Der Mann, der gegen die Wut kämpft: Andreas Om und die Macht der Zweifel
GÜSTRO/ROSTOCK. In Güstro wächst die Unruhe mit jedem Tag, doch niemand steht so sehr im Zentrum des wachsenden Zweifels wie Rechtsanwalt Andreas Om – der Mann, der verteidigt, während ein ganzer Landesteil seine Mandantin Gina H. längst moralisch verurteilt hat. Seit dem Tag ihrer Festnahme beobachtet der erfahrene Strafverteidiger eine gefährliche Dynamik: die Mischung aus medialer Empörung, öffentlicher Erwartung und der ungeduldigen Suche nach einem schnellen Täter.
Om wirkt äußerlich gefasst, doch hinter seinen präzise gesetzten Formulierungen liegt eine Botschaft, die kaum deutlicher sein könnte, ein juristisches Prinzip, das in diesem emotional aufgeladenen Fall seine volle Sprengkraft entfaltet: „Dringender Tatverdacht heißt nicht Schuld.“
Was für manche wie eine juristische Floskel klingt, ist in diesem Fall der Ausgangspunkt einer tiefgreifenden Revision. Denn Om hinterfragt das Fundament, auf dem der Haftbefehl basiert. Die Indizien, so sagt er, sind nur „Indizien, die belasten sollen“. Dieses eine Wort stellt das gesamte Narrativ der Staatsanwaltschaft in Frage: Sollen sie belasten, oder belasten sie wirklich?
Während die Staatsanwaltschaft von gerichtsfesten Tatsachen spricht und die Nebenklage die Festnahme als gerechtfertigt betrachtet, bleibt Om unbeirrt. Er stellt die Frage, die niemand stellen will, aber die nun wie ein lauter Schatten über dem Fall liegt: Könnte in diesem Gefängnis wirklich die falsche Person sitzen? Und wenn ja, welche Spuren wurden übersehen, weil man sich zu früh auf eine einzige Erklärung festlegte?

Die Anatomie der Engführung: Wenn der Blick sich verengt
Für Andreas Om begann dieser Fall nicht erst mit der Verhaftung seiner Mandantin, sondern mit dem Moment des Leichenfundes, als sich das Klima in Güstro abrupt veränderte. Aus Fassungslosigkeit wurde Wut, aus Wut der kollektive Wunsch nach einer schnellen Antwort. Om, bekannt für seine sachliche Härte und seinen nüchternen Blick, wusste sofort, dass er nicht nur gegen die Anklage arbeitete, sondern gegen eine Atmosphäre, die seine Mandantin bereits moralisch verurteilt hatte.
Sein Alltag wurde zur minutiösen Prüfung jedes Details, zum Versuch, die Fragmente dieses Falls neu zuzuordnen. Er warnte früh: Der Druck drohe, Ermittlungen zu beschleunigen, Indizien zu früh Bedeutung zu verleihen und alternative Szenarien vorschnell beiseite zu schieben. Genau diese Gefahr spürte er im Fall Fabian.
Om widerspricht der Staatsanwaltschaft, die von einer „eindeutigen Indizienkette“ spricht, indem er auf den Interpretationsspielraum verweist. Die Essenz seiner Verteidigungsstrategie ist es, die Unschuldsvermutung als ein Schutzschild zu verteidigen, das erst dann fällt, wenn belastbare, eindeutige Beweise vorliegen. Doch seine Rolle geht über die reine Verteidigung hinaus: Er sieht es als seine Aufgabe, jene Fragen laut zu stellen, die sonst niemand zu stellen wagt: Passt jedes Indiz wirklich in das Gesamtbild? Oder hat man sich zu früh festgelegt?
Der Schlüsselmoment: Eine Chronologie, die nur zu zweit funktioniert
Der eigentliche Wendepunkt in Oms Arbeit kam nicht mit einem spektakulären neuen Beweis, sondern in Form eines unspektakulären Dokuments: einem Protokoll aus einem frühen Ermittlungsinterview, das erst verspätet freigegeben wurde.
Om saß in seinem Büro, als er las, dass die Chronologie eines bestimmten Ablaufs nicht zu dem passte, was zuvor als gesichert dargestellt worden war. Es ging nicht um ein einzelnes Indiz, sondern um eine komplette Sequenz von Ereignissen, die nur dann schlüssig war, wenn eine zweite Person in unmittelbarer Nähe des mutmaßlichen Tatgeschehens anwesend gewesen wäre.
