„Sie werden platziert.“
Das Schild hing an einer Kordel im Eingangsbereich und war so etwas wie das inoffizielle Wappen der DDR-Gastronomie. Es war ein warmer Julitag im Jahr 1987, und Berlin flirrte vor Hitze. Anna zupfte ihr Sommerkleid zurecht und sah Paul an, der nervös an seinem Hemdkragen nestelte.
„Bist du sicher, dass wir das in einer Woche schaffen?“, fragte sie und blinzelte in die Sonne, die sich in der riesigen Kugel des Fernsehturms spiegelte. Paul grinste, und in diesem Grinsen lag der ganze Übermut eines Mannes, der gerade seinen Urlaubsschein und den Schlüssel zum himmelblauen Trabant 601 seines Vaters in der Tasche hatte. „Anna, wir werden nicht nur essen. Wir werden speisen. Wir machen eine Tour de Gourmet durch die Republik. Von der Ostsee bis in den Thüringer Wald. Ich habe gespart, ich habe reserviert, und ich habe Hunger.“
Ihre Reise begann nicht am Boden, sondern im Himmel. 207 Meter über dem Alexanderplatz.

Über den Dächern von Berlin: Das Telecafé
Der Aufzug schoss in die Höhe, und Anna spürte den Druck auf den Ohren. Als sich die Türen öffneten, betraten sie eine Welt aus Chrom, Leder und dem Duft von Kaffee. Das Telecafé. Es war mehr als nur ein Restaurant; es war eine Botschaft an den Westen: Seht her, wir sind modern. Die Kellnerinnen trugen Kostüme, die aussahen wie die von Flugbegleiterinnen, was perfekt passte, denn Anna fühlte sich, als würde sie schweben. Während sie einen Schokoladen-Nuss-Becher löffelten und dazu einen sowjetischen Wodka nippten, drehte sich die Welt um sie herum. „Schau mal“, sagte Paul und deutete nach unten. „In einer Stunde haben wir uns einmal um die eigene Achse gedreht.“ Die Inneneinrichtung von Richard Wilhelm mit den verchromten Lampen wirkte futuristisch, fast wie in einem Raumschiff. An der Wand leuchtete das Motivbild von Wilhelm Kühn, das Assoziationen zur Kosmonautik weckte. Es war ein erhabener Start. Die Stadt lag ihnen zu Füßen, winzig und friedlich.
Ein Hauch von Moskau und Italien in der Hauptstadt
Wieder am Boden, führte Paul sie die Karl-Marx-Allee entlang. Die breite Prachtstraße war beeindruckend, aber ihr Ziel war das Café Moskau. Schon von weitem sahen sie den Sputnik über dem Eingang thronen – ein lebensgroßes Geschenk des sowjetischen Botschafters. „Brüderlichkeit geht durch den Magen“, witzelte Paul, als sie das Mosaik „Aus dem Leben der Völker der Sowjetunion“ im Eingangsbereich passierten. Im Inneren war es kühl und elegant. Sie bestellten sich an der Bar einen Mokka und beobachteten das Treiben. Es war ein offenes Geheimnis, dass hier nicht nur gegessen, sondern auch Geschäfte gemacht wurden – manche offiziell, manche auf dem Schwarzmarkt. Anna kaufte in der kleinen Kunstgewerbeverkaufsstelle „Natascha“ ein kleines hölzernes Püppchen als Souvenir. „Für unsere Sammlung“, sagte sie.
Doch der Abend sollte noch eine Überraschung bereiten. Paul hatte von einem Geheimtipp gehört. In der Oberspreestraße 176, weit ab vom Schuss, gab es das Fioretto. „Ein Italiener? Hier?“, hatte Anna zweifelnd gefragt. „Offiziell ist es ein Nudelrestaurant“, erklärte Paul, während er den Trabi einparkte. „Doris Burneleid, die Chefin, ist eine Zauberin.“ Und das war sie. Da es keinen echten Parmesan gab, hatte die Küche improvisiert: Käse, in mit Weißwein getränkten Tüchern gereift, lagerte im Lüftungsschacht. Sie nannten es Parmigiano ala Fioretto. Das Dessert war eine Creme aus „Leckermäulchen“-Quark und Sahne, die schmeckte wie das beste Tiramisu westlich der Elbe. Es war der Beweis, dass Not nicht nur erfinderisch macht, sondern auch köstlich schmecken kann.
