuchte zu sprechen. Ihre Kehle war trocken wie Sand.
Jose vie, nee, nur ein Krächzen, kaum hörbar. Doch Josephine reagierte sofort. Da ist jemand. Ich weiß es. Jemand ist da drin. Hastige Schritte, ein Keuchen, ein schweres Atmen, dann das Rütteln am Schloss. Der Riegel war verrostet. seit Jahren nicht geöffnet. Robert rief Joseephine, hol mir ein Werkzeug, sofort.

Robert erschien auf der Treppe. Elisabeth hörte seine Stimme älter, aber noch immer erkennbar. Du darfst hier nicht ein Schlag, ein harter Schlag, Metall auf Metall, ein zweiter, ein dritter. Josephines entschlossene Stimme. Deine Schwester ist da drin, dreig Jahre und du hast nichts getan. Ein letztes Krachen. Der Riegel brach.
Die Tür sprang ein Stück auf. Licht drang in den Raum. Ein Licht so hell, dass Elisabeth ihre Hände vor die Augen reißen mußte. Es war das erste richtige Licht seit drei Jahrzehnten. Schritte tappten über den Boden. Jemand keuchte vor Entsetzen. Bei Gott Elisabeth. Josephines Stimme brach. Elisabeth hob langsam den Kopf. Ihre Augen brannten, doch sie sah eine Gestalt im Licht.
Josephine, graue Strähnen im Haar, Falten und Tränen. “Du bist gekommen”, flüsterte Elisabeth. Ihre Stimme war kaum hörbar, wie das Rascheln eines toten Blattes. Josephine kniete nieder, berührte Elisabeths Hand, eine knochige, kalte, schmutzige Hand, die kaum noch menschlich aussah. “Ich habe dich nie vergessen”, sagte sie. Nie.
Hinter ihr erschien eine Nachbarin und stieß einen Schrei aus. Heilige Mutter Gottes, was haben sie dir angetan? Elisabeth versuchte sich aufzurichten, doch ihre Beine gaben nach. 30 Jahre ohne Bewegung hatten sie zu nutzlosen Stöcken aus Haut und Knochen gemacht.
Josephine fing sie auf, hielt sie wie ein Kind und erstmals nach 30 Jahren fühlte Elisabeth die Wärme einer menschlichen Berührung. Sie zitterte, sie weinte, sie lebte. Unten entdeckte August Marfels den Tumult. Er trat ins Treppenhaus, sein Gesicht verwirrt, seine Stimme brüchig. Was macht ihr da oben? Sie darf nicht. Doch als die Menschen sich teilten und er sah, was alle sahen, fiel seine Maske.
Für einen Moment wirkte er klein, fassungslos. Und in diesem Moment, in der Stille, die darauf folgte, wusste Elisabeth, der Dachboden war nicht länger ihr Gefängnis. Die Welt hatte sie wiedergefunden. Als Elisabeth in Josephines Armen die Treppe hinuntergetragen wurde, erfasste ein eigenartiges gedämpftes Murmeln das ganze Haus.
Die Stimmen der Frauen, die gekommen waren, um nach der Beerdigung von Rebecca aufzuräumen, wurden leiser, erstickt von Schock, Entsetzen und einem Gefühl, das in Ravensru jahrzehntelang nicht ausgesprochen worden war. Verdacht. Der Geruch des Dachbodens, Staub, Vollnis, menschliche Verzweiflung, breitete sich in der Luft aus wie eine unsichtbare Wolke. Niemand konnte sich dem entziehen.
30 Jahre, flüsterte eine der Frauen, das das ist unmöglich. Eine andere schüttelte den Kopf. Tränen liefen ihr über das Gesicht. Ich erinnere mich an Elisabeth. Sie war ein so liebes Mädchen. Wie konnte man wie konnte man das tun? Robert stand erstarrt im Flur.
Als er seine Schwester sah, wich er instinktiv einen Schritt zurück. Nicht aus Hass, aus Scham, aus nackter Feigheit, aus der Erkenntnis, dass er in all den Jahren nichts getan hatte. Elisabeth, seine Stimme brach, doch sie sah ihn nicht einmal an. Ihre Augen waren an das Licht nicht gewöhnt und trähnten unaufhörlich. Ihre Pupillen zuckten. Die Welt war zu groß, zu hell, zu laut.
Sie zitterte wie ein Vogel, der nach langer Gefangenschaft ins Freie gebracht wird und nicht weiß, wohin mit der neuen Freiheit. August stand am unteren Ende der Treppe, sein Rücken leicht gebeugt, seine Haare fast vollständig grau. Sein Blick war nicht der eines Mannes, der Schuld erkennt. Er, der eines Mannes, der die Ordnung seines Lebens verloren hat. “Du hättest oben bleiben sollen”, sagte er tonlos. “Es war notwendig.
” Josephines Kopf ruckte hoch. Notwendig? Sie war 20 Jahre alt. Sie war deine Tochter. August sah sie an, als würde er etwas nicht verstehen oder nicht verstehen wollen. Sie hat die Familie entehrt. Es war besser so für uns alle. Diese Worte ließen die Frauen im Haus kollektiv nach Luft schnappen.
Eine von ihnen, eine ältere Nachbarin namens Hermine Fuchs, trat hervor, die Hände vor den Mund geschlagen. August Marfels, du hast ein Kind eingesperrt. 30 Jahre lang. 30. Doch August hörte die Empung nicht. Er schien in einer Welt zu leben, die nur aus Regeln bestand, die er selbst geschaffen hatte. Regeln, die ihm Macht gaben.
Regeln, die jede Menschlichkeit verdrängt hatten. Josephines Stimme war plötzlich ruhig, eiskalt. Wir bringen sie ins Krankenhaus und du wirst erklären, was du getan hast. August hob das Kinn. Niemand wird mir etwas erklären lassen. Das ist unsere Familienangelegenheit. Doch da irrte er sich, denn während Elisabeth vorsichtig nach draußen getragen wurde, eingewickelt in eine Decke, die sie kaum wärmte, zittrig, blind vor Licht, verstört von den Geräuschen, hatte sich vor dem Haus bereits eine kleine Menschenmenge gebildet. Die Nachricht hatte sich in wenigen Minuten im ganzen Viertel verbreitet.
Man hat jemanden im Dachboden gefunden. Die Marfels hatten doch drei Kinder. Das Mädchen, das verschwunden war. Sie lebt. Stimmen, Fragen, Entsetzen. Ein Junge zeigte mit dem Finger. Eine Frau schrie leise auf, als sie Elisabeths zerfallenes knochiges Gesicht sah. Ein alter Mann bekreuzigte sich.
Elisabeth hörte all das nur gedämpft, als käme es durch Wasser. Die Welt überforderte sie. Die Farben, die Geräusche, die Menschen, der Himmel, der so weit und hell war, daß er sie zu überwältigen drohte. Sie klammerte sich an Josephines Arm wie ein Schiffbrüchiger an ein Stück Dreipholz. “Alles ist gut”, flüsterte Josehine immer wieder. “Ich bin da.” “Du bist frei.
” “Frei?” Doch das Wort frei sagte Elisabeth nichts. Nicht jetzt, nicht an diesem Tag. Freiheit bedeutete nur Angst, weil sie sie nicht kannte. Das Krankenhaus von Ravensruh war klein, aber sauber. Der junge Arzt, Dr. Ferdinand Salger, ein Mann in seinen 30ern mit wachem Blick, war entsetzt, als er Elisabeth sah. “Wie lange war sie dort oben?”, fragte er, während er Elisabeth untersuchte und mit fachlicher Präzision versuchte, seine Empung zu verbergen. “30 Jahre”, antwortete Josephine.
Der Arzt erstarrte mitten in der Bewegung. “30.” Er sah Elisabeths Körper an, kaum vierzig Kilo, vergrümmte Beine, Haut fast durchsichtig, Blutarmut, Entzündung, Vitaminmangel, Narben von alten Verletzungen. “Es ist ein Wunder, dass sie lebt”, murmelte er. “Ein Wunder und ein Albtraum.” Elisabeth lag still auf dem Bett, während die Krankenschwestern leise zwischen den Tischen arbeiteten.
