„Vielleicht nicht sofort“, antwortete sie. „Aber nichts zu tun ändert gar nichts.“
Und so begann Daniel, schweren Schrittes, immer begleitet von Zweifel, die Therapie. Der Psychologe, ein sachlicher Mann mit ruhiger Stimme namens Dr. Lehmann, sprach mit Daniel über Verlust, über Wut, über Grenzen. Doch Daniel verschwieg die entscheidende Wahrheit.
„Du hast Belastungen getragen, die ein Junge in deinem Alter nicht tragen sollte“, sagte Dr. Lehmann einmal.
Daniel nickte nur. „Glauben Sie, ich könnte anders werden? Nicht mehr so sein?“
„Menschen verändern sich“, antwortete Dr. Lehmann, „aber Veränderung beginnt mit Ehrlichkeit, vor allem dir selbst gegenüber.“
Daniel verstand den Satz, aber er konnte ihn nicht ausführen, noch nicht.
Unterdessen wurde Margaritas Gesundheit immer schlechter. Eines Abends, als der Schnee draußen fiel und die Welt in kaltem Weiß verschluckte, fand Lucia ihre Mutter im Badezimmer zusammengesunken, das Gesicht in den Händen.
„Mama“, fragte Lucia vorsichtig.
Margarita hob den Kopf, die Augen rot. Lucia stellte sich vor sie, klein, aber unbeirrbar.
„Ich weiß, es ist etwas passiert“, sagte sie. „Aber du musst uns sagen, was.“
Margarita schloss die Augen. Sie konnte nicht, noch nicht. Doch in diesem Moment wurde ihr klar: Die Wahrheit würde nicht ewig verborgen bleiben, und sie würde nicht warten, bis Lucia sie selbst fand.
Denn die Wahrheit hat eine Art, Türen zu öffnen, auch wenn sie abgeschlossen sind.
Der harte Winter verging langsam und mit dem ersten Tauwetter kam auch eine neue Gefahr: die Aufmerksamkeit der Außenwelt. Was im Dorf bisher nur geflüstert worden war, begann nun so laut zu werden, dass selbst die Winters es nicht mehr überhören konnten.
Eines Tages stand die Gemeindeschwester Frau Hartwig vor Margaritas Tür. „Nur eine kleine Routinekontrolle“, sagte sie mit einem überfreundlichen Blick. Doch es war kein Routinebesuch. Margarita ließ sie widerwillig herein.
Die Schwester sah Marie, die auf einem Stapel Handtücher gewickelt wurde.
„Wie alt ist sie jetzt?“, fragte die Schwester mit neutraler Stimme.
„Vier Monate“, antwortete Margarita.
„Und der Vater?“
Margarita verkrampfte sich. Die Schwester lächelte dünn. „Sie wissen doch, wir müssen solche Dinge dokumentieren.“
Margarita presste Marie gegen ihre Brust. „Er ist nicht mehr hier.“
„Verstehe.“ Doch in ihrem Blick lag etwas anderes. Misstrauen.
Noch am selben Abend saß Margarita mit den Winters am Küchentisch.
„Sie werden wiederkommen“, sagte Margarita tonlos. „Sie glauben, ich vernachlässige die Kinder oder Schlimmeres.“
„Wir müssen vorbereitet sein“, sagte Herr Winter. „Wenn das Jugendamt eingeschaltet wird, wird es kompliziert.“
„Kompliziert?“, Margaritas Stimme brach. „Sie werden mir die Kinder wegnehmen. Sie werden Daniel…“ Sie konnte den Satz nicht aussprechen.
Daniel stand im Türrahmen. Er hatte das Gespräch gehört. Sein Gesicht war blass, aber etwas in seinen Augen glomm.
„Wenn sie kommen, dann sag es ihnen.“
Margarita fuhr herum. „Was?“
„Sag ihnen, was ich getan habe.“ Seine Worte hingen schwer im Raum. „Ich bin schuld. Nicht du, nicht Marie. Wenn jemand bestraft werden muss, dann ich.“
Frau Winter sprang sofort auf. „Nein, du bist ein Kind, Daniel.“
„Ich bin kein Kind mehr“, flüsterte er. „Nicht seit dieser Nacht.“
Margarita starrte ihn an, als sähe sie ihn zum ersten Mal.
„Du wirst nicht dein Leben zerstören, um meins zu retten. Das ist mein Fehler, meine Verantwortung.“
Daniel senkte den Kopf. „Ich habe dich kaputt gemacht.“
„Nein“, sagte Margarita. „Das Leben hat uns kaputt gemacht. Die Armut, die Einsamkeit, der Schmerz, aber nicht du allein.“ Es war eine Lüge, eine notwendige Lüge, die sie selbst kaum glaubte.
In dieser Nacht schlief niemand. Daniel ging hinaus in die Kälte. Er stand im gefrorenen Gras, blickte hinauf zum Himmel, dessen Sterne wie eisige Nadelspitzen funkelten. Er dachte daran, wie leicht es wäre, einfach zu verschwinden.
Als er zurück ins Haus ging, stand Frau Winter dort.
„Du darfst nicht verschwinden“, sagte sie leise.
„Manchmal bleibt eine Familie nur deshalb bestehen“, fuhr sie fort, „weil einer von ihnen stehen bleibt, wenn alles andere zusammenfällt. Und du wirst derjenige sein, der stehen bleibt.“