Der Verrat eines Gamers: Wie eine Online-Community einen kanadischen Vierfachmord aufdeckte und die wahre, erschreckende Quelle von „Jeff the Killer“ enthüllt wurde

Die dunklen Ecken des Internets sind oft Schauplatz unfassbarer Geschichten, die die Grenzen zwischen digitaler und realer Welt auf erschreckende Weise verschwimmen lassen. Die Geschehnisse um den Gamer Menhaz Zaman aus Markham, Ontario, und die jahrzehntelange Suche nach der Herkunft des „Jeff the Killer“-Bildes sind zwei solcher Fälle, die zeigen, wie Online-Aktivitäten zu realen Verbrechen führen können oder wie Online-Mobbing grausame, dauerhafte Spuren hinterlässt. Diese Geschichten, so unterschiedlich sie auch sind, enthüllen die oft verborgene Macht, die digitale Gemeinschaften und verlorene Medien über unser Leben und unsere Wahrnehmung haben.
Das Doppelleben des Gamers und die Chat-Protokolle des Schreckens
Menhaz Zaman, ein 23-jähriger Kanadier bangladeschischer Abstammung, führte ein jahrelanges, sorgfältig konstruiertes Doppelleben. Von seinen Eltern Moniruz und Momtaz, die Ende der 80er-Jahre nach Kanada ausgewandert waren, wurden große Erwartungen gehegt: Er sollte Ingenieur an der renommierten York University werden. Doch Menhaz war 2016 heimlich vom viel weniger prestigeträchtigen Seneca Community College abgegangen und hatte seine Familie seitdem belogen. Vier Tage die Woche verbrachte er, statt an der Universität, in der Mall und im Fitnessstudio, um das Lügengebäude aufrechtzuerhalten.
Sein eigentliches Leben spielte sich im MMO „Perfect World Void“ ab, einem privaten Server des Rollenspiels, und dem dazugehörigen Discord-Server. Hier kannte man ihn als „Manaz“ – einen Spieler mit dem Ruf eines „Edgelords“, der für seine konfrontative Art, seine bigotten Ausbrüche und dunklen Witze bekannt war. Seine Mitspieler hielten ihn oft für einen bloßen Troll, ignorierten seine verstörenden Kommentare über das „baldige Gefängnis“ und seine wechselnden, suizidal anmutenden Benutzernamen wie „subhuman“.
Der Tag des vermeintlichen Abschlusses wird zum Tag des Urteils
Der 28. Juli 2019 war der Tag, den Menhaz als seinen Uni-Abschluss ausgegeben hatte – ein Datum, das er nicht länger hinauszögern konnte. Die drohende Entdeckung seiner Lüge trieb ihn zu einer unfassbaren Tat. In der Nacht zuvor, am 27. Juli 2019, begann der Horror, als Menhaz auf Discord eine einfache, aber schockierende Nachricht hinterließ: „Werde meine Eltern töten und ins Gefängnis gehen“. Kurze Zeit später postete er ein Foto einer toten Frau mit der Überschrift „Das ist meine Mutter“ und später ein Bild seiner Großmutter.
Obwohl viele es für einen geschmacklosen Scherz hielten, schöpften einige Mitglieder der „Perfect World Void“-Community, insbesondere der Nutzer John und die Kriminalistikstudentin Nicole, schnell Verdacht. Eine Rückwärtssuche der Bilder und eine Überprüfung der forensischen Datenbanken lieferten keine Treffer – die Fotos waren original und nicht aus dem Internet gestohlen. Die Gamer erkannten: Dies war kein Troll, sondern ein echter Massenmord.
Die Online-Detektive im Wettlauf mit der Zeit
Da sie weder Menhaz’ Nachnamen, sein Alter noch seinen genauen Wohnort kannten, begann ein beispielloser Wettlauf gegen die Zeit. Die Community arbeitete zusammen, um den Quadrupelmörder zu stoppen, bevor er seine weiteren Drohungen in die Tat umsetzen konnte. Ein Nutzer namens Junior aus Costa Rica, der Menhaz besser kannte, nahm den Kontakt wieder auf. Menhaz gestand ihm: „Ich habe es getan und ich werde als Nächstes meinen Vater und meine Schwester töten.“ Er offenbarte, dass der Plan seit drei Jahren bestand, da er es nicht ertragen konnte, dass seine Eltern die Scham seines Versagens erleben mussten.