Sie zuckte bei jedem Geräusch. Der Geruch von Desinfektionsmitteln war ihr fremd. Die hellen Lampen taten ihr weh. Jedes Mal, wenn jemand sich ihr näherte, spannte sich ihr Körper an wie eine gefangene Katze. “Sie müssen ihr Zeit geben”, sagte Josephine. “Sie kennt diese Welt nicht mehr.” “Nicht mehr?”, korrigierte Dr.
Salger. “Sie hat sie nie gekannt. Sie ist mit 20 verschwunden. Jetzt ist sie 50. Alles was sie verpasst hat, drei Jahrzehnte. Das bringt man niemandem einfach so zurück. Ein paar Stunden später erschien die Polizei. August wurde noch am selben Abend festgenommen.
Als die Beamten ihn abführten, rief er nur: “Ich habe richtig gehandelt. Ich habe meine Familie geschützt.” Niemand glaubte ihm, nicht einmal Robert, der schweigend in einer Ecke stand und den Boden anstarrte. Als die Tür des Krankenzimmers sich schloss und Elisabeth zum ersten Mal seit dreißig Jahren in einem Raum war, der nicht von einem Schloss gehalten wurde, begann ihre Brust heftig zu heben und zu senken.
Panik, Freiheit roch nach Gefahr. Josehine setzte sich an ihr Bett, nahm vorsichtig ihre Hand. “Du bist nicht mehr allein”, flüsterte sie. “Nie mehr.” Elisabeth schlossß die Augen und zum ersten Mal seit dreßig Jahren wußte sie, daß jemand sie wirklich meinte. Die ersten Nächte im Krankenhaus waren für Elisabeth schlimmer als jede Nacht im Dachboden.
Nicht, weil es dunkel war, im Gegenteil, sondern weil es zu hell war, zu weit, zu offen. Der Raum war groß, fast grenzenlos für eine Frau, die drei Jahrzehntelang in einem Gefängnis von 12 Quadratmet gelebt hatte. Das Licht brannte in ihren Augen, selbst wenn die Schwestern die Lampen dimten. Jede Bewegung eines Menschen ließ sie zusammenzucken.
Jeder Schritt klang wie ein Donnerschlag. Wenn eine Tür knarrte, zog sie die Knie an den Körper und presste sich in die Ecke des Bettes, als würde gleich jemand hereinstürmen, um sie zurück in den Dachboden zu werfen. Freiheit war ein Schock. Roh, kalt, überwältigend. Josephines Geduld schien unendlich. Jeden Tag kam sie.
Manchmal blieb sie stundenlang bei Elisabeth, ohne ein Wort zu sagen. Sie saß einfach nur da, strickte oder betete leise, damit Elisabeth wusste, dass jemand im Raum war, aber niemand sie bedrohte. Sie brachte ihr ein paar vertraute Dinge, ein weiches Tuch, das nach zu Hause roch, ein kleines Holzkreuz, eine Schale mit Brühe, die sie selbst gekocht hatte. Elisabeth konnte kaum essen.
Ihr Magen war nach all den Jahren geschrumpft. Doch sie bemühte sich, denn Josephine bat sie darum. Dr. Salger untersuchte sie täglich. Seine Stimme war ruhig, warm und obwohl Elisabeth anfangs selbst vor ihm zurückwich, gewöhnte sie sich langsam an seine Anwesenheit. Er redete mit ihr, als wäre sie jede andere Patientin, nicht als ein seltsam aus der Vergangenheit heraufgestiegenes Wesen.
“Ihre Knochen sind extrem brüchig”, erklärte er eines Tages Josephine. “Sie hat schwere Mangelernährung. Ich beginne mit Vitaminen, aber es wird Monate dauern, bis ihr Körper überhaupt wieder Kraft aufbauen kann.” Und geistig? Fragte Josephine leise. “Das ist schwieriger”, sagte ernst. Sie hat Jahrzehnte in Isolation verbracht. Das Gehirn eines Menschen passt sich an.
Es reagiert empfindlich auf Licht, Geräusche, neue Eindrücke. Sie wird alles neu lernen müssen. Jede Fähigkeit, die wir für selbstverständlich halten, sich in einem Raum bewegen, der größer ist als einige Schritte, Menschen ansehen, Gesprächen folgen, wird für sie wie eine Fremdsprache sein. Josehine schluckte schwer, aber sie kann es schaffen. Der Arzt nickte.
Sie hat überlebt. Das heißt, sie hat eine enorme innere Stärke. Wir dürfen sie nur nicht drängen. In diesen Tagen begann Elisabeth die Welt um sich herum mit neuen Augen zu betrachten. Wenn die Sonne morgens ins Zimmer fiel, bedeckte sie ihre Augen mit den Händen, doch manchmal schielte sie zwischen den Fingern hindurch.
Farben irritierten sie, das Gelb der Gardinen, das Weiß der Bettwäsche, das Rosa des Himmels bei Sonnenuntergang. Alles war zu viel und gleichzeitig faszinierend. Eines Tages, als eine Schwester die Fenster läutete, sah Elisabeth zum ersten Mal seit drei Jahrzehnten den Himmel. Einen echten Himmel, nicht nur einen winzigen Streifenlicht zwischen Brettern. Blau, unendlich, schwebend. Sie starrte so lange darauf, daß Tränen ihre Wangen hinunterliefen.
“Ist etwas?”, fragte die Schwester sanft. Elisabeth schüttelte den Kopf. Sie konnte es nicht in Worte fassen. Wie hätte sie auch? Worte reichen nicht, um 30 gestohlene Jahre zu beschreiben. Ravens Ruh hingegen konnte es in Worten ausdrücken und tat es. Die Zeitungen schlugen ein wie ein Sturm. Frau seit dreßig Jahren im Dachboden gefangen.
Skandal in wohlhabender Kaufmannsfamilie. Elisabeth Marfels, das vergessene Opfer. Das gesamte Land sprach davon. Menschen standen vor dem Krankenhaus nur um einen Blick auf die Frau aus dem Dachboden zu erhaschen. Elisabeth wusste nichts davon. Für sie war die Welt im Krankenhaus schon groß genug. Menschenmengen hätten sie zerstört.
Die Polizei verhörte Robert. Sein Gesicht war fahl, als er den Beamten gegenüber saß. “Warum haben Sie sie nicht befreit?”, fragte der Polizist. Robert starrte auf seine Hände. “Mein Vater, er war ein strenger Mann. Ich hatte Angst.” “Angst?” 30 Jahre lang, fragte der Beamte scharf. Robert schluckte.
Ich dachte, ich dachte, es wäre besser, wenn wenn was sie vergessen wird. Robert schwieg, denn genau das hatte er getan. Er hatte vergessen, weil es bequemer war. Die Polizei suchte nach Isabels Grab. Elisabeth hatte ihnen die Stelle beschrieben: “Im Garten, nordwestliche Ecke, unter dem Birnbaum.” Sie hatten nicht geglaubt, daß sie sich erinnern konnte nach all den Jahren. Doch sie erinnerte sich.
Sie erinnerte sich an jeden Schmerz, an jede Sekunde. Als die Beamten unter dem Birnbaum gruben, fanden sie ein kleines verrottetes Bündel in Tuch. Die Überreste eines Kindes. Keine Markierung, kein Name, nur Stille. Die Nachricht davon traf Elisabeth schwer, noch schwerer als die Befreiung selbst.
Als Josephine ihr behutsam davon erzählte, wandte Elisabeth sich ab, zog die Decke über den Kopf und weinte stundenlang. Niemand störte sie, niemand drängte sie, niemand sagte, sie solle stark sein. Sie durfte einfach weinen. Das war eine neue Freiheit. Als August im selben Monat im Gefängnis starb, Herzschlag, sagten die Ärzte, reagierte Elisabeth kaum.
Sie sah Josephine nur ruhig an und sagte, er war nie ein Vater, mehr nicht. Keine Wut, keine Erleichterung, nur eine nüchterne Feststellung, als hinge alles, was sie einst an ihn gebunden hatte, längst als Staub in einem Dachboden. Und während draußen die Prozesse anliefen, die Ermittlungen, die Schlagzeilen, die öffentlichen Empörungen, begann für Elisabeth langsam ein anderer Prozess, ein leiser, ein persönlicher, ein wiedererlernendes Lebens.
Elisabeth lebte nun seit mehreren Wochen im Krankenhaus, als ihr Körper langsam begann, sich an die neue Realität zu gewöhnen. Die ersten Schritte wagte sie an der Hand einer Krankenschwester. Es waren klägliche, zittrige, kaum wahrnehmbare Bewegungen. Doch für eine Frau, die drei Jahrzehnte in einem engen Raum gelebt hatte, waren sie Monumente.
