IV. Motive hinter dem Abgrund: Rache, Bestrafung und die dunkle Bindung
Petermann unterscheidet zwischen „klassischen“ und einem „sehr außergewöhnlichen“ Motiv:
1. Klassische Motive: Eifersucht und Rache (Der Akt über Bande)
Die naheliegendsten Erklärungen in einem Beziehungsdrama sind Eifersucht oder der Wunsch, eine andere Person zu bestrafen. Der Mord an Fabian wäre in dieser Lesart nicht unbedingt das direkte Ziel, sondern ein Mittel, um eine dritte Person – beispielsweise den Vater oder die Mutter – ins Mark zu treffen, indem man ihr das Liebste nimmt. Dies wäre ein Racheakt, über Bande gespielt; eine brutale, kalkulierte Form der Vergeltung, die die tiefsten Wunden reißt. Das Kind wird zum Werkzeug der Rache in einem eskalierten Beziehungskonflikt.
2. Das außergewöhnliche Motiv: Bindung durch Beseitigung
Das von Petermann als „sehr außergewöhnlich“ bezeichnete Motiv ist zugleich das verstörendste: Der Versuch, durch den Mord eine andere Person wieder enger an sich zu binden.
Dies deutet auf eine tiefgreifend gestörte Persönlichkeitsstruktur und Beziehungsdynamik hin. Die perverse Logik dahinter, so Petermann, wäre: Durch die Beseitigung einer Person – hier des Kindes, das als „Störfaktor“ oder Bindeglied zur anderen Person (dem Ex-Partner) wahrgenommen wird – erhofft sich die Täterin, die wichtige Bezugsperson wieder stärker an sich zu ziehen. Wie? Etwa durch gemeinsames Leid, das angeblich wieder zusammenschweißt, oder durch das radikale Wegfallen einer vermeintlichen Konkurrenzsituation.
Dieses Motiv ist psychologisch hochkomplex und extrem selten, aber es beleuchtet, welche verdrehten Denkweisen in Extremsituationen entstehen können. In diesem Szenario ist die Tat ein manipulativer Versuch, die Realität zu verbiegen, um eine emotional ersehnte Nähe – die in einer vielleicht ohnehin schon toxischen oder dysfunktionalen Beziehung existierte – gewaltsam zu re-etablieren.
V. Die Psychologie der Vertuschung: Petermanns Theorie der Inszenierung
Neben den Motiven beleuchtet Petermann auch den psychischen Zustand nach einer solchen Tat. Er spricht von einer absoluten Ausnahmesituation, einem Zustand höchsten Stresses und innerer Anspannung, selbst wenn die Tat geplant war. Der Umgang mit der Leiche, die Angst vor Entdeckung – all das setzt die Person unter enormen psychischen Druck.
Dieser Druck führt laut Petermann oft zu übersprungshaften Handlungen. Die Täterin versucht, Kontrolle zu behalten, Spuren zu verwischen und Alibis zu konstruieren, ist aber gleichzeitig emotional und kognitiv völlig überfordert. In dieser Phase können Fehler passieren, oder es werden – und hier kommt Petermanns Erfahrung ins Spiel – komplexe Szenarien aufgebaut, um sich selbst aus der Schusslinie zu bringen.
Dies führt zu der Theorie des inszenierten Leichenfundes. Petermann berichtet aus seiner langen Erfahrung, dass Täterinnen oder Täter mitunter selbst die Polizei informieren oder dafür sorgen, dass die Leiche gefunden wird, angeblich zufällig. Sie inszenieren eine Entdeckungssituation, oft unter Einbindung anderer Personen, um als unverdächtiger Finder dazustehen und jeden Verdacht von sich abzulenken.
Das Paradoxe: Genau diese Inszenierung kann verräterisch sein. Die Geschichten weisen Ungereimtheiten auf, die Umstände des zufälligen Fundes wirken konstruiert, oder die Person verstrickt sich später in Widersprüche. Es ist ein Versuch der Manipulation, der aber auch nach hinten losgehen kann.
VI. Die Faktenlage im Fokus: Interpretation und die Unschuldsvermutung
Die allgemeine Theorie Petermanns über inszenierte Funde gewinnt im Fall Fabian eine beunruhigende Brisanz. Fakt ist: Es war die Ex-Freundin des Vaters, die nach eigenen Angaben Fabians Leiche gefunden hatte, zusammen mit einer Freundin beim Spaziergang. Und bei genau dieser Frau fand nun die Hausdurchsuchung statt, und sie sitzt wegen Mordverdachts in U-Haft.
Besteht nun die Gefahr, vorschnell eins und eins zusammenzuzählen? Axel Petermanns Aussage bezieht sich auf ein allgemeines Muster in der Kriminalistik und Täterpsychologie. Die Theorie liefert einen möglichen Interpretationsrahmen, eine Hypothese, die die Ermittler zweifellos prüfen werden – aber es ist eben genau das, eine Hypothese von außen, basierend auf Erfahrungswerten.
Es muss mit Nachdruck betont werden: Für die festgenommene Frau, deren Identität weiterhin geschützt wird, gilt die Unschuldsvermutung. Die Tatsache, dass sie die Leiche fand und nun durchsucht wurde, sind gesicherte Fakten. Petermanns Analyse hilft, diese Fakten in einen möglichen psychologischen Kontext zu stellen, um die Komplexität der Tat zu verstehen – nicht um ein Urteil vorwegzunehmen. Die Ermittler sind verpflichtet, die Integrität des Verfahrens zu sichern, und jedes vorschnelle Detail kann die spätere Beweisführung gefährden.