„Kein Bad, Klo auf dem Hof!“ – Die ungeschminkte Wahrheit über den Prenzlauer Berg 1979, die die DDR-Propaganda verschwieg.

Der Tag begann nicht mit der Sonne, sondern mit einem Beben. Es war kurz nach vier Uhr morgens, als die erste U-Bahn der Linie A über das Viadukt der Schönhauser Allee ratterte. Das Grollen kroch durch das offene Fenster im vierten Stock, vibrierte in den doppelten Kastenfenstern und ließ den feinen Staub tanzen, der hier, im Herzen des Prenzlauer Bergs, allgegenwärtig war.

Frank drehte sich auf seiner schmalen Pritsche um. Er war wach, wie jeden Morgen. Die „Schwindsuchtsbude“, wie die Berliner diese engen, dunklen Hinterhofwohnungen mit ihrem Galgenhumor nannten, hielt den Lärm nicht draußen. Sie hielt auch die Kälte nicht draußen, wohl aber den Geruch. Es roch nach einer Mischung aus altem Mauerwerk, Kohlestaub und dem süßlichen Duft von Bäckereiabluft aus dem Erdgeschoss.

Frank war 28, Grafiker, und er liebte diesen verfallenden Palast aus Ruß und Ziegeln, auch wenn er es an Tagen wie diesem, wenn der Novemberwind durch die Ritzen pfiff, niemandem laut eingestehen würde. Er stand auf, zog sich den dicken Wollpullover über und ging in die Küche. Es gab kein Bad. Die Toilette lag eine halbe Treppe tiefer, ein Ort, den man im Winter nur mit zusammengebissenen Zähnen aufsuchte. Das Waschbecken in der Küche musste reichen. Das Wasser war eiskalt, ein Schock, der besser wirkte als der dünne Moccafix-Kaffee, den er sich aufbrühte.

Er trat ans Fenster und blickte in den Schacht des Hinterhofs. Unten, im grauen Morgengrauen, sah er Herrn Kalse, den Kohlenmann. Ein Gigant von einem Mann, das Gesicht schwarz verschmiert, den Sack mit Briketts über die Schulter geworfen. Kalse war eine Institution. Einhundert Zentner schleppte er am Tag, Stufe für Stufe, Hof für Hof. Frank rechnete kurz im Kopf: Ein Groschen pro Zentner, dazu der Stundenlohn von einer Mark siebenundachtzig. Kalse musste zehn Stunden malochen, um auf dreißig Mark zu kommen. Ein Knochenjob, der hier zum Straßenbild gehörte wie die Einschusslöcher in den Fassaden, die der Krieg vor über dreißig Jahren hinterlassen hatte.

Gegen acht Uhr trat Frank auf die Straße. Die Schönhauser Allee empfing ihn mit ihrer vollen Wucht. Sie war die Hauptschlagader, der Boulevard des Berliner Nordens, laut, dreckig und voller Leben. Unter den gusseisernen Bögen der Hochbahn herrschte ein ewiges Zwielicht, durchbrochen von den Scheinwerfern der Trabis und Wartburgs, die sich über das Kopfsteinpflaster schoben.

Frank musste zum „Schönhauser Dreieck“, jener berüchtigten Kreuzung aus Dimitroffstraße, Kastanien- und Pappelallee. Es war ein Chaos auf zwei Etagen, oben die Bahn, unten die Autos und Straßenbahnen, dazwischen die Menschen. 17.324 Menschen lebten hier auf einem Quadratkilometer. Dichter ging es in ganz Berlin nicht zu.

Sein Ziel war das Schuhgeschäft. Er brauchte neue Stiefel für den Winter. Schon von weitem sah er die Schlange. Die Menschen standen geduldig, die Gesichter in die Krägen ihrer Mäntel vergraben. Warten war eine Disziplin, die man in der DDR früh lernte. Im Schaufenster hingen Plakate, die von der „immer besseren Befriedigung der Bedürfnisse“ sprachen. Frank musste schmunzeln. Die offizielle Sprache des Rates des Stadtbezirks klang wie ein Märchen aus einer fernen Galaxie, während hier unten die Realität aus Gummisohlen und begrenzter Auswahl bestand.

„Ham’se noch die 43?“, fragte eine ältere Dame vor ihm, die Hoffnung in der Stimme. „Wat weg is, is weg, Mütterchen“, raunte der Mann vor ihr, ohne sich umzudrehen.

Das war der Ton hier. Ruppig, aber herzlich. Herz mit Schnauze. Prenzlauer Berg war kein Prunkviertel. Es war ein Arbeiterbezirk ohne den Glanz der neuen Zeit, ein wenig ärmlich, aber frei von echtem Elend. Es gab keine Obdachlosen, keine offene Verzweiflung, aber es gab diesen allgegenwärtigen Mangel, der den Alltag zu einer logistischen Herausforderung machte.