Ihre Beine mussten wieder lernen, das Gewicht eines Körpers zu tragen. Ihre Arme mussten wieder lernen, sich frei zu bewegen, ohne Angst. irgendwo anzustoßen. Jeder Schritt war ein Triumph und ein Trauma zugleich. Wenn sie das Gleichgewicht verlor und eine Schwester sie auffing, zuckte Elisabeth zusammen, als erwarte sie einen Schlag.
Doch die Schwestern lächelten nur, hielten sie fest und sagten: “Alles gut, wir lassen Sie nicht fallen.” Diese Worte waren wie ein Gebet. Josehine kam täglich. Sie war inzwischen selbst älter. 45 Jahre alt, Mutter dreier Kinder, aber ohne je aufgehört zu kämpfen. Sie brachte Elisabeth Geschichten aus der Stadt, erzählte von Menschen, die Anteilnahmen, von Frauen, die weinten, als sie von Elisabeths Schicksal hörten. Elisabeth hörte zu, schweigend.
Worte waren noch schwer für sie. Als Josephine eines Tages sagte: “So viele Menschen wollen dir helfen”, antwortete Elisabeth leise: “So viele haben mich vergessen.” Es war kein Vorwurf, nur eine Tatsache. Währenddessen wurde der Prozess gegen Robert vorbereitet. Elisabeth musste aussagen.
Alle rieten ihr, es nicht zu tun. Zu belastend, zu früh, zu viel Trauma. Doch Elisabeth bestand darauf. Er soll hören, daß ich nicht tot war”, sagte sie. Er soll es von mir hören. Der Gerichtssal war voller Menschen, als Elisabeth, gestützt auf Josephine und eine Krankenschwester, erschien. Sie trug ein helles Kleid, das man ihr gegeben hatte. Es hing lose an ihrem Körper.
Ihr Haar war kurz geschnitten worden, ihr Gesicht eingefallen, aber ihre Augen klarer als in den ersten Tagen. Ein Murmeln ging durch den Saal. Viele hatten sie aus Zeitungsberichten gekannt, doch sie in Wirklichkeit zu sehen erschütterte selbst die härtesten Gemüter. Robert saß vorne, blass, zitternd, die Hände ineinander verkrampft. Als Elisabeth näher kam, senkte er den Blick.
Es war das erste Mal nach 30 Jahren, dass er seine Schwester ansah oder vielmehr, dass er es nicht wagte. Der Richter fragte sanft: “Frau Marfels, können Sie uns erzählen, was mit Ihnen geschehen ist?” Elisabeth stand einen Moment schweigend da. Ihre Stimme war rau, brüchig. Mein Vater sperrte mich ein. Ich war 20 Jahre alt. Ich war schwanger.
Ein leises Keuchen ging durch den Saal. Elisabeth fuhr fort. Ich war dort oben, der Dachboden, 30 Jahre. Ich habe nie jemand gesehen, nie das Haus verlassen, nie?” Ihre Stimme stockte. Josephine drückte ihre Hand. Elisabeth holte Atem. Mein Bruder. Er wusste es. Er hörte mich. Er sah, wie Mutter und Vater hochging.
Er wusste es. Der Richter wandte sich an Robert. Möchten Sie dazu Stellung nehmen? Robert begann zu weinen. Ich hatte Angst. Vater war er. Er er hätte mich. Elisabeth unterbrach ihn zum ersten Mal mit einer Kraft in der Stimme, die an die junge Frau erinnerte, die sie einst gewesen war. Du warst 18, als es begann. Ja, aber du warst 28. 38.
Du wurdest Vater. Du wurdest Mann, aber nie mein Bruder. Der Saal wurde still. Roberts Verteidiger versuchte mildernde Umstände vorzubringen. Angst, Druck, Erziehung, die Zeit. Doch niemand im Raum konnte nachvollziehen, wie ein Mensch jahrzehntelang schweigen konnte, wenn jemand im selben Haus l.
Am Ende empfahl der Richter eine harte Strafe und Elisabeth sagte nur: “Ich will keine Rache. Ich will, daß er frei ist, so frei, wie ich es jetzt bin.” Frei, den Namen zu tragen, der ihn verrät. Robert bekam 20 Jahre Haft. Es war weniger als das, was Elisabeth erlebt hatte, aber genug, um die Gesellschaft zu beruhigen.
Das öffentliche Interesse an Elisabeth wuchs. Viele wollten sie sehen, wollten ihre Geschichte hören, doch Josehine schirmte sie ab. Sie hat genug Augen gesehen”, sagte sie zu den Journalisten. “Jetzt braucht sie Menschen.” Eines Abends, als Josephine wiederging und Elisabeth im Bett lag, bewegte sie ihre Finger langsam über die Decke.
Sie spürte den Stoff: “Weich, warm, etwas, das im Dachboden nie existiert hatte.” Und sie dachte, es ist möglich, dass ein Leben nach dem Tod beginnt. Nicht der Tod des Körpers, sondern der Tod der Vergangenheit. Im April durfte sie das Krankenhaus erstmals verlassen, für wenige Minuten, gestützt von Josephine und Dr. Salger.
Draußen roch die Luft nach feuchter Erde und Frühlingsblumen. Kinder lachten auf dem Platz. Eine Frau schob einen Kinderwagen vorbei. Ein kleiner Hund bälte. Für Elisabeth war jedes Geräusch wie ein Funke. Sie blieb stehen, unfähig weiterzugehen. “Zu viel?”, fragte der Arzt. Elisabeth nickte kaum merklich, doch dann hob sie den Kopf und sah den Himmel, diesmal ohne vor Schmerz die Augen zu schließen.
“Ich wusste nicht mehr”, flüsterte sie, “dass der Himmel so groß ist.” Josehine lächelte, “Und gehört dir jetzt wieder?” Elisabeth schloss die Augen und atmete tief ein. Zum ersten Mal seit dreißig Jahren roch sie Freiheit. Nicht im übertragenen Sinn, sondern wirklich spürbar, greifbar. Ein Duft aus Leben, Erde, Wind und Zukunft.
Im Sommer des Jahres wurde Elisabeth aus dem Krankenhaus entlassen. Nicht, weil sie vollständig genesen war, das würde Jahre dauern, sondern weil sie inzwischen stabil genug war, um in einer häuslichen Umgebung weiterbehandelt zu werden. Doch in ihr ehemaliges Zuhause kehrte sie nicht zurück.
Das Haus der Marfels war für sie kein Ort der Erinnerung, sondern ein Ort des Todes. Ein Ort, an dem sie begraben gewesen war, ohne dass man ihr einen Sag gegeben hatte. Josephine nahm sie bei sich auf. Josephines Haus lag in einer stillen Seitenstraße von Ravensruhe mit einem kleinen Garten voller Ringelblumen und einem alten Kirschbaum, der im Sommer Schatten spendete.
Elisabeth bekam das Zimmer im Erdgeschoss, ein heller Raum mit einem Fenster, das auf den Garten hinausging. Als sie zum ersten Mal ein eigenes Fenster öffnete, das nicht vernagelt war, stockte ihr der Atem. Sie streckte die Hand hinaus, tastete die Luft, als wäre sie etwas Kostbares, daß man ihr wiedergegeben hatte. Der erste Abend im neuen Zimmer war für sie überwältigend.
Der Raum war zu weich, zu warm, zu freundlich. Die Stille war keine Gefängnisstille mehr, sondern eine friedliche. Josehine brachte ihr Tee, stellte ihn auf den kleinen Tisch und sagte: “Wenn du nachts Angst bekommst, ruf mich einfach.” Elisabeth nickte. Worte fehlten ihr noch immer oft. Der Alltag begann langsam, fast rituell.
Morgens öffnete Josephine die Vorhänge nur ein kleines Stück. Elisabeth konnte so entscheiden, wie viel Licht sie ertragen konnte. Dann kam die Krankenschwester, die ihr bei Übungen half, Bewegungen, die Kinder mühelos taten, die für Elisabeth aber Berge waren. Ein Bein heben, zwei Schritte gehen, 3 Sekunden freistehen.