Die Gamer kämpften mit Händen und Füßen. Sie untersuchten seine IP-Adresse und seine Aktivitätszeiten, um seine Position in der Zeitzone Nordamerikas ausfindig zu machen, und konnten sie auf Toronto eingrenzen. Menhaz loggte sich, während die Leichen seiner Mutter Momtaz und Großmutter Firoza bereits in der oberen Etage lagen, erneut in „Perfect World“ ein, um seinen Charakter aufzuleveln. Dies ermöglichte es den Administratoren, eine präzisere IP-Adresse zu ermitteln, die letztendlich auf eine bestimmte Straße in Toronto hinwies.
Der Horror eskalierte, als Menhaz, während er auf seinen Vater und seine Schwester wartete, weitere Nachrichten schickte: „Ich habe meine Mutter und Großmutter getötet, warte in 5 Minuten auf meine Schwester und dann in 1 Stunde auf meinen Vater.“ Kurz darauf schickte er ein Bild der leblosen Schwester Malesa und ein Selfie von sich mit der Mordwaffe.
Durch die Kontaktaufnahme eines Community-Mitglieds mit der Polizei in St. Paul, Minnesota, und der Weiterleitung an die Toronto Police Department konnte schließlich die physische Adresse von Menhaz Zaman in der Castle Moore Avenue in Markham ermittelt werden. Die Polizei traf am 28. Juli 2019 ein, nur Stunden nach der letzten Tat an seinem Vater Moniruz. „Die Polizei ist da. Auf Wiedersehen“, waren Menhaz’ letzte Worte im Discord-Chat, bevor er sich widerstandslos ergab. Im Haus fand die Polizei die vier Opfer, die mit einer Brechstange niedergeschlagen und deren Kehlen aufgeschlitzt worden waren. Menhaz Zaman wurde wegen dreifachen Mordes ersten Grades und einem Mord zweiten Grades zu einer lebenslangen Haftstrafe ohne die Möglichkeit einer Bewährung für 40 Jahre verurteilt. Die Chat-Protokolle der Gamer-Community waren dabei das entscheidende Beweismittel.
Die Gesuchte aus Tokio: Die Aufklärung eines 40-jährigen Mysteriums

Ein weiteres Beispiel für die Jagd nach verloren geglaubtem Material und die Macht des Internets ist die Geschichte der „Wanted Suspects“-Werbespots der Tokio Metropolitan Police aus Japan. Über Jahrzehnte hinweg glaubten Hunderte von Nutzern japanischer Message Boards wie 2channel und später der weltweiten Lost-Media-Community, sich an eine Reihe von beunruhigenden TV-Mitteilungen zu erinnern.
Diese Public Service Announcements (PSAs) aus den 70er- und 80er-Jahren sollten plötzlich in Werbepausen erscheinen, oft beginnend mit einem schrillen Klingeln eines Telefons oder einer Polizeisirene. Daraufhin füllte das Gesicht eines gesuchten Verdächtigen den Bildschirm, während eine männliche Stimme dessen Namen, Alter, Standort und Verbrechen nannte. Die Anzeigen endeten abrupt mit der Aufforderung der Tokioter Polizei um Mithilfe. Da jedoch keine digitalen Kopien existierten, vermuteten viele einen kollektiven Trugtraum oder den Mandela-Effekt.
Die Zeitungsschnipsel und der Durchbruch in der VHS-Kiste
Erst die Hartnäckigkeit von Internet-Sleuths, die in alten Zeitungsarchiven wühlten, bestätigte die Existenz der PSAs. Artikel belegten, dass die Kampagne 1970 als Teil des „Wanted Suspect’s Investigation Month“ im Februar begonnen hatte und über fünf Fernsehsender ausgestrahlt wurde. Ein Artikel aus dem Jahr 1975 enthielt sogar die Transkripte zweier solcher Spots, was bewies, dass die Erinnerungen echt waren.
