„Sie ist während meiner Besprechung weggelaufen“, murmelte Claudia, mehr zu sich selbst, während sie ihre Tochter prüfend ansah. „Ich habe ihr gesagt, sie soll bei der Sicherheit warten, aber sie hat sich versteckt.“
„Jemand hat ihr Angst gemacht“, unterbrach Karl ruhig. Claudias Mund öffnete sich leicht. „Wie meinen Sie das?“ Er blickte zu Sophie hinunter, deren Finger sich fest in den teuren Stoff der Jacke ihrer Mutter krallten. „Fragen Sie sie vielleicht selbst.“
In diesem Moment bemerkte Claudia das angebissene Brötchen in der Hand ihrer Tochter, die Krümel auf ihrem Shirt. Für einen Augenblick vergaß die Vorstandsvorsitzende den Aktionärsanruf. Sie vergaß die 80-Millionen-Euro-Übernahme. Sie kniete sich vor ihre Tochter.
„Sophie, wer hat dir weh getan?“ Sophie antwortete nicht, aber sie griff nach hinten und suchte Karls Hand und drückte sie.
Und Claudia sah es: Wie dieser Hausmeister, dieser Fremde, eingegriffen hatte, als sonst niemand da war. Nicht der Sicherheitsdienst, nicht die Mitarbeiter, nicht einmal sie selbst. „Neumann“, sagte Karl. „Karl Neumann.“ „Ich möchte später mit Ihnen sprechen, Herr Neumann“, erwiderte Claudia und stand auf. „Danke, dass Sie freundlich waren.“ Karl nickte nur. „Jedes Kind verdient das.“

Als sie den Gang hinuntergingen, blickte Claudia noch einmal zurück und spürte zum ersten Mal seit langem etwas Unerwartetes brennen: Scham. Und vielleicht Dankbarkeit.
Am nächsten Morgen war Karl ungewöhnlich früh im Gebäude. Irgendetwas an Sophies stiller Traurigkeit war ihm unter die Haut gegangen. Als er am Sicherheitstresen vorbeiging, musterten ihn die Leute länger als sonst, fast respektvoll. „Guten Morgen, Karl“, sagte der Empfangsmitarbeiter und benutzte zum ersten Mal seit zwei Jahren seinen Vornamen.
Als er das oberste Stockwerk erreichte, um das Rohr zu reparieren, stand ein Mann im Anzug neben den Aufzügen. „Herr Neumann? Frau von Birkental bittet um Sie.“ Karl zögerte. „Ich repariere Rohre und poliere Böden. Keine Ahnung, warum die Chefetage mich braucht.“ Der Mann lächelte nur. „Sie hat darauf bestanden.“
Das oberste Stockwerk war eine andere Welt. Alles roch nach Zitrus und Geld. Claudia von Birkental stand am Fenster, die Arme verschränkt, ihr Gesicht wirkte weicher als am Vortag. „Sophie geht es besser“, sagte sie, als er eintrat. „Freut mich“, antwortete Karl. „Sie hat mir erzählt, was passiert ist. Einer meiner Juniorpartner hat sie im Flur angeschrien, sie für irgendein fremdes Kind gehalten, das herumschnüffelt. Sie hat sich erschrocken und ist weggelaufen.“ „War ja klar“, knirschte Karl. „Ich wusste nicht einmal, dass sie im Gebäude war, bis eine Stunde später. Das ist mein Versäumnis.“ Karl nickte knapp. „Wir alle übersehen mal was. Die Kunst ist es, zu korrigieren.“
Claudia hielt inne und deutete auf einen Ledersessel. „Bitte setzen Sie sich.“ Er setzte sich, steif und unsicher. „Ich habe Sie gestern Abend gegoogelt“, sagte sie unverblümt. Karl zog eine Augenbraue hoch. „Ach ja?“ „Bundeswehr. Zwei Auslandseinsätze. Ingenieurserfahrung. Nach der Werkschließung arbeitslos. Seit drei Jahren hier im Haus.“ „Sie haben was weggelassen“, entgegnete Karl mit einem schiefen Grinsen. „Hausmeister mit Rücken, der knackt wie Luftpolsterfolie.“ Claudia lachte, wirklich lachte. Dann wurde ihr Blick ernst. „Warum haben Sie nie etwas anderes hier versucht?“ Karl zuckte mit den Schultern. „Dachte nicht, dass jemand hinter die Uniform schaut.“ „Ich schon“, sagte sie ruhig. „Ich möchte Ihnen etwas Besseres anbieten. Eine neue Position.“ Karl starrte sie an. „Warum?“ Sie wich nicht zurück. „Weil Sie, als meine Tochter Angst hatte, keinen Lohnzettel gesehen haben, sondern einen Menschen.“
In diesem Moment flog die Tür ohne Anklopfen auf. Sophie stürmte herein, eine zerknitterte Zeichnung in der Hand. Sie rannte direkt zu Karl und drückte ihm das Blatt in die Hand. Es war eine krakelige Zeichnung von einem großen Hausmeister, der die Hand eines kleinen Mädchens hielt, neben einem goldenen Hochhaus. Claudia lächelte. „Sie nennt es ‚Der Held des Hauses‘.“ Karl blinzelte schnell. „Ich bin kein Held.“ „Für sie schon.“