Danach frühstückte sie oft nur eine kleine Schale Haferbrei oder Brot mit Butter, weil ihr Körper sich erst wieder an Nahrung gewöhnen musste. Am Nachmittag saß sie manchmal im Garten. Die Sonne auf ihrer Haut war ein Gefühl, dass sie kaum begreifen konnte. Wärmer als jede Decke, lebendiger als jedes Licht, das durch Holzritzen gefallen war. “Es brennt”, sagte sie einmal leise.
Josephine lachte sanft. “Nein, das ist Wärme. Das ist Leben.” Langsam begann Elisabeth zu sprechen. Nicht viel. Kleine Sätze, Beobachtungen. Eine Frage hier, ein Kommentar dort. wie ein Kind, das Sprache neu lernte. Die Ärzte sagten: “Es sei normal. Isolation dieser Länge konnte das Sprachzentrum verkümmern lassen.
Die Worte mussten neu aufgebaut werden, wie Muskeln, Emotionen auch.” Manchmal brach Elisabeth aus scheinbar banalen Gründen in Tränen aus, wenn ein Vogel im Garten landete, wenn Kinder lachten, wenn Josehine ihr eine Tasse reichte. Jeder Blick in die Welt war ein Blick in etwas, das sie verloren hatte. Doch darin lag auch ein stiller Mut.
Sie wollte es wieder lernen. Währenddessen wuchs außerhalb ihres kleinen neuewonnen Universums ein gewaltiger öffentlicher Druck. Zeitungen aus Stuttgart, München und sogar Berlin berichteten über den Fall Marfels. Frauenrechtlerinnen nannten ihn ein Symbol für das Schweigen, das in vielen deutschen Haushalten herrschte.
Geistliche diskutierten über Sünde, Schuld und Vergebung. Juristen stritten über Verantwortung und historische Gerechtigkeit. Und Elisabeth, sie wusste von allem wenig. Josephine schirmte sie ab, zeigte ihr nur Ausschnitte, die sie verkraften konnte. Doch eines musste Elisabeth selbst tun.
Sie musste die Stelle wiedersehen, wo man Isabelle begraben hatte. Josephine fragte vorsichtig: “Willst du wirklich hin?” “Du musst nicht.” Elisabeth antwortete ohne zu zögern: “Ich muß.” Sie ging unter Schmerzen und mit Mühe. Der Birnbaum stand noch immer dort, alt, knorrig. voller Erinnerung.
Die Erde war an der Stelle frisch umgegraben worden, als man Isabels Überreste exumierte. Ein kleiner Holzpfall markierte die Stelle. Elisabeth kniete sich mühsam auf den Boden, legte die Hand auf die Erde und schloss die Augen. “Ich bin da”, flüsterte sie. “Ich habe dich nicht vergessen.” Josephine stellte sich schweigend neben sie. Dieser Besuch veränderte Elisabeth. Es war, als hätte sie einen letzten Faden zu ihrem alten Gefängnis durchtrennt. Danach sprach sie mehr.
Sie lachte sogar einmal, leise, überrascht von dem Geräusch. Sie begann Bücher zu lesen. Erst Kinderbücher, dann einfache Romane. Sie lernte wieder, was Zeit bedeutete. Morgen, Mittag, Abend. Was Freiheit war, ein Gefühl, das Angst und Schönheit gleichzeitig in sich trug.
Im Herbst 1925 erhielt Elisabeth einen Brief vom Gericht. Man bat sie um ihre Zustimmung zur endgültigen Räumung des Hauses der Marfels. Elisabeth las den Brief, legte ihn beiseite und sagte: “Er soll verschwinden, das Haus, alle seine Wände.” Josephine nickte, sie verstand. Und so wurde beschlossen, das Haus abzureißen.
Nicht aus Notwendigkeit, sondern als symbolischer Akt, einem Grabgleich. Als der Abriss begann, stand Elisabeth mit Josephine und mehreren Nachbarn am Rand der Straße. Der Lärm der Maschinen war laut, aber Elisabeth wich nicht zurück. Bauschutt fiel, Bretter splitterten, Fensterbarsten. Der Dachboden, ihr Gefängnis, brach zusammen wie ein Kartenhaus.
Als der letzte Balken fiel, schloss Elisabeth die Augen und atmete tief durch. Jetzt bin ich wirklich frei”, sagte sie leise. “Doch ihre Freiheit sollte nicht nur für sie gelten, denn eines Tages, an einem klaren Novembermen, legte Josehine ihr eine Zeitung hin. Elisabeth, sie haben jemanden gefunden, eine Frau in Sachsen, seit 15 Jahren eingesperrt von ihrer Familie wegen eines unehelllichen Kindes. Elisabeth erstarrte. Sie sah Josephine lange an.
Ich will hinfahren”, sagte sie. Josephine lächelte. “Ich dachte, du würdest das sagen.” Und an diesem Tag begann etwas Neues. Nicht Reue, nicht Schmerz, sondern Aufgabe. Aufgabe und Berufung. Elisabeth hatte dreig Jahre verloren, doch sie würde nicht zulassen, daß dieselbe Finsternis erlebten. Die Reise nach Sachsen war Elisabeths erster großer Ausflug seit ihrer Befreiung.
Josephine begleitete sie, ebenso eine Krankenschwester und ein Vertreter einer Frauenhilfsorganisation, die Elisabeths Geschichte zu einem nationalen Symbol gemacht hatte. Die Zugfahrt war für Elisabeth eine Prüfung. Die Geräusche der Räder auf den Schienen, das Pfeifen der Lokomotive, das Stimmengewirr im Abteil, all das überforderte sie.
Sie saß dicht an Josephines Seite, die Hände fest umklammert, als würde sie sich in einer fremden Welt festhalten müssen. Doch gleichzeitig war da ein Funk in ihren Augen. Etwas, das man zuvor nie gesehen hatte, ein Hauch von Entschlossenheit. Als sie im kleinen Ort in Sachsen ankam, lag Schnee auf den Dächern. Die Kälte bis in Elisabeths Haut, aber sie ließ sich nicht abschrecken.
Sie wurde zu einem Haus geführt, äußerlich unscheinbar, mit verwitterten Fensterläden und einem alten Zaun. Das Haus der Frau, die man 15 Jahre versteckt hatte. Als die Nachbarn die Gruppe sahen, flüsterten sie. Einige blieben stehen, andere senkten den Blick. Es erinnerte Elisabeth an die Menge vor dem Krankenhaus in Ravensru. Jene Mischung aus Neugier, Scham und Faszination.
Doch diesmal war sie nicht das Opfer. Sie war die Stimme für das Opfer. Die Polizei öffnete die Tür. Ein stechender Geruch schlug ihnen entgegen. Feuchte Kälte, Schimmel, abgestandene Luft. Elisabeth schauderte, doch sie ging weiter. Der Dachboden des Hauses war kleiner als der, in dem sie selbst gelitten hatte, aber die Atmosphäre war die gleiche.
Dunkel, schmutzig, trostlos. In der Ecke lag eine Frau, zusammengerollt wie ein verletztes Tier. Ihr Haar war schmutzig, ihre Haut blassß, ihre Augen weit aufgerissen. Sie sah aus wie ein Spiegelbild von Elisabeth vor einigen Monaten. “Ich heiße Anna”, flüsterte sie, kaum hörbar, als man sie vorsichtig aufsetzte. Elisabeth kniete sich neben sie.
“Du bist nicht mehr allein”, sagte sie ruhig. “Ich weiß, wo du warst. Ich kenne die Dunkelheit.” Anna begann zu weinen. Elisabeth legte ihr die Hand auf den Rücken. Diese simple Geste, eine, die ihr selbst 30 Jahre lang verwrt geblieben war, hatte nun eine Kraft, die Worte nicht erreichen konnten. Der Fall von Anna wurde zu einem Wendepunkt.
Elisabeth wurde gebeten als Zeugin, als Symbol und als Stimme bei verschiedenen Prozessen aufzutreten. Nicht, weil sie es wollte, sondern weil sie konnte. Ihre Geschichte gab ihr Glaubwürdigkeit. Ihre Vergangenheit war zu einem Werkzeug geworden, das andere befreien konnte. In den folgenden Monaten reiste sie durch mehrere deutsche Städte: Dresden, Leipzig, Nürnberg.
