Doch der Gedanke ließ ihn nicht los. Er wusste, dass dieser Ohrring eine Spezialanfertigung war. Ein Unikat. Statt sich auf die Bilanzen zu konzentrieren, die vor ihm lagen, schlich Klaus am Nachmittag in die Küche. Er musste sie wiedersehen. Greta stand am großen Arbeitsblock und bereitete den Teig für Madeleines vor. Der Duft von Zitrone und Vanille erfüllte den Raum. Als Klaus eintrat, verstummten die Gespräche der Küchenhilfen. Greta sah auf.
„Herr Richter“, sagte sie und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. „Es ist mir eine Ehre.“ Klaus musterte sie. Er suchte in ihren Zügen nach Lena. Er sah eine fremde Frau, gezeichnet vom Leben, aber da war etwas in ihren Augen… eine Wärme, die ihm vertraut vorkam. Und da war der Ohrring. Er baumelte bei jeder ihrer Bewegungen, ein stummes Zeugnis. „Fühlen Sie sich wohl bei uns?“, fragte er, seine Stimme klang belegt. Greta berührte instinktiv ihr Ohr, als spürte sie seinen brennenden Blick auf dem Schmuckstück. „Ja, vielen Dank. Es ist ein schönes Haus.“
Klaus hielt es nicht mehr aus. Er kehrte in sein Büro zurück und rief Martin, seinen loyalsten Assistenten. „Ich brauche alles über Greta Müller“, sagte Klaus, ohne vom Fenster wegzusehen. „Jedes Detail. Wo sie herkommt, wer ihre Eltern sind, wo sie aufgewachsen ist. Und ich brauche es sofort.“
Martin war effizient. Zwei Tage später lag eine Mappe auf Klaus’ Schreibtisch. „Es ist merkwürdig, Chef“, sagte Martin und runzelte die Stirn. „Greta Müllers Lebenslauf ist lückenlos, was ihre Arbeit betrifft. Aber ihre Kindheit… sie existiert kaum auf dem Papier.“ Klaus blätterte die Seiten um. „Sie wuchs bei einer Pflegefamilie in der Nähe von Frankfurt auf“, fuhr Martin fort. „Es gibt keine Geburtsurkunde. Sie wurde als Findelkind registriert. Man fand sie im Alter von etwa zehn Jahren in der Nähe eines Bahnhofs. Verwirrt, ohne Erinnerung an ihren Namen oder ihre Herkunft. Die Behörden gaben ihr einen neuen Namen.“
Klaus spürte, wie ihm kalt wurde. Zehn Jahre. Das Alter passte. Der Bahnhof. Es passte. „Und der Ohrring?“, fragte Klaus leise. „In den Polizeiakten von damals“, Martin zog ein vergilbtes Dokument hervor, „wurde vermerkt, dass das Kind einen einzelnen goldenen Ohrring trug. Man hat ihn ihr gelassen, weil sie hysterisch wurde, wenn man versuchte, ihn ihr wegzunehmen.“
Klaus schloss die Augen. Tränen brannten unter seinen Lidern. Es war keine Gewissheit, aber es war mehr Hoffnung, als er in fast zwei Jahrzehnten gehabt hatte. „Finde heraus, wer die Vermittlung damals gemacht hat“, befahl Klaus. „Ich will wissen, wie ein zehnjähriges Mädchen einfach so auftauchen und neu benannt werden kann, ohne dass jemand die Verbindung zu meiner vermissten Tochter herstellt.“
Die Spur führte zu einem Mann namens Wilhelm Krüger. Er war damals ein Sachbearbeiter im Jugendamt gewesen, aber Martin fand heraus, dass gegen ihn mehrfach wegen Unregelmäßigkeiten ermittelt wurde – Verdacht auf Vertuschung, schlampige Aktenführung, vielleicht sogar Bestechung, um Adoptionen zu beschleunigen. Klaus zögerte nicht. Er fuhr selbst.
Krüger lebte in einem heruntergekommenen Haus am Rande einer Kleinstadt. Er war ein alter, verbitterter Mann, der die Tür nur einen Spaltbreit öffnete. „Was wollen Sie?“, blaffte er. Klaus drückte gegen die Tür. „Ich suche Antworten über ein Mädchen, das vor 17 Jahren gefunden wurde. Ein Mädchen mit einem goldenen Stern.“ Krügers Gesicht wurde fahl. Er versuchte, die Tür zu schließen, doch Klaus war stärker. „Ich bin Klaus Richter. Und ich werde nicht gehen, bis Sie mir die Wahrheit sagen.“
In dem muffigen Wohnzimmer brach Krüger schließlich zusammen. „Es war Chaos damals“, krächzte der alte Mann. „So viele Kinder, so wenig Personal. Das Mädchen… sie sprach nicht. Sie war traumatisiert. Jemand wollte sie schnell in eine Pflegefamilie stecken. Es gab Paare, die warteten, die zahlten… ich habe nicht viele Fragen gestellt. Ich habe die Akte ‚bereinigt‘, damit sie schneller vermittelt werden konnte. Ich dachte, ich tue ihr einen Gefallen.“ „Sie haben ihre Identität ausgelöscht!“, schrie Klaus. „Sie haben verhindert, dass ich sie finde!“