Nach einer Stunde gab Frank auf. Die Stiefel waren ausverkauft. Stattdessen kaufte er an einem Kiosk eine Bockwurst und beobachtete das Treiben. Hier sah man sie alle: die Arbeiter in ihren blauen Jacken, die Mütter mit den Kinderwagen, die Studenten mit den langen Haaren und den Parkas, die Musiker und Maler, die sich in den billigen Altbauwohnungen ihre Ateliers eingerichtet hatten.

Am Nachmittag traf Frank seine Freundin Sabine. Sabine war anders. Sie wohnte drüben an der Greifswalder Straße, in einem der neuen Plattenbauten. Wenn Frank sie besuchte, fühlte er sich wie in einer anderen Welt. Zentralheizung. Ein Bad mit Wanne und warmem Wasser aus der Wand. Ein Müllschlucker auf dem Flur.

„Hast du den Antrag endlich abgegeben?“, fragte Sabine, während sie am Arnimplatz entlangspazierten. Der Arnimplatz war das Vorzeigeobjekt der „Komplexen Modernisierung“. Hier waren die Fassaden frisch gestrichen, die Hinterhöfe entkernt, Spielplätze angelegt. Es sah fast so aus wie in den Prospekten. „Noch nicht“, murmelte Frank. „Frank!“, Sabine blieb stehen. „Du kannst nicht ewig in diesem Loch wohnen. Jede zweite Wohnung hier hat kein Bad, jede vierte das Klo auf dem Hof. Das ist doch kein Zustand!“

„Aber es hat Charakter“, verteidigte sich Frank schwach. „Und die Miete… ich zahle 28 Mark.“ „Und wartest fünf Jahre auf eine Neubauwohnung, wenn du dich nicht beeilst“, konterte sie. „Familien mit Kindern warten nur zwei Jahre. Vielleicht sollten wir…“ Sie ließ den Satz offen hängen und wurde rot.

Sie gingen weiter Richtung Käthe-Kollwitz-Platz. Vor dem Denkmal der großen Künstlerin spielten Kinder im Herbstlaub. „Mutter der Menschen“ nannte man sie. Früher hatte sie hier gewohnt, als das Elend noch Hunger und Krankheit bedeutete. Heute garantierte der Staat soziale Sicherheit. Rentner saßen auf den Bänken – 37.000 mehr als in anderen Bezirken lebten hier. Sie waren das Gedächtnis des Kiezes.

Aber da war auch etwas anderes in der Luft. Etwas Widerständiges. Vor drei Wochen waren Wahlen gewesen. Die Stimmungsmusik vor den Wahllokalen hatte laut geplärrt, Fahnen wehten, aber das Ergebnis im „Roten Kies“, wie der Bezirk genannt wurde, war desaströs für die Oberen gewesen. Die höchste Zahl an Nein-Stimmen und Ungültigen in ganz Berlin. Frank wusste warum. Die Diskrepanz zwischen der Propaganda am Arnimplatz und den verfallenden Mietskasernen drei Straßen weiter war zu groß. Von den 80.000 Altbauwohnungen waren seit 1971 nur wenige tausend saniert worden. Der Rest bröckelte vor sich hin.

„Guck mal da“, sagte Frank und zeigte auf eine Hauswand in der Prenzlauer Allee. Schulkinder malten gerade bunte Blumen auf den tristen Klinkerbau. „Mach mit!“ stand auf einem Transparent darüber. „Wenigstens versuchen sie es“, sagte Sabine. Sie blickte sehnsüchtig zu einem geparkten Lada, der vor einem der wenigen sanierten Häuser stand. Das Chrom blitzte, der Besitzer wienerte ihn gerade mit Hingabe. „Das ist es, was du willst, oder?“, fragte Frank leise. „Das Auto, die Platte, die Sicherheit.“ „Ist das so falsch?“, fragte sie zurück. „Ist es bürgerlich, nicht frieren zu wollen?“

Der Abend senkte sich über den Bezirk, blau und schwer. Die Gaslaternen flackerten auf und tauchten die Kastanienallee in ein warmes, fast romantisches Licht. 1881 war hier die erste Pferdebahn gefahren. Heute war die Straße die Ader zum Vergnügen.

Sie kehrten im Prater ein, dem alten Kreiskulturhaus. Im Garten saßen die Leute trotz der Kühle unter den Bäumen, drinnen spielte eine Kapelle Unterhaltungsmusik. Es roch nach Bier, Zigarettenrauch und Soljanka. Hier mischte sich alles. Am Nebentisch diskutierte ein langhaariger Dichter lautstark über Günter Kunert und das „neue Vineta“ – das alte Berlin, das auf dem Grund der Vergangenheit lag wie eine versunkene Stadt. Er sprach von den verschlossenen Toren, den aufgegebenen Läden, dem Atem des Vergangenen hinter den verhängten Scheiben.