Überall traf sie auf Menschen, Frauen, meist jung gewesen, als man sie weggesperrt hatte und nun wie gefrorene Schatten ihrer selbst. Viele konnten nicht sprechen. Viele hatten denselben Blick wie Elisabeth 1, den Blick eines Menschen, der nicht sicher war, ob die Welt draußen wirklich existierte. Elisabeth sprach mit ihnen.
Sie erzählte ihn nicht von ihren eigenen Qualen, sondern davon, wie man wieder atmen lernt, wie man das Licht Schritt für Schritt erträgt, wie man den eigenen Namen wieder ausspricht, ohne zu zittern. In Ravens Ruh wuchs unterdessen ein neuer Zweig der Frauenhilfsbewegung. Man nannte ihn Lichtkreis, ein Treffpunkt, ein Schutzort, ein Netzwerk für Frauen, die Gewalt erfahren hatten.
Elisabeth wurde so etwas wie seine Patronin, nicht offiziell, nicht mit Titel, sondern mit ihrer bloßen Anwesenheit. Frauen kamen zu ihr, setzten sich neben sie, tranken Tee, sprachen oder schwiegen. Und sie hörte zu. Elisabeth war nicht mehr die schweigende Gefangene. Sie war die stille Zuhörerin, die die verstand.
Doch während sie anderen half, begann sie langsam ihre eigene Vergangenheit zu ordnen. Sie sprach häufiger über Isabelle. Sie erzählte Josehine eines Abends: “Ich habe manchmal Angst, sie zu vergessen.” Josehine nahm ihre Hand. Du wirst sie nicht vergessen. Du hast sie dreißig Jahre lang in deinem Herzen getragen.
Elisabeth schwieg einen Moment, dann sagte sie: “Ich frage mich, wie sie heute wäre.” Josehine lächelte traurig. Vielleicht hier im Garten mit uns. Vielleicht würde sie lachen. Elisabeth lächelte zum ersten Mal bei dem Gedanken. Ich hoffe, sie hätte gelacht. Doch die Vergangenheit war hartnäckiger, als Elisabeth erwartet hatte. Eines Nachts hatte sie einen Albtraum.
Der Dachboden eng und stickig, Rebecas Schritte auf der Treppe, der Riegel, der zuschlug. Sie wachte schweißgebadet auf, unfähig, den Atem zu regulieren. Josehine stürzte ins Zimmer, setzte sich zu ihr, legte einen Arm um sie. “Es ist vorbei”, flüsterte sie. “Du bist hier. Du bist sicher. Elisabeth zitterte lange. Erst als der Morgen graute, beruhigte sie sich.
Doch an diesem Morgen traf sie eine Entscheidung. Sie wollte lernen zu leben, nicht nur zu überleben. “Ich will nicht mehr fliehen”, sagte sie zu Josephine. “Ich will verstehen.” Sie begann eine Therapie. Damals waren solche Behandlungen noch nicht weit verbreitet. Doch Dr. Seger vermittelte ihr einen jungen Psychiater aus Freiburg, der sich für Elisabeth Fall interessierte.
Die Gespräche waren schwer, langsam, schmerzvoll, aber sie zeigten Elisabeth Wege, ihre Erinnerungen nicht als Ketten, sondern als Kapitel zu betrachten. Kapitel, die abgeschlossen werden konnten, nicht vergessen, aber integriert. Im Frühjahr des folgenden Jahres begann sie jeden Morgen allein in den Garten zu gehen.
Der Kirschbaum blühte und Elisabeth legte ihre Hand auf die Rinde, als würde sie prüfen, ob die Welt wirklich fest war. Langsam lernte sie die Vögel zu unterscheiden, den Wind zu hören, ohne sich zu ducken, das Licht auszuhalten, ohne die Augen zu schließen. Josephines Kinder behandelten sie wie eine Tante. Sie brachten ihr kleine Zeichnungen, halfen ihr beim Spazieren gehen, stellten ihr Fragen, die Erwachsene nie stellen würden.
Hattest du damals Freunde? Hast du Angst vor der Nacht? Magst du Schokolade? Elisabeth lächelte bei jeder Frage. Kinder verstanden die Welt anders und dadurch machten sie sie leichter. Eines Abends, als Josephine und Elisabeth im Garten saßen und die Kirschblüten langsam zu Boden fielen, sagte Josehine: “Weißt du, Elisabeth, du hast das Leben von so vielen verändert.
Du bist zu etwas geworden, dass du nie sein wolltest, aber das die Welt braucht. Elisabeth dachte einen Moment nach, dann sagte sie leise: “Vielleicht hat Gott mich nicht vergessen. Vielleicht hat er mich nur später zurückgerufen. Es war kein Versuch, das Leid zu verherrlichen. Es war die Art, wie Elisabeth versuchte, Sinn zu finden.
Und Sinn war der erste Schritt zur Heilung. Doch das wichtigste Kapitel der neuen Elisabeth sollte noch beginnen und es begann an einem unscheinbaren Frühlingstag mit einem Brief, der im Briefkasten lag. Ein Brief, der nur fünf Wörter enthielt. Ich möchte dich sehen, Ferdinand.
Der Brief lag unscheinbar auf dem Küchentisch zwischen einer Rechnung und einem Werbefaltblatt eines örtlichen Stoffladens. Josephine hatte ihn am Morgen aus dem Briefkasten geholt und nur einen flüchtigen Blick darauf geworfen, bevor sie stutzte. Der Name auf dem Umschlag ließ sie innerhalten. Für Elisabeth Marfels. Die Handschrift war sauber, leicht geneigt, die eines Mannes, der mit Feder und Tinte vertraut war.
Josephine brachte den Brief ins Wohnzimmer, wo Elisabeth gerade versuchte, ein Strickmuster zu verstehen. Sie sah auf, bemerkte Josephines ernsten Blick und legte das Strickzeug beiseite. “Etwas passiert?”, fragte sie mit einem Hauch von Unsicherheit. “Ein Brief von jemandem, von dem ich nicht wusste, dass er noch schreiben würde.” Josephine reichte ihr den Umschlag.
Als Elisabeth den Namen sah, wurde ihre Haut noch blasser, als sie ohnehin schon war. Ihre Finger zitterten, Ferdinand, der Mann, den sie geliebt hatte, der Mann, dessen Kind sie geboren hatte, der Mann, dessen Leben man ihr entrissen hatte, wie einen kostbaren Faden. Sie öffnete den Umschlag langsam, sorgfältig, als wäre er aus Glas.
Der Brief enthielt nur fünf Worte und doch hätten es tausend sein können. Ich möchte dich sehen, Ferdinand. Elisabeth las die Zeilen wieder und wieder. Ihr Atem wurde flach. Ihre Gedanken sprangen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen der jungen Frau, die sie einmal gewesen war und der Frau, die sie jetzt war.
Schließlich legte sie den Brief auf ihren Schoß und sah Josehine an. Er lebt. Josephine nickte. Ja, und er hat dich nicht vergessen. Elisabeth schloss die Augen. Tränen liefen über ihre Wangen, aber diesmal waren sie nicht aus Schmerz, sondern aus etwas, dass sie kaum wiederkannte. Hoffnung. Doch Hoffnung machte ihr genauso Angst wie Dunkelheit.
Die folgenden Tage waren für Elisabeth eine Qual. Sie hatte Ferdinand seit drei Jahrzehnten nicht gesehen. Würde er sie erkennen? Würde er sie ansehen können? Würde er in ihrem veränderten Gesicht noch etwas finden, dass er einst geliebt hatte? Josephine versuchte sie zu beruhigen. Er hat geschrieben, er will dich sehen. Das sagt alles.
Aber Elisabeth wustte, Liebe war etwas Zartes und sie selbst war gezeichnet, gebrochen, nur notdürftig wieder zusammengefügt. Trotzdem willigte sie ein. Das Treffen fand in einem kleinen Pavillon im Stadtgarten statt, einem Ort, den Elisabeth in jungen Jahren gekannt hatte, als sie noch mit Josephine und Ferdinand dort spazieren gegangen war.

Josephine begleitete sie, doch sie blieb in einiger Entfernung, damit Elisabeth und Ferdinand allein sein konnten. Elisabeth setzte sich auf eine Bank, zitternd, den Blick auf die Kieselsteine zu ihren Füßen gerichtet. Dann hörte sie Schritte, langsame, schwere Schritte, Schritte eines Mannes, der alt geworden war und viel gesehen hatte.
