„Wenn sie irgendwann die Wahrheit erfährt, wird sie mich hassen“, flüsterte er einem Abend Frau Winter zu, die ihn zufällig auf dem Hof traf.
„Vielleicht“, sagte Frau Winter. „Aber sie liebt dich trotzdem. Kinder können mehr vergeben, als wir Erwachsene uns zutrauen.“
Doch Daniel schüttelte den Kopf. „Ich kann das nicht vergeben.“
„Dir selbst?“, fragte sie.
Er nickte. „Ja.“
Der Winter wurde kälter, Regen prasselte gegen das kleine Haus und die Nächte wurden lang. Und die Familie Schneider, zerbrochen, beschämt, doch seltsam unbeugsam, versuchte irgendwie weiterzumachen. Doch in kleinen Dörfern ist die Stille niemals sicher. Sie ist nur die Einleitung zum Lärm, der unweigerlich folgt.
Der Wind fegte über die Felder, als hätte er es eilig, Neuigkeiten weiterzutragen. Und im Dorf dauerte es nicht lange, bis die Bewohner begannen, die Puzzleteile zusammenzusetzen oder viel mehr, sie sich so zusammenzureimen, wie es ihnen passte.
Eine alleinstehende Frau, ein plötzliches Baby, ein Sohn, der in sich zusammenfiel wie ein Mensch, der etwas Unaussprechliches wusste. Ein Dorf braucht keinen Beweis, um sich sicher zu fühlen. Nur ein Gerücht. Und Gerüchte wuchsen hier schneller als Unkraut auf den matschigen Wegen zwischen den Höfen.
Die Bäckerin sah Margarita eines Morgens mit Marie auf dem Arm und zog die Augenbrauen hoch. Der Metzger erwähnte beiläufig, dass die Kleine Daniel unangenehm ähnlich sehe. Der alte Herr Krüger, der jeden Tag vor seinem Fenster saß, behauptete, er habe seltsame nächtliche Bewegungen bei den Schneiders beobachtet. Keiner wusste etwas, aber jeder wusste genug, um die schlimmsten Theorien für wahrzuhalten.
Margarita bemerkte die Blicke, die Flüstereien, die kleinen Pausen in Gesprächen, wenn sie einen Laden betrat. Und mit jedem Tag klammerte sie Marie fester an sich, als könne sie das Kind so vor der Außenwelt schützen und die Außenwelt vor dem Kind.
Daniel, der das Dorf nur noch selten betrat, hörte die Gerüchte trotzdem. Sie erreichten ihn wie kalter Rauch, der unter Türspalten kriecht. Wenn er sich auf den Weg zur Schule machte, riefen ihm manche Jugendlichen hinterher: „Na, kleiner Schneider, hast du noch mehr Familiengeheimnisse?“ Oder: „Dein Baby schreit wieder.“ Andere sahen ihn an mit einer Mischung aus Ekel, Angst und Faszination. Er spürte, dass sie ihn nicht mehr als Jungen sahen. Sie sahen etwas anderes in ihm, etwas Dunkles. Und das Schlimmste daran war, dass er es selbst auch sah.
Als der Winter kam und die letzten Blätter fielen, verschlechterte sich Margaritas Zustand zusehends. Sie schlief kaum, trank zu viel, sprach wenig. In manchen Nächten saß Margarita mit Marie auf dem Schoß, wiegte sie, murmelte leise alte deutsche Volkslieder, die ihre Mutter ihr gesungen hatte, und weinte dabei so still, dass selbst Daniel es im Nebenzimmer nicht hörte.
Lucia und Matthäus bekamen mehr mit, als Margarita zugeben wollte. Lucia, die jetzt elf war, beobachtete alles: die leeren Flaschen, das Zittern der Hände ihrer Mutter, Daniels Abwesenheit. Und sie stellte Fragen, immer mehr Fragen.
Daniel merkte, dass die Situation unhaltbar wurde. Seine Verzweiflung verwandelte sich in Schwermut, seine Schwermut in Selbsthass. Er ging kaum noch aus seinem Zimmer. Er dachte darüber nach, wie leicht es wäre, einfach zu verschwinden. Nur eines hielt ihn davon ab: Marie.
Frau Winter bemerkte Daniels Zustand als erste. Eines Nachmittags traf sie Daniel draußen, wo er den eiskalten Regen über sich ergehen ließ.
„Daniel“, sagte sie sanft, „du musst mit jemandem reden.“
Er sagte nichts, doch seine Schultern zuckten leicht.
„Wir kennen einen Psychologen in Hildesheim. Jemand, der dir helfen kann. Du musst nicht alles alleine tragen.“
Daniel hob langsam den Blick. In seinen Augen lag der Ausdruck eines Jungen, der längst erwachsen geworden war, aber ohne etwas gelernt zu haben, außer Schmerz.
„Ich kann nicht sagen, was passiert ist“, flüsterte er.
„Dann fangen wir mit dem an, was du sagen kannst.“
Daniel schüttelte den Kopf. „Es wird nichts ändern.“