Miete für 50 Mark und keine Arbeitslosen? Diese 25 DDR-Fakten beweisen, dass der Osten Alltagsprobleme löste, an denen wir heute scheitern.

Der alte Eisenschlüssel in Klaus’ Hand fühlte sich schwer und kalt an, vertraut wie ein alter Freund. Er stand vor dem verrosteten Tor seines ehemaligen Betriebsgeländes, das heute ein „Lost Place“ für abenteuerlustige Jugendliche war. Neben ihm stand Lena, seine zwanzigjährige Enkelin, die ihr Smartphone in der Hand hielt und skeptisch auf das wuchernde Unkraut blickte.

„Hier hast du also vierzig Jahre lang gearbeitet, Opa?“, fragte sie, während der Wind durch die zerbrochenen Fensterscheiben der alten Werkhalle pfiff.

„Nicht nur gearbeitet, Lena. Hier habe ich gelebt“, antwortete Klaus leise. Er drehte sich um und begann langsam den Weg zurück in die Siedlung zu gehen, Lena folgte ihm. „Weißt du, wenn ihr heute über die DDR redet, dann fallen Worte wie Mauer, Stasi und Mangelwirtschaft. Und das ist alles wahr. Aber es gibt eine andere Wahrheit, eine leisere, die langsam verblasst. Eine Wahrheit über ein Leben, das in vielerlei Hinsicht einfacher, sicherer und – ja, ich wage es zu sagen – menschlicher war.“

Sie liefen durch die Straßen des Neubaugebiets. Die Plattenbauten waren inzwischen bunt saniert, aber Klaus sah noch die grauen Fassaden von damals – und er sah das Leuchten in den Augen seiner Frau Monika, als sie 1978 den Zuweisungsschein für ihre Wohnung bekommen hatten.

„Wohnen war ein Menschenrecht, kein Geschäft“, begann er zu erzählen, seine Stimme fest. „Als wir diese Dreizimmerwohnung bekamen, zahlten wir knapp fünfzig Mark. Das waren vielleicht fünf Prozent meines Lohns. Niemand hatte Angst, sein Dach über dem Kopf zu verlieren. Es gab keine Obdachlosen, die in Hauseingängen froren. Klar, wir mussten Jahre auf die Wohnung warten, und sie war kein architektonisches Meisterwerk. Aber sie hatte Fernwärme, warmes Wasser aus der Wand und ein eigenes Bad. Für uns war das Luxus. Und dieser Luxus gehörte uns sicher, ein Leben lang.“

Lena blieb stehen, als sie an einem modernen Spielplatz vorbeikamen, der von einem hohen Zaun umgeben war. „War es wirklich so sicher, wie Oma immer sagt?“

Klaus lächelte wehmütig. Er erinnerte sich an die Sommerabende, an denen er als Kind erst nach Hause kam, wenn die Straßenlaternen angingen. „Sicherheit… das ist heute ein Wort, das mit Überwachungskameras und Alarmanlagen zu tun hat. Damals war es ein Gefühl. Wir waren Schlüsselkinder, Lena. Wir trugen den Wohnungsschlüssel an einem Band um den Hals und niemand hatte Angst, dass wir entführt würden oder uns etwas passierte. Gewaltverbrechen, Drogen, Überfälle auf offener Straße – das war für uns so fremd wie das Leben auf dem Mars. Frauen konnten nachts allein durch den Park gehen. Diese Freiheit, sich angstfrei zu bewegen, ist etwas, das wir erst vermissten, als sie weg war.“

Sie spazierten weiter zur alten Schule, die jetzt ein Gymnasium war. Klaus deutete auf den Hinterhof. „Dort war die SERO-Annahmestelle. Weißt du, was das ist?“ Lena schüttelte den Kopf. „Wir haben Recycling gelebt, bevor es ein Modewort wurde. Nicht, weil wir so grüne Ideologen waren, sondern weil Ressourcen kostbar waren. Wir Kinder haben Altpapier, Flaschen und Gläser gesammelt. Dafür gab es Geld – unser Taschengeld. Wir lernten früh: Nichts ist Müll. Alles hat einen Wert. Milch kam in Glasflaschen, Brötchen in die Papiertüte. Plastik war selten und teuer. Wir reparierten Dinge, statt sie wegzuwerfen. Mein Toaster hielt zwanzig Jahre, und wenn er kaputt war, lötete ich ihn wieder zusammen. Das war Umweltschutz aus Mangel, ja, aber es funktionierte.“