Elisabeth, seine Stimme, tief, weicher als in ihrer Erinnerung. Sie hob den Kopf. Ferdinand stand da. Sein Haar war grau, sein Gesicht von Falten durchzogen, aber seine Augen, seine warmen braunen Augen waren unverändert. Sie hielten dieselbe Güte, dieselbe Aufmerksamkeit, die sie einst in ihn verliebt hatten. Ferdinand, flüsterte sie.
Er kam näher, sank auf die Bank neben sie und sah sie lange an, nicht schockiert, nicht entsetzt, sondern traurig. und er fürchtig. “Ich habe dich gesucht”, sagte er leise. “Ich habe dich jahrelang gesucht, aber man sagte mir, du seist fort, verreist, gestorben, alles und nichts. Ich wusste nicht, wem ich glauben sollte.
” Elisabeth senkte den Blick. “Ich war nie fort. Ich war dort.” Sie deutete Waage in Richtung der Straße, wo das Haus der Marfels einst gestanden hatte. Ferdinand schloss die Augen, als würde er versuchen, nicht zu zerbrechen. Ich habe immer gewusst, dass du nicht freiwillig gegangen bist. Dann wandte er sich ihr wieder zu.
Es tut mir so leid, was du durchstehen musstest. Elisabeth schüttelte den Kopf. Es ist nicht deine Schuld. Ferdinand zögerte einen Moment. Dann fragte er vorsichtig. Und unser Kind. Elisabeths Hände verkrampften sich. Sie sagte lange nichts, dann hauchte sie. Sie hieß Isabelle. Ferdinand vergrub das Gesicht in den Händen. Er weinte offen, haltlos.
Elisabeth legte eine Hand auf seinen Arm. Sie war schön und sie hat gelebt drei Tage. Ferdinand schluchzte und Elisabeth spürte, wie der Schmerz der Vergangenheit nicht kleiner wurde, aber geteilt werden konnte. zum ersten Mal seit dreig Jahren. Sie sprachen noch lange über damals, über heute, über alles, was gewesen war. Ferdinand erzählte, dass er nie geheiratet hatte.
“Ich konnte niemanden lieben, wie ich dich liebte”, sagte er schlicht. Elisabeths Herz zog sich zusammen, aber ich bin nicht mehr die, die ich war. Ferdinand nahm ihre Hand. Du bist immer noch Elisabeth, die Beste, die ich je kannte. Es war kein Liebesgeständnis, es war eine Wahrheit, eine Anerkennung, ein Trost.
Von diesem Tag an trafen sie sich regelmäßig, nicht als Liebende, das war zu spät, zu schmerzhaft, zu zerbrechlich, sondern als zwei Menschen, die einander kannten, wie niemand sonst. Sie gingen spazieren. Sie sprachen über Bücher, über Musik, über all die Dinge, die sie im Dachboden nie hören konnte.
Elisabeth lernte, dass Beziehungen viele Formen haben konnten, das Nähe nicht immer Romantik bedeutete und dass Liebe auch in Freundschaft leben konnte. Doch während Elisabeth endlich ein Stück Frieden fand, war die Welt im Wandel. Die politischen Spannungen in Deutschland nahmen zu. Zeitungen berichteten von neuen Parteien. radikalen Bewegungen, Aufmerchen.
Der Schatten einer kommenden Bedrohung zog langsam über das Land und Elisabeth spürte zum ersten Mal seit ihrer Befreiung die leise Ahnung, dass ihre neue Freiheit nicht selbstverständlich war. Doch noch wußte sie nicht, wie sehr diese Schatten ihr Leben erneut berühren würden. Die kommenden Jahre brachten eine seltsame Mischung aus Hoffnung und Unruhe in Elisabeth Leben.
Einerseits begann sie ihre Freiheit zu verinnerlichen. Sie lernte allein zu gehen, ohne ständig über die Schulter zu blicken. Sie gewöhnte sich an Geräusche, an das Klappern der Kaffetassen im Gasthaus an der Ecke, an das Klirren der Kirchenglocken, an das Murmeln der Gespräche im Stadtpark.
Andererseits wurde die politische Lage in Deutschland immer aufgewühlter. In den Zeitungen standen Worte wie Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, Radikalität. Männer marschierten durch Straßen, riefen Parolen, hielten Fahnen hoch. Elisabeth verstand wenig davon, doch sie sah die Sorge in den Gesichtern der Menschen und sie spürte, daß etwas Dunkles wuchs. Sie selbst hielt sich aus allem heraus.
Ihre Welt bestand aus kleinen einfachen Dingen, dem Garten, in dem sie täglich beim Kirschbaum saß, ihren Gesprächen mit Josephine, ihren regelmäßigen Treffen mit Ferdinand und den Sitzungen im Lichtkreis, wo sie Frauen unterstützte, die Gewalt und Isolation erlebt hatten.
Elisabeth war kein Mensch der großen Worte, aber ihre bloße Anwesenheit gab anderen Mut. Viele Frauen sahen sie an und dachten, wenn sie überlebt hat, kann ich es auch. Eines Tages kam eine junge Frau namens Margarete in den Lichtkreis. Sie war erst 20, mit roten Haaren und ängstlichen flehenden Augen.
Sie erzählte mit brüchiger Stimme, dass ihr Mann sie einsperrte, wenn er zur Arbeit ging. Nicht so lange wie Elisabeth, nur einige Stunden, aber die Angst war dieselbe. Ich dachte, das sei normal. sagte sie. Ich dachte, so müsße eine Frau leben. Elisabeth legte ihr eine Hand auf die Schulter. Nein, sagte sie ruhig. Freiheit ist kein Geschenk, sie ist ein Recht. Diese Worte machten die Runde.
Frauen aus dem ganzen Umland kamen, um mit Elisabeth zu sprechen. Manche wollten Trost, manche Antworten. Manche wollten einfach jemanden sehen, der nicht zerbrochen war, obwohl man ihn brechen wollte. Doch die Gesellschaft war nicht bereit, Vergangenheit ruhen zu lassen. Immer wieder tauchten Journalisten auf.
Sie wollten Interviews, Fotografien, sensationelle Berichte. Josephine schirmte Elisabeth ab, doch manchmal gelang es einem Reporter, ein Bild von ihr zu machen. Ein Bild von einem Gesicht, das von Vergangenheit gezeichnet war, aber mit Augen, die wierlebten. Elisabeth hasste diese Bilder.
Sie fühlte sich wie ein Ausstellungsstück, ein lebendiger Beweis für Grausamkeit. Sie wollte nicht gesehen werden, sie wollte verstanden werden. Eines Abends, als Elisabeth mit Josephine am Küchentisch saß und an einem dünnen Apfeltee nippte, kam Ferdinand vorbei. Sein Gesicht war ernst. “Ich habe Nachrichten gehört”, sagte er.
Es gibt wieder Fälle, nicht nur in Sachsen, auch in Bayern, Hessen, sogar in Baden. Familien, die ihre Töchter verstecken, weil sie sich schämen. Mädchen, die verschwinden. Elisabeth legte die Tasse ab. Also beginnt es von vorn. Es hat nie aufgehört”, sagte Ferdinand leise. Nur niemand hat je hingesehen. Elisabeth schwieg lange. Dann sagte sie: “Dann müssen wir hinsehen.
” Diese Worte wurden zum Auslöser einer Bewegung. In den kommenden Monaten traf Elisabeth sich mit Frauenrechtlerinnen, geistlichen, Ärzten und Vertretern der Stadtverwaltung. Sie sprach wenig, aber wenn sie sprach, hörte man ihr zu. Eine Frau, die dreig Jahre im Dunkeln überlebt hatte, war ein Beweis dafür, dass das Unvorstellbare möglich war und dass es verhindert werden mußte.
Es wurde eine Petition gestartet, die eine strengere Kontrolle der häuslichen Gewalt forderte. Ein Gesetzesentwurf entstand und Elisabeth, die einst ein unsichtbarer Schatten gewesen war, wurde zu einer Stimme, die man nicht ignorieren konnte. Doch trotz all dieser Ereignisse blieb ihr persönliches Leben zart. und verletzlich. Sie und Ferdinand sahen sich oft, doch ihre Beziehung war wie ein stiller Fluss, ruhig, tief, aber ohne Strudel.