Diese Beobachtung brachte das Fundament der bisherigen Erzählung ins Wanken. Wenn eine komplette Sequenz nur mit einem weiteren Beteiligten funktionierte, dann öffnete sich ein ganz neues Feld an Fragen, die bisher nicht gestellt wurden. Om begann mit einer Akribie zu prüfen, die selbst für ihn ungewöhnlich war, verglich Zeitstempel von Telefonmasten, Nachbaraussagen und Standortdaten. Je tiefer er eintauchte, desto deutlicher wurde ihm: Eine enge Fixierung auf seine Mandantin war nicht nur riskant, sondern möglicherweise gravierend fehlerhaft.
Die Ermittlungen liefen in eine Richtung, die wenig Raum für alternative Erklärungen ließ. Der dringende Tatverdacht schien sich wie ein Magnet auf die Interpretation jedes Indizes auszuwirken – eine Nachricht wurde sofort als Motiv gedeutet, ein Wegpunkt als Fluchtoption. Om hingegen erkannte, dass viele dieser Elemente auch in andere Richtungen hätten gedeutet werden können und dass diese anderen Richtungen bislang kaum beachtet wurden. Die Indizienkette war nicht falsch, aber unvollständig.
Der übersehene Schatten: Ein Unbekannter füllt die Lücke
Durch die gemeinsame Rekonstruktion mit Gina H., die unter dem Druck der Öffentlichkeit zwischen Resignation und Abwehr schwankte, stieß Om auf einen entscheidenden, bisher übersehenen Namen. Es handelte sich um eine Person, die weder in den Medien noch in den Ermittlungsvermerken eine Rolle gespielt hatte. Ein entfernter Verwandter oder Bekannter, der durch bestimmte Umstände eine Nähe zum familiären Umfeld hatte.
Dieser Name füllte eine Lücke in der Logik. Om forderte technische Daten erneut an und verglich die Bewegungsmuster dieser Person. Die Erkenntnis war schockierend: Die Bewegungen überlappten sich an mehreren Stellen mit jenen Zeitpunkten, die für eine alleinige Täterschaft seiner Mandantin problematisch waren.
Noch bedeutsamer war jedoch Oms Fund in einem internen Vermerk: Genau diese Person war von der ursprünglichen Befragung ausgeschlossen worden, weil „kein Ermittlungsansatz bestand“. In diesem Augenblick veränderte sich die gesamte Perspektive des Falles. Während Gina H. innerhalb weniger Tage in U-Haft gebracht wurde, war eine Person mit geografischer Nähe, zeitlicher Übereinstimmung und relevanten Kontakten nicht einmal als Option geprüft worden.
Die unbeantwortete Frage Om’s war so einfach wie explosiv: Warum wurde diese Person nicht überprüft? Das Schweigen, das darauf folgte, sprach lauter als jede Erklärung. Om begriff: Die Indizienkette war nicht nur unvollständig, sie konnte in ihrer Grundstruktur falsch gewichtet sein.
Der Twist: Wer hatte ein Interesse an der Engführung?
Die Eskalation gipfelte im Moment der Retraktion eines Zeugen. Ein Mann, der in den frühen Wochen eine vage, aber zeitlich relevante Beobachtung am Waldrand geschildert hatte, verweigerte im zweiten Gespräch jede Aussage. Om spürte sofort: Dies war nicht die Unsicherheit eines alten Mannes, sondern das bewusste Zurückziehen eines Elements, das an Bedeutung gewonnen hatte.
Und in dem Moment, in dem der Zeuge schwieg, stellte sich Om die entscheidende Frage: Was, wenn jemand ein Interesse daran hatte, dass die Ermittlungen eng blieben?
Der Twist in diesem Fall ist somit nicht die Frage, ob Gina H. die Tat begangen hat oder nicht. Die Frage ist nun, warum schien jemand daran interessiert zu sein, dass ausschließlich sie im Fokus blieb?
Om strukturierte seine Strategie neu. Er forderte die Ermittlungen nicht nur zur Präzisierung, sondern zur Kurskorrektur auf. Der Fall Fabian ist damit nicht nur ein Strafverfahren, sondern eine Geschichte, die sich in zwei Richtungen öffnen kann. Om ist zum stillen Gegenspieler eines Narrativs geworden, das sich in den Köpfen der Öffentlichkeit bereits verfestigt hatte. Er erkannte, dass die Kraft dieser Erkenntnis nicht darin lag, eine neue Schuld zu behaupten, sondern den Raum für eine komplexere Wahrheit wieder zu öffnen.
Die Frage, die sich nun wie ein leiser Strom durch die Gedanken des Verteidigers zieht und das Verfahren prägen wird, lautet: „Wer fehlt in diesem Bild und warum?“ Der Fall ist nicht klarer geworden, aber ehrlicher. Eine Wahrheit, die nur in eine Richtung weist, ist selten vollständig.