Klaus’ Blick wanderte zu einem modernen Ärztehaus auf der anderen Straßenseite. „Dort stand früher unsere Poliklinik“, sagte er. „Das war das beste Gesundheitssystem, das ich je erlebt habe. Alles unter einem Dach: Hausarzt, Zahnarzt, Frauenarzt, Röntgen, Labor. Du bist morgens mit Bauchschmerzen rein und kamst mittags mit der Diagnose und den Medikamenten wieder raus. Keine Wartezeiten von drei Monaten auf einen Facharzttermin, kein Gerenne durch die halbe Stadt. Und niemand, absolut niemand, musste sich fragen, ob er sich die Behandlung leisten kann. Prävention war alles. In der Schule, im Betrieb – wir wurden ständig durchgecheckt. Der Staat brauchte uns gesund, das stimmt, aber für uns fühlte es sich an wie Fürsorge.“

Lena hörte zu, fasziniert von der Leidenschaft in seiner Stimme. „Aber Oma hat immer so viel gearbeitet, oder?“

„Oma war eine Heldin“, sagte Klaus stolz. „Und das System hat es ihr ermöglicht. In der DDR mussten sich Frauen nicht entscheiden: Kind oder Karriere. Es gab das Babyjahr, bezahlt, mit Jobgarantie. Und danach? Einen garantierten Krippenplatz. Kostenlos. Die Erzieherinnen waren studierte Pädagogen, keine bloßen Aufpasser. Deine Oma war Ingenieurin. Sie verdiente exakt dasselbe wie ich. Gender Pay Gap? Das Wort gab es nicht. Frauen waren Baggerfahrer, Richter, Chefärzte. Das war völlig normal. Neunzig Prozent der Frauen arbeiteten. Das war echte Gleichberechtigung, nicht nur in Sonntagsreden.“

Sie setzten sich auf eine Bank in der Nähe der Straßenbahnhaltestelle. Eine moderne Niederflurbahn glitt leise vorbei. „Weißt du, was ein Ticket damals kostete?“, fragte Klaus. „Zwanzig Pfennig. Egal wie weit. Bus und Bahn waren so billig, dass das Auto oft stehen blieb. Jedes Dorf war angebunden. Wir hatten eine Mobilität, die niemanden ausschloss. Und wenn wir zur Arbeit fuhren…“ Er hielt inne, suchte nach den richtigen Worten.

„Die Arbeit“, sagte er dann, „war mehr als nur Geldverdienen. Es gab keine Arbeitslosigkeit. Das Recht auf Arbeit stand in der Verfassung. Niemand hatte Existenzangst. Niemand musste fürchten, morgen auf der Straße zu stehen, weil der Aktienkurs fiel. Diese Sicherheit machte etwas mit den Menschen. Der Betrieb war wie eine zweite Familie. Wir hatten unsere Brigadefeiern, wir halfen uns gegenseitig. Wenn einer ein Haus baute, standen am Wochenende zehn Kollegen auf der Matte. Einer konnte mauern, der andere Elektrik, der dritte organisierte Zement. ‘Einer für alle, alle für einen’ – das war nicht nur Propaganda, das war unser Überlebensprinzip. Diese Solidarität, dieses Gemeinschaftsgefühl, das vermisse ich am meisten. Heute lebt jeder hinter seinem hohen Zaun.“

Lena dachte an ihre eigene Ausbildung, den Stress, die vielen Bewerbungen. „Und die Ausbildung, Opa?“

„Jeder bekam einen Platz“, sagte Klaus bestimmt. „Niemand wurde zurückgelassen. Wir hatten ein duales System, lange bevor der Westen es für sich entdeckte. Schule und Betrieb waren eng verzahnt. Wer lernen wollte, durfte lernen. Und Bildung war durchlässig. Arbeiterkinder wurden Professoren, weil es keine Studiengebühren gab, sondern Stipendien. Bildung hing nicht vom Geldbeutel der Eltern ab.“

