Frau Winter betrat den Raum und blieb stehen. Ihr Blick fiel zuerst auf das Blut, dann auf Margaritas erschöpftes Gesicht, dann auf das kleine Bündel in ihren Armen. Sie sagte nichts. Sie legte nur eine Hand auf Margaritas Schulter, und in dieser Berührung lag etwas, das Margarita seit Monaten nicht mehr gespürt hatte: Menschlichkeit, unvoreingenommen und rein.
„Wir müssen dir helfen“, sagte Frau Winter schließlich leise, ihre Stimme war nur ein Hauch.
Margarita schüttelte verzweifelt den Kopf.
„Wenn ihr mich ins Krankenhaus bringt, werden sie fragen. Sie werden wissen wollen, wer der Vater ist.“ Ihre Stimme brach. „Daniel…“
Herr Winter nickte langsam, ernst, und sein Blick auf Daniel, der in der Ecke kauerte, verriet, dass er bereits verstanden hatte. Nicht alle Details, aber genug von dem düsteren Geflecht aus Isolation, Verzweiflung und Schande.
„Wir bringen keinen Arzt her, der Fragen stellt“, sagte er schließlich. „Wir kennen jemanden privat. Niemand wird etwas melden.“
Margarita wollte widersprechen, wollte schreien, wollte weglaufen, aber sie konnte nichts mehr. Sie war zu müde, zu leer, zu voll Schmerz.
Die Winters kümmerten sich um das Nötigste. Sie brachten frische Bettwäsche, warme Suppe, Bandagen. Sie versorgten die Wunden, die Margarita sich während der Geburt zugezogen hatte. Sie sprachen leise miteinander, als fürchteten sie, das Kind zu erschrecken.
Als Frau Winter das Baby sah, berührte sie vorsichtig dessen Stirn.
„Wie soll sie heißen?“, fragte sie.
Margarita antwortete kaum hörbar.
„Marie.“
Der Name war ein Versuch, Hoffnung zu imitieren, eine dünne Decke über den Abgrund der Realität. Marie, wie Margaritas verstorbene Mutter. Vielleicht würde dieser Name die Kleine schützen. Vielleicht würde er einen Fluch in etwas Erträglicheres verwandeln.
Nach zwei Tagen wurde klar: Niemand durfte etwas erfahren. Herr Winter war der Erste, der es aussprach.
„Wenn die Behörden davon erfahren, wird Daniel in ein Heim oder Schlimmeres gesteckt. Margarita wird man für unfähig erklären und alle Kinder werden getrennt. Marie kommt in Pflege. Lucia und Matthäus auch.“ Seine Stimme war ruhig, aber hart, die Stimme eines Mannes, der die gnadenlose Logik des Systems kannte. „Das System schützt solche Familien selten. Es zerstört sie.“
Margarita presste Marie fester an sich. „Ich kann das nicht zulassen.“
Frau Winter setzte sich neben sie. „Dann wirst du Unterstützung brauchen und wir helfen dir.“
Daniel sagte kein Wort. Er war ein stummer, kauernder Schatten der Schuld.
Tage vergingen, Wochen. Das Dorf blieb unwissend – vorerst. Aber Dörfer sind wie lebendige Organismen. Sie hören, sie tuscheln, sie verbinden, und schon bald begann man zu reden. Dass Margarita plötzlich weniger zur Kirche kam, dass sie mit einem Baby gesehen wurde, obwohl niemand einen Mann an ihrer Seite kannte, dass das Kind dunkle Augen hatte wie Daniel.
Die Gerüchte wuchsen wie Dornranken wuchern, still, hartnäckig und giftig zugleich.
Daniel zog sich immer mehr zurück. Er ging kaum noch zur Schule, und wenn, dann sprach er mit niemandem. In den Pausen saß er allein, kritzelte in seine Hefte, vermied jeden Blickkontakt. Er spürte, dass sie ihn nicht mehr als Jungen sahen. Sie sahen etwas anderes in ihm, etwas Dunkles. Und das Schlimmste daran war, dass er es selbst auch sah.
Als der Winter kam und die letzten Blätter fielen, verschlechterte sich Margaritas Zustand zusehends. Sie schlief kaum, trank zu viel, sprach wenig. Marie war das Einzige, das sie noch zusammenhielt. Doch gleichzeitig war sie der ständige, unerbittliche Spiegel ihrer Schande.
Lucia und Matthäus bekamen mehr mit, als Margarita zugeben wollte. Lucia, die jetzt elf war, beobachtete alles. Die leeren Flaschen, das Zittern der Hände ihrer Mutter, Daniels Abwesenheit.
„Mama, warum weinst du nachts? Mama, warum redet Daniel nicht mehr mit uns? Mama, warum sieht Marie aus wie wir?“
Margarita wich aus, doch Lucia war nicht dumm.
Daniel hingegen begann Marie anzusehen, als sei sie sowohl Hoffnung als auch Strafe. Wenn er sie im Arm hielt, zitterten seine Hände. Wenn sie weinte, lief er davon.