Eines Tages fragte er sie vorsichtig: “Hättest du, hättest du dir vorstellen können, damals mit mir zu gehen? Hätten wir es geschafft?” Elisabeth dachte lange nach. “Ja”, sagte sie schließlich. Wir hätten es geschafft. Aber du würdest heute ein anderer Mann sein und ich wäre eine andere Frau. Ferdinand nickte.
Vielleicht ist es gut so, wie es jetzt ist. Elisabeth lächelte schwach. Vielleicht. Doch. Die Vergangenheit war nie weit, besonders nachts. Manchmal, wenn der Wind über das Dach pfiff, hörte Elisabeth noch immer das Schaben eines Riegels, obwohl keiner da war. Sie sah Schatten, die nicht existierten.
Sie erwachte schweißgebadet, den Atem flach, das Herz rasend. Josephine kam dann ins Zimmer, zündete eine kleine Kerze an und setzte sich zu ihr. “Willst du reden?” Elisabeth schüttelte meist den Kopf. “Bleib einfach”, sagte sie und Josephine blieb. Als der Winter 1929 kam, war Ravens Routin verschneit. Die Straßen lagen still unter weißen Decken.
Elisabeth begann längere Spaziergänge zu machen. Einmal stand sie auf der Brücke über den kleinen Fluss, der durch die Stadt floss. Sie sah das Eis treiben und sagte leise: “30 Jahre. Und doch fühlte es sich an, als wäre es ein anderes Leben. Ferdinand, der neben ihr stand, antwortete: “Es war ein anderes Leben und du lebst jetzt ein Neues.” Doch da schüttelte Elisabeth den Kopf.
Ich lebe nicht neu, ich lebe endlich. Doch etwas begann sich zu verändern. Etwas, das Elisabeth zunächst nicht einordnen konnte. Sie wurde schneller müde. Das Atmen fiel ihr schwerer. Ihre Schritte wurden wackeliger. Anfangs schob sie es auf den Winter, auf die Kälte, auf die Anstrengung der letzten Jahre. Doch Dr. Salger beobachtete sie mit wachsender Sorge.
“Du mußt dich schonen”, sagte er streng. Elisabeth lächelte nur. Ich habe genug gestanden. Vielleicht ist es Zeit zu sitzen. Doch die Wahrheit würde sie einholen und sie würde alles verändern. Auch das, was Joseephine und Ferdinandern für selbstverständlich hielten.
Elisabeths Schwäche kam schleichend, aber unaufhaltsam. Anfangs war es nur eine leichte Kurzatmigkeit, wenn sie im Garten unter dem Kirschbaum stand. Dann ein Zittern in den Händen, das sie nicht mehr kontrollieren konnte. Doch im Laufe der Monate wurde ihr Körper merklich dünner, ihre Bewegungen langsamer, ihr Blick müder. Selbst Josefine, die immer versuchte ruhig zu bleiben, konnte nicht mehr übersehen, dass etwas nicht stimmte.
Eines Abends, als Elisabeth beim Abendbrot kaum ein paar Löffel Brühe zu sich nehmen konnte, sagte Josehine sanft: “Wir gehen morgen zu Dr. Salger.” Elisabeth nickte ohne Wiederworte. Das allein war ein schlechtes Zeichen. Die Untersuchung war lang. Dr. Salger hörte ihren Atem ab, tastete ihren Brustkorb, prüfte die Reflexe, sah ihr tief in die Augen.
Sein Gesicht wurde dabei zunehmend ernster. Als er fertig war, bat der er Joseephine kurz mit ihm vor die Tür zu kommen. Elisabeth blieb im Zimmer zurück, die Hände im Schoß gefaltet. Sie wußte, daß Ärzte nur dann flüsterten, wenn die Wahrheit schwer war. Nach wenigen Minuten kehrten die beiden zurück. Josephine setzte sich neben sie, nahm ihre Hand.
“Elisabeth, es ist ihre Lunge”, sagte sie leise. “Sie ist schwach, zu schwach.” Elisabeth nickte langsam. Kein Schock, kein Aufschrei, als hätte sie es bereits gespürt. “Kann man etwas tun?”, fragte sie ruhig. Dr. Salger atmete tief ein. Wir können es verlangsamen, erleichtern, aber nicht aufhalten. Ihr Körper hat zu viel durchstanden, 30 Jahre Mangel. Das bleibt nicht ohne Folgen.
Einen Moment lang herrschte völlige Stille, nur das Ticken der Uhr an der Wand. Elisabeth sah ihre Hände an. Dünne, durchscheinende Haut, die Adern deutlich sichtbar. “Wie lange?”, fragte sie schließlich. Man kann es nicht genau sagen, antwortete der Arzt. Monate, vielleicht ein Jahr. Josephine schlug die Hand vor den Mund und wandte sich ab.
Elisabeth legte ihr die Finger aufs Handgelenk. “Bitte weine nicht”, sagte sie leise. “Ich habe mehr Zeit bekommen, als ich je erhofft hatte.” Und tatsächlich, die Jahre nach ihrer Befreiung waren für Elisabeth ein zweites Leben gewesen. Sie hatte Dinge gesehen, die sie längst verloren glaubte. Himmel, Kinderlachen, die Wärme des Sommers, die Farben des Herbstes.
Menschen hatten ihr die Hand gereicht. Sie hatte sprechen gelernt, lachen, hoffen und lieben auf eine neue sanfte Art. nicht wie früher, nicht wie ein junger Mensch, sondern wie jemand, der weiß, daß jede Berührung kostbar ist. Doch nun mußte sie sich verabschieden, nicht abrupt, nicht verzweifelt, sondern bewusst, Schritt für Schritt.
Elisabeth verbrachte die folgenden Wochen damit, ihre Angelegenheiten zu ordnen. Sie schrieb Briefe an Anna aus Sachsen, an andere Frauen, denen sie geholfen hatte, an Mitglieder des Lichtkreises. Ihre Handschrift war zittrig, aber klar genug, um verstanden zu werden. In jedem Brief standelbe. Du bist nicht allein. Vergissß das nie.
Die Frauen bewahrten diese Briefe später wie kleine Amulette auf. Ferdinand kam jeden Tag. Er las ihr aus Büchern vor, Gedichte von Reiner Maria Rilke, kurze Geschichten, Zeitungsausschnitte. Manchmal sprachen sie über früher, manchmal über die Welt draußen.
Einmal fragte Elisabeth ihn: “Bist du traurig?” Er antwortete: “Ja, aber ich bin dankbar, dass ich dich noch einmal finden durfte.” Sie lächelte. Ich auch. Je schwächer sie wurde, desto mehr Zeit verbrachte sie im Bett oder im Garten, eingewickelt in eine Decke. Josehine stellte einen Sessel neben sie, damit sie nicht allein war.
Elisabeth liebte es, die Blicke durch die Kirschblüten wandern zu lassen. Die zarten Blätter erinnerten sie an die drei Tage mit Isabelle. “Sie hätte hier gerne gesessen”, sagte sie einmal. Josephine streichelte ihren Arm. Sie sitzt hier in dir. Im Spätsommer wurde Elisabeth deutlich schlechter. Ihr Atem war kurz und pfeifend. Jeder Satz kostete Kraft.
Doch sie blieb ruhig, gefasst. An einem warmen Septemberabend bat sie Josehine und Ferdinand zu ihr zu kommen. Sie saßen bei gedämpftem Licht im Wohnzimmer. Elisabeth sagte: “Es ist bald soweit.” Josephine begann zu weinen, doch Elisabeth lächelte. “Ich habe keine Angst”, flüsterte sie.
“Ich hatte Angst im Dunkeln, damals, aber jetzt, jetzt bin ich nicht mehr dort.” Ferdinand legte eine Hand auf ihre Schulter. “Wir sind bei dir.” Elisabeth schloss für einen Moment die Augen und atmete tief ein. “Danke”, sagte sie leise. “Für alles, für das Licht.” In ihren letzten Tagen war Elisabeth ruhig wie ein stiller See. Keine Furcht, kein Zorn, nur Müdigkeit. Josephine hielt ihre Hand.
Ferdinand saß auf einem Stuhl daneben und las, damit seine Stimme den Raum füllte. Die Krankenschwester kam leise und sanft, fast wie ein Schatten. Elisabeth sprach wenig, aber wenn sie sprach, waren die Worte klar. Es war ein gutes Ende. Am Morgen des 14. September 1930 wehte ein milder Wind durch das geöffnete Fenster. Die Blätter des Kirschbaums raschelten leise.
