Sachsen-Anhalt: Was tun gegen die AfD als stärkste Partei?

Es ist ein symbolisches Geschenk mit schwerer Last. Am Wochenende überreichte Reiner Haseloff, der scheidende Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, seinem designierten Nachfolger Sven Schulze ein großes Steuerrad. Ein Bild, das Führung und Kontrolle suggerieren soll. Doch die Szene, die in der ZDF-Talkshow „Markus Lanz“ am 4. November 2025 seziert wurde, wirkte eher wie die Übergabe des Kommandos auf einem Schiff, das bereits schwer Schlagseite hat. Auf die ketzerische Frage, wie es sich anfühle, Kapitän eines sinkenden Schiffes zu sein, antwortete Schulze mit dem gebotenen Ernst: „Es ist eine große Verantwortung.“

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Diese Verantwortung wiegt schwerer als je zuvor. Sachsen-Anhalt, und mit ihm große Teile Ostdeutschlands, steht vor einer Zerreißprobe. Die Umfragen, die Lanz präsentierte, sind nicht weniger als ein politisches Erdbeben: Die AfD liegt bei 37 Prozent, unangefochten an der Spitze. Die CDU, einst die dominierende Kraft, ist auf 26 Prozent abgestürzt. Die SPD dümpelt bei 6 Prozent, die Linke bei 11, das BSW bei 6. Es ist ein Szenario, das die Regierungsbildung zu einem politischen Albtraum macht.

Sven Schulze, der Mann, der dieses Schiff nun in den Hafen führen soll, nannte es treffend eine “Schicksalswahl, nicht nur für Sachsen-Anhalt, sondern schon für Deutschland”. Aber wo ist das Leck geschlagen? Warum ist das Vertrauen derart erodiert?

Schulze selbst verweist auf eine “große Unsicherheit” [00:53] in der Bevölkerung. Die Menschen, so seine Analyse, hätten sich von der neuen Bundesregierung in Berlin mehr versprochen. Doch diese Erklärung greift zu kurz, wie Lanz schnell aufzeigte. Haseloff ist seit 14 Jahren im Amt. Der Vertrauensverlust ist auch ein hausgemachtes Problem der etablierten Politik. Es ist nicht nur Verunsicherung, es ist ein massiver Vertrauensverlust. Ein Verlust, der so tief sitzt, dass die AfD, wie bei einer vergangenen Wahl im Harz geschehen, eine Kandidatin aus Baden-Württemberg aufstellen kann, die niemand kennt und die dort nicht einmal wohnt – und sie gewinnt trotzdem [02:22]. Es ist ein reiner Protest, ein Weckruf, den die CDU, so Schulze selbstkritisch, offensichtlich nicht verstanden hat.

Das eigentliche Drama, das sich an diesem Abend bei Lanz offenbarte, ist die totale Blockade, die “Brandmauer”-Debatte. Die zentrale Frage, die über die Zukunft des Landes entscheidet, lautet: Wie will die CDU regieren?

Schulze zog eine klare rote Linie. Er, als Ministerpräsident, werde niemals mit einem Minister der AfD oder einer Ministerin der Linkspartei an einem Kabinettstisch sitzen [06:31]. Ein klares Nein zur Koalition mit den Rändern. Doch Markus Lanz und die Journalistin Anne Hönig ließen nicht locker. Was ist mit einer Tolerierung? Was passiert, wenn die einzige realistische Mehrheit jenseits der AfD eine Minderheitsregierung der CDU ist, die auf die Stimmen der Linken angewiesen ist?

Genau dieses Szenario gibt es in Thüringen mit Mario Voigt und in Sachsen mit Michael Kretschmer bereits. Dort, so Hönig, wird längst mit der Linken gesprochen, verhandelt und zusammengearbeitet, auch wenn man es nicht “Koalition” nennt [08:36].

Hier geriet Schulze ins Schwimmen. Er wand sich, wich aus. “Die Antwort werden Sie heute nicht bekommen können, weil wir nicht wissen, wie das Wahlergebnis ausgeht” [10:12]. Er könne auf Basis von Umfragen keine solchen Zusagen machen. Lanz bohrte nach: Haben die Wähler nicht ein Anrecht auf eine ehrliche Antwort, gerade wenn man über Glaubwürdigkeitsverlust klagt [11:23]? Schulze blieb bei seiner Formel: Kein Minister von AfD oder Linken. Die Tür für eine Tolerierung durch Die Linke ließ er, wenn auch sichtlich widerwillig, einen Spalt offen. “Man muss dann Lösungen finden” [12:05], war seine kryptische Antwort auf die Frage, was nach der Wahl passiert, denn Neuwahlen werde es definitiv nicht geben.