Ein paar Meter weiter sahen sie ein altes Kulturhaus, das nun als Eventlocation diente. Klaus lachte leise. „Dort haben wir Theater gespielt und Konzerte gehört. Kultur war spottbillig. Ein Theaterabend kostete so viel wie zwei Bier. Jeder sollte Zugang zu Kunst und Musik haben. Und Sport! Mein Gott, Lena, wir waren eine Sportnation. Jedes Kind wurde gefördert. Nicht nur die Olympioniken, auch der Breitensport. Kostenlose Vereine, Trainer, Ausrüstung. Wir waren ständig in Bewegung.“

Er seufzte und blickte auf seine Hände, die Hände eines Mannes, der sein Leben lang gearbeitet hatte. „Und jetzt, im Alter? Das Rentensystem war einfach. Wer gearbeitet hatte, bekam seine Rente. Keine Riester-Verträge, keine Aktienfonds, keine Angst vor Altersarmut. Bergleute und Schichtarbeiter durften früher gehen. Es war ein System, das harte Arbeit anerkannte.“

„Aber Opa“, wandte Lena ein, „es gab keine Bananen, keine Reisefreiheit…“

„Ich weiß, mein Kind“, unterbrach Klaus sie sanft. „Ich will die DDR nicht zurückhaben, so wie sie war. Die Enge, die Bevormundung, das fehlende Recht, einfach in den Zug nach Paris zu steigen. Aber wenn man ein Haus abreißt, sollte man die guten Steine aufheben, um das neue Haus zu bauen. Wir haben nach der Wende alles abgerissen. Die Polikliniken, das Recycling-System, die Schulformen, die Betriebsambulatorien. Wir haben das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.“

Er zeigte auf einen kleinen Kiosk. „Siehst du das? Früher war das eine HO-Kaufhalle. Die Lebensmittel dort waren vielleicht nicht in bunten Plastikverpackungen, aber sie waren sicher. Es gab keine Skandale, kaum Chemie. Erdbeeren gab es im Sommer, Kohl im Winter. Wir aßen regional und saisonal, weil es nicht anders ging – und heute nennen sie das ‘Bio’ und verlangen den doppelten Preis.“

Klaus stand auf. Seine Gelenke knackten, aber er fühlte sich leicht. Es tat gut, darüber zu sprechen. Nicht zu jammern, sondern zu erinnern. „Weißt du, Lena“, sagte er abschließend, während sie den Weg nach Hause einschlugen. „Es gab eine Wärme zwischen den Menschen, die nichts mit der Heizung zu tun hatte. Eine Wärme, die aus der Notwendigkeit entstand, sich aufeinander verlassen zu müssen. Wir hatten keine Ellenbogengesellschaft. Wir hatten Zeit. Wir planten langfristig – die Wirtschaft, die Städte, das Leben. Heute hetzen wir von Quartalsbericht zu Quartalsbericht.“

Sie erreichten wieder das Gartentor von Klaus’ kleinem Häuschen. Er drehte den Schlüssel im Schloss. „Was ich dir sagen will, ist: Ein System kann scheitern, aber das bedeutet nicht, dass alles daran falsch war. Die Sicherheit, dass dein Kind gut betreut ist. Die Gewissheit, dass du morgen noch gebraucht wirst. Das Gefühl, dass Bildung und Gesundheit keine Waren sind. Das sind Dinge, die wir verloren haben. Und vielleicht“, er zwinkerte ihr zu, „vielleicht ist es an deiner Generation, diese guten Steine wiederzufinden und sie neu zusammenzusetzen.“

Lena drückte seine Hand. Sie sah den alten Mann nun mit anderen Augen. Nicht als jemanden, der in einer grauen Diktatur gelebt hatte, sondern als jemanden, der eine Gemeinschaft erlebt hatte, von der sie heute oft nur träumen konnte. „Danke, Opa“, sagte sie leise. „Vielleicht fange ich damit an, meinen Toaster zu reparieren.“

Klaus lachte, ein herzliches, tiefes Lachen. „Das ist ein Anfang, mein Kind. Das ist ein Anfang.“

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