Die Entscheidung fiel Emma nicht schwer, auch wenn die Angst vor dem Unbekannten groß war. Eine Woche später betrat sie die Villa der Wagners. Das Haus war beeindruckend und einschüchternd zugleich. Hohe Decken, moderner Minimalismus, teure Kunst an den Wänden. Es war ein Haus, in dem man Angst hatte, zu atmen, damit nichts zerbrach. Es fehlte die Wärme. Es fehlte das Leben.
Elias wartete in seinem Zimmer. Als er Emma sah, leuchteten seine Augen auf. „Du bist gekommen“, sagte er, als hätte er nicht gewagt, daran zu glauben. „Na klar“, sagte Emma und setzte sich einfach im Schneidersitz auf den teuren Teppichboden. „Abenteurer lassen einander nicht im Stich.“
Die ersten Wochen waren eine Transformation. Emma brachte nicht nur Struktur in Elias‘ Alltag, sondern vor allem Freude. Sie machten Ausflüge in den Park, nicht um Enten zu füttern, sondern um „Drachen zu jagen“. Sie bemalten Leinwände im Garten, und zum ersten Mal war es egal, dass Elias‘ Hände manchmal zitterten. Die Farbe landete überall – auch auf Emmas Nase und Elias‘ T-Shirt. Das Haus begann sich zu verändern. Wo früher Stille herrschte, hörte man nun Lachen. Wo früher Distanz war, entstand Nähe.
Max beobachtete das alles zunächst aus der Ferne. Er stand oft am Fenster seines Arbeitszimmers und sah den beiden im Garten zu. Er sah, wie Elias aufblühte. Und er spürte diesen stechenden Schmerz in der Brust – das Gefühl, nur Zuschauer im Leben seines eigenen Sohnes zu sein.
Eines Nachmittags kam er früher aus dem Büro. Er hörte Geräusche aus dem Wohnzimmer. Emma und Elias hatten eine riesige Festung aus Kissen und Decken gebaut, mitten zwischen den Designer-Sofas. Normalerweise hätte der alte Max Wagner geschimpft. Unordnung war ihm ein Graus. Doch er blieb im Türrahmen stehen.
Elias versuchte gerade, einen Turm aus Bauklötzen zu stabilisieren, aber seine Motorik machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Der Turm wankte. „Mist“, fluchte der Junge leise. Emma wollte helfen, doch sie hielt inne, als sie Max bemerkte. Max sah den Frust im Gesicht seines Sohnes. Er sah die Kissenburg. Und plötzlich fühlte er sich unglaublich müde von seinem Leben aus Anzügen und Meetings.
Er legte seine Aktentasche ab. Er lockerte seine Krawatte. Dann tat er etwas Unerwartetes. Er zog sein Sakko aus, warf es über einen Sessel und ging zu den beiden hinüber. „Der Statik nach zu urteilen“, sagte Max und ließ sich auf die Knie sinken, „fehlt hier ein tragendes Element an der Basis.“
Elias starrte seinen Vater an, als wäre ein Alien gelandet. Emma hielt den Atem an. „Papa?“, fragte Elias unsicher. „Darf ich?“, fragte Max und deutete auf einen blauen Baustein – genau so, wie Emma damals im Restaurant auf das Besteck gedeutet hatte. Elias nickte langsam. Max nahm den Stein und platzierte ihn vorsichtig unten am Turm. „Wenn das Fundament stark ist, hält der Rest.“
Elias lächelte. „Wir bauen ein Schloss.“ „Ein Schloss braucht einen Burggraben“, stellte Max fest und krempelte seine Hemdsärmel hoch. „Emma, wir brauchen mehr Kissen.“
In den nächsten zwei Stunden vergaß Max Wagner die Börsenkurse. Er vergaß sein Handy, das im Flur summte. Er kroch auf allen Vieren durch das Wohnzimmer, wurde von Elias mit Kissen beworfen und lachte. Ein echtes, tiefes Lachen, das er selbst seit Jahren nicht mehr gehört hatte.
Monate vergingen. Der Frühling zog ins Land und die Villa der Wagners war nicht wiederzuerkennen. Es gab immer noch teure Kunst, aber jetzt hingen auch selbstgemalte Bilder von Elias an den Wänden, stolz gerahmt.
An einem warmen Abend im Juni bat Max Emma auf die Terrasse. Elias schlief bereits, erschöpft und glücklich von einem Tag im Zoo. Emma hielt ein Glas Limonade in der Hand und blickte über den gepflegten Rasen. „Sie haben ihn verändert, Emma“, sagte Max leise. Er lehnte am Geländer und sah in den Sonnenuntergang. „Nein, Herr Wagner“, antwortete Emma sanft. „Er war immer so. Er brauchte nur jemanden, der ihm hilft, es zu zeigen.“
Max drehte sich zu ihr um. Sein Gesicht war weicher geworden, die harten Linien um seinen Mund waren verschwunden. „Nicht nur ihn“, korrigierte er sich. „Sie haben uns verändert. Mich verändert.“ Er schüttelte den Kopf, als könnte er es selbst kaum glauben. „Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, Reichtum anzuhäufen. Ich dachte, das sei mein Vermächtnis. Aber als ich heute gesehen habe, wie Elias geschlafen hat… friedlich, glücklich… da wurde mir klar, dass ich fast das Wichtigste verpasst hätte.“