Die These der Großtante ist düster: Gina H. fühlte sich durch diese Annäherung endgültig ausgeschlossen. Die wiedergewonnene Vater-Sohn-Beziehung, in der sie keine Rolle mehr spielte, wurde zur Bedrohung, zum Symbol ihres vollständigen Verlustes. Die Großtante fasst es zusammen: “Sie war eifersüchtig. Sie wollte nicht, dass der Vater den Jungen wiedersieht.”. Dies ist die Interpretation der Familie, die ein rationales Motiv in das Chaos der Tat bringt.
Der Faktor Vertrauen: Warum Fabian mitging
Ebenfalls ein Schlüsselargument der Familie: Fabian war ein vorsichtiges Kind, ein “Mama-Kind”. Er hätte sich niemals auf einen Fremden eingelassen, hätte sich gewehrt oder Angst gehabt. Am wichtigsten: Er ließ sein Handy zu Hause. Dies deutet für die Familie darauf hin, dass er ohne Widerstand und ohne Angst gegangen ist, da er der Person, die ihn abholte, vertraute.
Gina H. war eine der wenigen Personen im engen Umfeld, die diese Kriterien erfüllte: Jemand, den Fabian gut kannte, dem er vertraute, und der ihn daher ohne Widerstand mitnehmen konnte. Die Kriminalstatistik stützt diese Annahme: Die meisten Kindstötungsdelikte werden von Bekannten und Verwandten begangen, Fremdtäter sind die Ausnahme. Für die Familie ist diese logische Kette daher eindeutig.
⚖️ Die Gegenseite: Gina H.s Verteidigung und die Unschuldsvermutung
Die Anklage der Familie ist laut, öffentlich und emotional. Doch die Justiz muss nach harten, gerichtsfesten Beweisen suchen. Und genau hier prallen die Überzeugung der Angehörigen und die Realität des Rechtsstaates aufeinander.
Gina H.s Version der Ereignisse
Gina H. hat sich nicht versteckt und ihre Version der Ereignisse öffentlich dargelegt:
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Sie sei an jenem Tag mit einer Freundin in dem Wald gewesen, um den Kopf freizubekommen.
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Die Entdeckung der Leiche sei zufällig und schockierend gewesen.
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Sie habe sofort die Polizei gerufen und an Ort und Stelle gewartet.
Ihr Verhalten ist dabei konträr zu dem, was man von einem Schuldigen erwarten würde: Sie stellte sich öffentlich vor Kameras, gab dem Nordkurier ein Interview, verteidigte sich aktiv und – ein besonders wichtiger Punkt – übergab ihr Handy freiwillig an die Polizei. Ein Handy enthält alle Bewegungsdaten, Nachrichten und Suchverläufe. Eine Täterin würde dieses Beweismittel in der Regel niemals ohne Widerstand herausgeben.
Die Position der Staatsanwaltschaft: Keine Tatverdacht
Am wichtigsten ist jedoch die Aussage der Staatsanwaltschaft Rostock nach der Durchsuchung von Gina H.s Wohnhaus. Oberstaatsanwalt Harald Novak stellte klar: Gina H. steht derzeit nicht unter Tatverdacht.
Die Ermittler kamen mit voller Ausrüstung, durchsuchten jeden Raum und nahmen Kleidung und digitale Geräte mit. Der entscheidende Punkt: Es wurde offenbar nichts gefunden, das für eine Festnahme gereicht hätte.
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Hätte es DNA-Spuren, Blut, Fasern von Fabian oder andere eindeutige Beweise gegeben, säße Gina H. längst in Untersuchungshaft.
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Die Tatsache, dass sie nach der Durchsuchung freigelassen wurde und sich frei bewegen kann, spricht für die bisherige Abwesenheit belastbarer Indizien.
Die juristische Mauer, die Gina H. schützt, ist die Unschuldsvermutung. So verständlich die emotionale Überzeugung der Familie ist: Emotionen, so klar sie auch scheinen, können keine gerichtsfesten Beweise ersetzen.
🚧 Der Spagat der Ermittler: Fakten gegen Gefühl
Die Ermittler befinden sich in einem extrem schwierigen Spagat. Einerseits müssen sie die Sorgen der Angehörigen ernst nehmen, jeden Hinweis prüfen und alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Andererseits müssen sie professionell, nüchtern und faktenbasiert arbeiten.
Das Schweigen der Polizei, das die Familie so sehr quält und das Gefühl erzeugt, “es kommt nichts von der Polizei”, ist oft eine Notwendigkeit im laufenden Verfahren. Zu viele Details gefährden die Ermittlungen, warnen potenzielle Täter oder gefährden die spätere Beweisführung vor Gericht.
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Zeitliche Verzögerungen: Forensische Analysen von DNA, digitalen Daten und Faserabgleichen dauern Wochen oder Monate. Das Gefühl, dass “nichts passiert”, ist für die Angehörigen quälend, da jeder Tag ohne Festnahme ein Tag ohne Gerechtigkeit ist.
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Widersprüchliche Zeugenaussagen: Der Schäfer, der Gina H. sah, beschrieb keine Hektik oder Panik, sondern eine ruhig wartende Frau – ein Verhalten, das zu ihrer Version, die Leiche gefunden und dann auf die Polizei gewartet zu haben, passt.
Der Konflikt zwischen der traumatisierten Welt der Angehörigen und der rationalen Welt der Justiz ist der Kern dieses Falles. Die Familie will mit ihrem öffentlichen Druck erreichen, dass sich neue Zeugen melden und die Ermittlungen beschleunigt werden. Doch dieser Schritt birgt das Risiko der Vorverurteilung, das eine möglicherweise unschuldige Frau für immer mit einem grausamen Verbrechen in Verbindung bringt.