„Er hat recht“, sagte Frank und nippte an seinem Bier. „Wenn du durch die Seitenstraßen gehst, denkst du, die Zeit ist stehengeblieben. Es ist wie eine Kulisse für einen Film aus den Zwanzigern. Aber genau das zieht uns doch an. Die Maler, die Musiker. Wir brauchen diesen Verfall. Er lässt uns atmen, während die Betonklötze uns ersticken würden.“

Sabine seufzte. „Aber der Verfall frisst uns auch auf, Frank. Es fehlt an allem. Material, Handwerker, Kapital. Wenn nichts passiert, fallen uns die Häuser bald auf den Kopf.“

Ein alter Mann setzte sich ungefragt zu ihnen an den Tisch. Ein „Original“, wie man sie hier zuhauf fand. Er trug eine Schiebermütze und hatte Augen, die schon alles gesehen hatten. „August Bebel“, brummte er unvermittelt in sein Bierglas. „Klara Zetkin. Rosa Luxemburg. Die sollen hier alle gesprochen haben. Sagt zumindest die Partei.“ Er kicherte heiser. „Ich sag euch wat, Kinder. Dat ist alles Überfrachtung. Historischer Lametta. Hier ging’s immer ums Überleben, um Maloche und darum, am Ende des Tages noch stehen zu können. Wedding, drüben im Westen, die haben ihre Tradition vergessen. Aber wir hier? Wir sind noch der echte Rote Kies.“

Frank nickte dem Alten zu. Er spürte diese seltsame Verbundenheit, dieses „merkwürdige Ingredienz“, das die Menschen hier verband. Es war eine Mischung aus Trotz, Gelassenheit und einem ganz eigenen Witz, der notwendig war, um die Mangelwirtschaft zu ertragen.

„Schon jeden früh, bin ich um vier Uhr wach“, summte jemand am Nachbartisch das Lied vom „King vom Prenzlauer Berg“. Alle lachten. Man kannte sich, man verstand sich. Hier herrschte eine Intimität, die es in den anonymen Neubauvierteln von Marzahn oder Lichtenberg so nicht gab.

Spät in der Nacht machten sie sich auf den Heimweg. Die Straßen waren jetzt leer. Der Lärm der Schönhauser Allee war einem stetigen Rauschen gewichen. Sie liefen an den dunklen Fassaden vorbei, hinter denen tausende Schicksale schliefen. Frank sah die Einschusslöcher im Putz, die wie Narben im Gesicht eines alten Boxers wirkten.

Sie blieben vor Sabines Neubau an der Greifswalder Straße stehen. Der Block ragte weiß und glatt in den Nachthimmel. Er wirkte sauber, effizient und vollkommen seelenlos. „Kommst du noch mit hoch?“, fragte Sabine. „Es ist warm.“

Frank zögerte. Die Verlockung der Zentralheizung war groß. Aber da war noch etwas anderes. Ein Gefühl, das er nur hatte, wenn er allein durch die dunklen Schluchten der Altbauten lief. „Heute nicht“, sagte er und küsste sie auf die Stirn. „Ich muss noch was fertig machen.“

Er ging zurück. Zurück in den Kiez, wo der Putz von den Wänden rieselte. Als er in seinen Hinterhof einbog, war es totenstill. Nur von der Hochbahn hörte man das ferne Quietschen der Räder in der Kurve. Er stieg die vier Treppen hinauf, vorbei an der Außentoilette, schloss seine Tür auf und atmete tief ein. Es roch nach Kohle. Nach Arbeit. Nach Vergangenheit.

Er trat ans Fenster und schaute hinaus auf die Dächerlandschaft, auf die Schornsteine, die wie schwarze Finger in den Himmel ragten. Günter Kunert hatte recht. Alle menschlichen Beziehungen, sozialer wie historischer Natur, hatten sich in diesen Steinen verfestigt. Das Leben hier war hart, ja. Es war mühselig, die Briketts zu schleppen, nach Schuhen anzustehen und auf warmes Wasser zu warten.

Aber es war echt.

Frank legte eine Platte auf, ganz leise. Jazz. Er setzte sich in seinen alten Sessel, zog die Decke bis zum Kinn und dachte an Sabine in ihrem warmen Betonblock. Vielleicht würde er eines Tages nachgeben. Vielleicht würde er den Antrag ausfüllen, heiraten, Kinder kriegen und auf ein Auto warten. Der bürgerliche Wohlstand kroch langsam auch in den Prenzlauer Berg, unaufhaltsam wie Efeu an einer Ruine.

Aber noch nicht heute.

Heute Nacht gehörte er noch dem Roten Kies. Er gehörte zu den Originalen, den Lebenskünstlern, den Verweigerern der glatten Fassade. Er war Teil dieses riesigen, atmenden Organismus, der dem Verfall trotzte und dabei lebendiger war als alles andere in dieser geteilten Stadt.

„Adi Mexico“, flüsterte er in die Dunkelheit, eine Zeile aus einem alten Schlager zitierend, die hier eine ganz eigene Bedeutung bekam. „Ich grüß dich mit meinem Sombrero.“

Er schloss die Augen. Morgen würde der Kohlenmann wieder kommen. Die Bahn würde wieder rattern. Die Schlange vor dem Schuhladen würde wieder da sein. Und Frank würde wieder aufstehen, das kalte Wasser ins Gesicht klatschen und hinausgehen auf die Schönhauser, die berlinischste aller Straßen. Denn er liebte sie. So einfach war das.

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