Diese Zwickmühle ist der Kern des Problems. Die CDU kann nicht mit der AfD, will nicht mit der Linken, aber ohne eine von beiden reicht es rechnerisch möglicherweise nicht. Hönig brachte ein weiteres, düsteres Szenario ins Spiel: Die CDU könnte, bei einem katastrophalen Ergebnis, die Regierungsverantwortung komplett verweigern und sagen: “Ihr wollt die AfD bei 40 Prozent? Jetzt seht, was ihr dafür bekommt” [12:40]. Ein Experiment, das Schulze vehement ablehnte: “Mein Land ist doch kein Experimentierland” [13:24].

Doch um das Ruder noch herumzureißen, muss die CDU das Thema angehen, das laut Schulze selbst das entscheidende ist: die Migration [14:28]. Und genau hier offenbart sich die zweite große Zerreißprobe – eine, die mitten durch die CDU selbst verläuft.

Auslöser ist ausgerechnet der eigene Außenminister, Johann Wadephul. Dieser hatte nach einer emotionalen Reise in das zerstörte Syrien erklärt, eine planmäßige Rückführung sei “nur in ganz wenigen Ausnahmefällen in Fällen von wirklich schweren Straftätern” [20:07] denkbar. Die Bilder der Zerstörung hätten ihn sichtlich mitgenommen [17:58].

Für Sven Schulze, im Wahlkampfmodus in einem Land, in dem die AfD mit dem Thema Migration triumphiert, ist diese Aussage eine Katastrophe. “Ich kann das nicht nachvollziehen” [16:12], gestand er bei Lanz. Es sei das falsche “Wording”, das falsche Signal.

Die Debatte legte den Finger in eine offene Wunde der deutschen Politik. Lanz brachte es auf den Punkt: 90 Prozent der Menschen in Syrien leben in bitterer Armut, das Leben ist hart. “Warum wollen wir das dann schweren Straftätern nicht zumuten?” [26:11]. Warum, so der Tenor, ist die deutsche Debatte immer nur schwarz-weiß: alle raus oder alle bleiben? Warum wird Rücksicht auf Straftäter genommen, die der Gesellschaft nachweislich schaden [26:24]?

Hier offenbarte sich der vielleicht größte Paradoxon, das Sachsen-Anhalt plagt. Während die AfD mit einer “Ausländer-raus”-Rhetorik Wahlen gewinnt, steht das Bundesland vor dem demografischen Kollaps. Lanz zitierte Prognosen: Bis 2070 könnte Sachsen-Anhalt ein Drittel seiner Bevölkerung verlieren – über 20 Millionen Menschen in ganz Deutschland [29:56].

Sven Schulze, der auch Landwirtschaftsminister ist, weiß das. Er ist derjenige, der händeringend junge Menschen aus Vietnam anwirbt [28:28], damit die Wirtschaft nicht zusammenbricht. “Wir brauchen Menschen”, rief er. Er erzählte von einem nächtlichen Besuch in der Notaufnahme der Uniklinik Magdeburg, wo alle Ärzte und Pfleger einen Migrationshintergrund hatten [30:24]. “Ohne die wäre die Tür zu gewesen.”

Die Lösung der AfD, so Schulze, sei eine Illusion, die das Land ruinieren würde. “Kein Apfel würde geerntet werden” [30:19].

Sein Weg aus dem Dilemma ist daher der Versuch einer differenzierten Debatte, die in der aufgeheizten Stimmung kaum noch möglich scheint: Eine klare Trennung. Die, die sich integrieren, arbeiten und Steuern zahlen, sind “herzlich willkommen”. Aber Straftäter und Menschen, die sich nicht integrieren wollen, müssten das Land auch wieder verlassen – zumal der Bürgerkrieg in Syrien vorbei sei [28:52].

Es ist ein politischer Spagat, den Sven Schulze vollführen muss. Er muss eine verunsicherte Bevölkerung zurückgewinnen, die das Vertrauen verloren hat. Er muss eine harte Linie in der Migrationspolitik fahren, ohne die Menschen zu verprellen, die sein Land dringender braucht als jedes andere in Deutschland. Und er muss eine Regierungsoption finden, die nicht in den Total-Oppositionsparteien links oder rechts endet.

Die “Schicksalswahl” in Sachsen-Anhalt ist mehr als eine regionale Abstimmung. Es ist ein Stresstest für die deutsche Demokratie. Es geht um die Frage, ob die politische Mitte noch in der Lage ist, komplexe Probleme differenziert zu lösen und zu kommunizieren, oder ob sie zwischen den Extremen zerrieben wird, die einfache, aber fatale Antworten anbieten. Sven Schulze hält das Steuerrad, aber das Schiff steuert auf einen Eisberg zu. Die Frage ist, ob er nur den Kurs ändert oder ob er Teile der Besatzung über Bord werfen muss, um nicht unterzugehen.

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