Elisabeths Atem war flach, kaum hörbar. Josephine beugte sich über sie und flüsterte: “Ich bin hier.” Elisabeth öffnete noch einmal die Augen. Ihr Blick war ruhig, hell, frei. “Ich gehe ins Licht”, flüsterte sie. Und dann atmete sie aus, sanft, lautlos. Es war, als wäre sie nie im Schatten gewesen.
In Ravensru sprach man noch viele Jahre über Elisabeth Marfels. Nicht laut, nicht neugierig, sondern ehrfürchtig, als wäre sie eine jener stillen, kaum sichtbaren Heiligen, die keine Wundervollbringen, aber Wunder hinterlassen. Nach ihrem Tod am 14. September des Jahres 1930. Ein Datum, das später in Vereinschroniken, Predigten und Zeitungsartikeln zitiert wurde, versammelten sich die Menschen der Stadt vor Josephines Haus nicht um zu trauern, sondern um zu danken. Sie brachten Blumen, gebackenes Brot, handgeschriebene Zettel. Auf einem
dieser Zettel stand: “Du hast uns das Licht zurückgegeben.” Niemand wusste, wer es geschrieben hatte. Ihr Begräbnis fandi Tage später statt. Es war ein kleiner schlichter Gottesdienst in der Kirche St. Martin, der Kirche, in der Elisabeth in ihrer Jugend gebetet hatte und in der Ferdinand so oft die Orgel gespielt hatte.
Die Bankreihen waren voll, alte Frauen, junge Mädchen, Mütter mit Kindern an der Hand, sogar Männer, die sich sonst nie in die Kirche wagten, saßen beisammen. Nicht, weil Elisabeth eine öffentliche Figur gewesen war. Darum ging es nicht, sondern weil sie etwas verkörperte, wonach viele sich sehnten. Hoffnung nach Dunkelheit.
Der Priester sprach über Vergebung, aber auch über Mut, über die Fähigkeit eines Menschen nach kaum vorstellbaren Jahren der Finsternis wieder Vertrauen zu fassen. Er sagte: “Elisabeth hat nie aufgehört, ein Mensch zu sein, auch als man sie wie einen Schatten behandelte.” Josephine saß in der ersten Reihe und hielt das Taschentuch fest in der Hand.
Ferdinand stand neben ihr, die Schultern steif, aber die Augen weich vor Trauer. Nach der Messe wurde Elisabeth nicht im anonymen Gräberfeld beerdigt, sondern an einem besonderen Ort unter dem Kirschbaum in Josehines Garten. Genau dort, wo sie in den letzten Jahren so oft gesessen hatte. Josephine hatte bei der Stadt eine Ausnahmegenehmigung erwirkt, indem sie sagte, es ist nicht nur ein Baum, es ist ihr zu Hause.
Der Antrag wurde überraschend schnell bewillig, als hätte selbst die Verwaltung verstanden, dass manche Leben nicht in gewöhnliche Formen passen. Das Grab war schlicht, ein Holzkreuz, darauf ihr Name, Ihr Geburtsjahr und ihr Sterbejahr und darunter ein Satz, den Elisabeth selbst in einem ihrer letzten Briefe notiert hatte. Ich habe die Dunkelheit gesehen, aber ich bin im Licht gegangen.
Man entschied sich bewußt gegen eine Marmorplatte oder ein schweres Denkmal. Nichts sollte die Sanftheit ihrer letzten Jahre überdecken. Doch Elisabeths Geschichte endete nicht mit dem Grab. Manche Leben beginnen erst, wenn sie zu Ende gehen. In den Monaten nach ihrem Tod erhielt der Lichtkreis mehr Hilfsgesuche als je zuvor. Frauen aus Städten und Dörfern schrieben Briefe an Josephine.
Sie erzählten ihre Geschichten, baten um Rat, baten um Schutz, baten um jemanden, der glaubte, dass ihr Schmerz echt war. Der Lichtkreis wuchs. Neue Mitglieder kamen. Jüngere, entschlossene Frauen, die sagten: “Wir tragen ihr Werk weiter.” Auch der Fall der jungen Anna aus Sachsen entwickelte sich weiter.
Elisabeth hatte die ersten Gespräche mit ihr geführt, hatte ihr Mut gemacht. Nach Elisabeths Tod reiste Josephine selbst mehrmals zu Anna. Half ihr ein neues Leben aufzubauen. Anna fand Arbeit in einer kleinen Näherei, später sogar eine eigene kleine Wohnung. Sie schrieb regelmäßig an Josephine und legte jedes Mal ein paar Zeilen für Elisabeth bei.
Ich lebe, weil sie mich gesehen hat. Ferdinand spielte weiter Orgel, aber seine Musik veränderte sich. Früher war sein Spiel voll kraftvoller Akkorde gewesen. Nun klang es weicher, tiefer, manchmal fast flüsternd. Die Leute sagten: “Man hört sie darin und das stimmte.” Jedes Mal, wenn er spielte, schien ein Hauch von Elisabeths stiller Stärke durch die Kirche zu ziehen.
Manchmal blieb er nach der Messe noch sitzen, die Hände auf den Tasten ruhend und stellte sich vor. Elisabeth säße auf der Bank im Kirchenschiff. mit demselben schmalen Lächeln, daß sie in ihren letzten Monaten öfter gezeigt hatte. Josephine jedoch war diejenige, die am schwersten mit Elisabeths Tod rang, nicht, weil sie nicht loslassen konnte, sondern weil Elisabeth ein Teil ihres Lebens geworden war.
Ein Teil, der drei Jahrzehntelang gefehlt hatte. Viele Abende saß sie im Garten, am Grab und sprach leise mit ihr. Weißt du, sagte sie einmal, ich denke oft daran, wie du da oben auf mich gewartet hast. Ich hätte früher kommen müssen. Ich hätte mehr kämpfen müssen. Doch dann schüttelte sie den Kopf. Aber du hättest gesagt, dass ich mich nicht quälen soll.
Und vielleicht war das wahr. Elisabeth hatte nie in Vorwürfen gesprochen, nicht einmal gegenüber Robert, nicht einmal gegenüber ihren Eltern. Sie hatte ihre Wut nicht in Worte gesetzt, weil sie gelernt hatte, das Zorn nur dann zerstört, wenn man ihm Raum gibt. Sie hatte stattdessen Licht gesucht und Licht gegeben.
Im Frühjahr des Jahres 1931, nur wenige Monate nach Elisabeths Tod, pflanzte Josephine um das Grab herum einen Kranz aus weißen Narzissen. Sie nannte sie Isabels Blumen. Die Nachbarskinder halfen dabei, Erde zu schaufeln und Samen einzusetzen. Einige verstanden die Geschichte, andere nicht. Aber sie sahen die Sanftheit in Josephines Augen und wussten instinktiv, dass es wichtig war.
Der Kirschbaum blühte erneut und der Wind wehte Blütenblätter über das Grab, als wollte er Elisabeth ein letztes Mal umhüllen. Und jedes Mal, wenn Josephine diese Blüten sah, dachte sie an Elisabeths Worte: “Ich gehe ins Licht. Dieser Satz wurde zum Motto des Lichtkreises. Er stand auf kleinen Postkarten, die Frauen sich gegenseitig schenkten.
Er stand auf Flugblättern, die sie verteilten und er stand in einem kleinen Rahmen an der Wand in Josephines Wohnzimmer. Elisabeth Marfels war nie berühmt im weltlichen Sinne. Sie hatte keine Bücher geschrieben, keine Reden gehalten, keine Auszeichnungen erhalten. Aber sie hatte etwas getan, was wenige Menschen schaffen.
Sie hatte aus unerträglicher Dunkelheit ein Leben geformt, das andere erhälte, nicht laut, nicht mit Triumph, sondern still, warm, menschlich. Und so blieb sie in Ravens Ruh nicht als die Frau im Dachboden in Erinnerung. wie die Zeitungen sie einst genannt hatten, sondern als die Frau, die das Licht fand.
Manche sagten, man könne in Josephines Garten, wenn der Wind richtig stand und die Blätter des Kirschbaums raschelten, ein Flüstern hören. Ein sanftes, tröstliches Ich bin hier. Niemand konnte beweisen, daß es wahr war, aber niemand stellte es in Frage, denn manchmal, so sagten die Leute, bleiben jene, die im Dunkeln gelitten haben, am längsten im Licht. M.