Der eigentliche Durchbruch gelang jedoch erst am 26. Oktober 2023, als der YouTuber „1977pop“ ein 36-minütiges Video hochlud: eine Aufzeichnung einer japanischen Varieté-Show aus dem Jahr 1977. Eingebettet in die Werbepause fand sich, nach fast zwei Jahrzehnten der aktiven Suche, tatsächlich einer der verschwundenen „Wanted Suspects“-Spots. Er zeigte den 29-jährigen Saburo Kato, gesucht wegen unerlaubten Besitzes von Sprengstoff. Der Fund bewies nicht nur die Wahrheit der kollektiven Erinnerung, sondern sicherte auch ein bedeutendes Stück beunruhigender „verlorener Medien“ der japanischen Geschichte.
Die wahre Geschichte von „Jeff the Killer“ und Mariko
Das Bild von „Jeff the Killer“ – ein bleiches Gesicht ohne Augenlider und ein grotesk aufgerissenes Grinsen – ist eines der berühmtesten und anhaltendsten Creepypasta-Bilder der Internetgeschichte. Trotz seiner Berühmtheit war die Identität der Person auf dem Originalbild jahrzehntelang ein Mysterium.
Die Suche nach der uneditierten Quelle, für die zeitweise eine Belohnung von über 11.000 US-Dollar ausgesetzt wurde, führte die Web-Detektive immer wieder zurück zu den japanischen Image Boards des Jahres 2005. Dort kursierten frühere, weniger bearbeitete Versionen des Bildes unter dem Namen „JTK1“ und „White Powder“. Es stellte sich heraus, dass das Bild seinen Ursprung in der japanischen Kawaii kusa-Herausforderung hatte – einem Trend, bei dem unschuldige Bilder in zunehmend „gruselige“ oder „kawaii“-Versionen editiert wurden, bis das Original verloren ging.
Die Mariko-Spur: Mobbing und ein Online-Tagebuch
Im April 2023 gelang den „Internet-Sleuths“ ein möglicher, aber zutiefst verstörender Durchbruch. Die Spur führte zu einer Frau namens Mariko, die im japanischen Internet unter großem Spott bekannt war. Ihre Fotos und Videos wurden von ihrem vermeintlichen „Freund“ unter dem Namen Suak Gumaru auf einer Infoseek-Seite als „Diät-Tagebuch“ veröffentlicht. Die Bilder waren unvorteilhaft, und Suak Gumaru förderte die Seite auf Boards wie Futaba und 5chan, wodurch Mariko zum Ziel sadistischen Mobbings wurde.
Die Forscher entdeckten verblüffende Ähnlichkeiten zwischen dem Gesicht, der Haaransatzlinie und dem Mund der Mariko-Bilder und den uneditierten Teilen des „JTK1“-Bildes. Die wahrscheinlichste Theorie ist, dass Suak Gumaru, der nachweislich Photoshop-Kenntnisse besaß, oder ein anderer Troll eines der Mariko-Bilder nahm, es manipulierte und in die „White Powder“-Bearbeitungskette einschleuste. Das Foto war möglicherweise ein unscharfer Screenshot aus einem der Mariko-Videos, die von Zeugen als „verstörend“ beschrieben wurden.
Der Fund liefert zwar keinen endgültigen Beweis, aber er legt eine erschreckende Verbindung frei: Eines der ikonischsten Monster des Internets ist möglicherweise aus dem online organisierten Mobbing einer realen, unglücklichen Frau entstanden, deren Peiniger versuchten, ihre Existenz aus dem Internet zu löschen. So schließen sich die Kreise dieser Geschichten: Eine Gruppe von Gamern, die als erste die Existenz eines echten Mörders enthüllte, und eine Community, die das Opfer von Online-Hass in der Gestalt eines fiktiven Monsters fand.