
Die Präsentationen begannen. Als Melissas Klasse an der Reihe war, richtete Martin sich in seinem Stuhl auf, sein Herz raste vor Stolz. Melissa betrat die Bühne. Als sie ihren Vater sah, leuchteten ihre Augen auf und sie winkte diskret.
„Unser nächster Beitrag ist eine besondere musikalische Nummer“, kündigte die Musiklehrerin an. „Melissa Olivera wird ‚You Raise Me Up‘ singen, gewidmet ihrem Vater.“ Martin spürte, wie sich Tränen in seinen Augen bildeten. Das war das Lied, das Sophia Melissa immer vor dem Schlafengehen vorgesungen hatte. Als Melissas kristallklare Stimme die Aula füllte, konnte Martin seine Emotionen nicht zurückhalten. Das Mädchen sang mit einer solchen Leidenschaft, dass selbst die distanziertesten Eltern bewegt schienen.
Hinter der Bühne beobachtete Glory die Szene mit unbeschreiblichem Gesichtsausdruck.
Am Ende des Liedes brach die Aula in Applaus aus. Martin stand auf, klatschte voller Stolz, während ihm die Tränen frei über das Gesicht liefen. Melissa auf der Bühne machte eine kleine Verbeugung und zeigte dann direkt auf ihn.
„Das ist mein Papa, Martin Olivera“, verkündete sie klar ins Mikrofon. „Er arbeitet härter als jeder, den ich kenne. Seit Mama in den Himmel gegangen ist, macht er alles allein. Er arbeitet, kümmert sich um mich, unser Zuhause und findet trotzdem Zeit, mir Lektionen fürs Leben beizubringen. Er hat kein importiertes Auto oder reist in andere Länder wie die Eltern meiner Freunde. Aber er hat mir beigebracht, dass der wahre Wert im Charakter und in der Liebe liegt, die wir anderen geben.“
Eine respektvolle Stille erfüllte die Aula. Einige Eltern wirkten Unbehagen, andere waren sichtlich gerührt. „Papa“, fuhr Melissa mit erstickter Stimme fort. „Du bist mein Alltagsheld, nicht nur heute.“ Als der Applaus wieder einsetzte, jetzt wärmer und aufrichtiger, bemerkte Martin, dass Direktorin Glory von der Bühne verschwunden war.
Nach den Auftritten gab es einen kleinen Empfang im Schulhof. Martin, der sich zwischen den Elterngruppen, die über Investitionen und Reisen diskutierten, fehl am Platz fühlte, blieb in der Nähe des Getränketischs.
„Mr. Olivea.“ Die Stimme hinter ihm ließ ihn herumfahren. Glory stand dort, ihr Gesicht eine Maske professioneller Beherrschchung, aber ihre Augen verrieten einen inneren Sturm. „Könnten wir privat sprechen?“
Sie führte ihn zu einem kleinen Seitengarten, abseits des Trubels. „Zwei Jahre“, sagte Glory, als sie allein waren. „Zwei Jahre, und du tauchst einfach so auf, ohne Vorwarnung?“ Martin seufzte. „Ich wusste nicht, dass du hier arbeitest, Gloria. Entschuldigung, Direktorin Reynolds. Melissa hat das Stipendium vor zwei Jahren bekommen, aber wir sind uns nie zuvor begegnet.“ „Wusstest du, dass ich meinen Namen geändert habe?“, fragte sie, ein leichtes Zittern in ihrer kontrollierten Stimme. „Ich habe es zufällig erfahren. Gloria war zu einfach für deine Ambitionen, nicht wahr? Glory Reynolds klingt kultivierter.“
Eine schwere Stille legte sich zwischen sie. „Warum hast du nichts gesagt, als Melissa an die Schule kam? Warum hast du es zugelassen?“, fragte sie schließlich. „Zugelassen?“, fragte Martin stirnrunzelnd. „Meine Tochter hat sich dieses Stipendium aus eigener Kraft verdient. Glaubst du, ich würde Melissa die beste Ausbildung vorenthalten, nur weil…“ Er hielt inne. „Weil meine Cousine Gloria, die mit mir im selben bescheidenen Haus aufgewachsen ist, jetzt so tut, als käme sie nie vom selben Ort wie ich?“
Glorys Augen weiteten sich, ein Anflug von Scham huschte über ihr Gesicht. „Du verstehst das nicht“, flüsterte sie. „Ich habe so hart gearbeitet, um dorthin zu gelangen, wo ich bin. Ich habe ein neues Leben aufgebaut, eine neue Identität.“ „Und dafür musstest du völlig auslöschen, wer du warst. So tun, als hätte unsere Familie nie existiert, als hätte ich nie existiert.“ Martins Stimme war nicht wütend, sondern unendlich traurig. „Als Sophia starb, habe ich versucht, dich zu finden. Wir waren wie Geschwister, Gloria. Ich dachte, Melissa könnte wenigstens eine weibliche Bezugsperson aus der Familie in ihrem Leben haben.“