Der schnelle Hunger: Von Ketwurst bis Grilletta
Am nächsten Morgen, bevor sie Berlin verließen, musste es schnell gehen. Der Trabi war vollgetankt, das Gepäck verstaut. Am Alexanderplatz holten sie sich die Antwort des Ostens auf das westliche Fastfood. „Eine Ketwurst, bitte!“, rief Paul. Die Verkäuferin spießte ein weiches Brötchen auf einen heißen Metallzylinder, drückte Ketchup hinein und versenkte die Wurst. Keine Sauerei, kein Kleckern – Ingenieurskunst am Imbissstand. Anna entschied sich für eine Grilletta am Stand nebenan – die ostdeutsche Bulette im Brötchen, garniert mit süß-säuerlichem Letscho. Es war einfach, es kostete kaum zwei Mark, und es schmeckte nach Ferienbeginn.
Auf nach Süden: Potsdam und Leipzig
Ihre Reise führte sie weiter nach Potsdam. Auf dem Brauhausberg ragte das Restaurant Minsk empor. Die terrassenartige Architektur mit den großen Glasfronten bot einen fantastischen Blick über die Stadt. Hier, in diesem Zeichen der Freundschaft zu Belarus, aßen sie deftig. Es gab Soljanka, schwere Fleischgerichte und natürlich Wodka. Das Stadtwappen von Minsk leuchtete an der Fassade, und Anna fühlte sich kurzzeitig wie in einer anderen Welt, weit weg vom preußischen Potsdam.
Doch ihr eigentliches Ziel für den Abend war Leipzig. Die Messestadt hatte einen Ruf zu verlieren, und im Interhotel Merkur wartete das Sakura. „Bist du verrückt?“, flüsterte Anna, als sie die Preise auf der Karte sah. „44 Mark 60 für Meerestiere im Kochtopf?“ „Sonderpreisstufe S“, sagte Paul und zwinkerte. „Man lebt nur einmal.“ Das Sakura war eine Offenbarung. Japan mitten in Sachsen. Statt eines Gemeinschaftsbades, wie man es aus Erzählungen über Suhl kannte, bekamen sie hier heiße Waschlappen für Nacken und Stirn gereicht. Die Bedienung trug Kimonos, die zwar in der DDR genäht waren, aber absolut authentisch wirkten. Sie aßen rohes Forellenfilet mit grünem Meerrettich – Wasabi, wie Paul weltmännisch erklärte. Es war ein teures Vergnügen, aber in diesem hellen, schlichten Raum vergaß man für zwei Stunden, dass draußen die Leipziger grauen Fassaden warteten.
Zum Nachtisch zogen sie weiter. Leipzig war berühmt für seine Mokka-Milch-Eisbars. Die Architektur war modern, offen, ein Treffpunkt der Jugend. Sie ergatterten einen Platz und bestellten den Klassiker: den Schwedeneisbecher. Vanilleeis, Apfelmus, Eierlikör und Sahne. Während sie löffelten, lief im Hintergrund Musik von Thomas Natschinski. „Mokka-Milch-Eisbar“, summte Anna mit. Es schmeckte nach Freiheit und süßer Sünde.
Der Fresswürfel und die Krusta in Dresden
Der Trabi knatterte zuverlässig Richtung Elbflorenz. Dresden empfing sie mit barockem Glanz und sozialistischem Beton. Am Postplatz stand ein Gebäude, das die Dresdner liebevoll-spöttisch den Fresswürfel nannten. Offiziell hieß es „Gaststätte am Zwinger“, aber der kantige Bau ließ keinen anderen Namen zu. „Hier gibt es alles“, sagte Paul. „Vom schnellen Teller bis zum feinen Tuch.“ Es war gigantisch. 1400 Plätze. Sie entschieden sich für die Selbstbedienung, denn sie wollten weiter. Die Atmosphäre war funktional, viel Beton, klare Linien, aber das Essen war solide und ehrlich. Doch Dresden hatte noch eine kulinarische Innovation zu bieten: Die Krusta. In einer der Krusta-Stuben probierten sie das rechteckige, handgroße Stück Teig. Roggenmehl, Kümmel, Paprika – es war keine Pizza, es war etwas Eigenes, Herzhaftes, das perfekt in die Hand passte. „Besser als das Pizzabüffet“, urteilte Anna.
Exotik im Thüringer Wald: Der Waffenschmied
Der Höhepunkt der Reise wartete in Suhl. Paul war seit Monaten aufgeregt deswegen. „Der Waffenschmied“, flüsterte er ehrfurchtsvoll, als sie den Wagen parkten. Rolf Anschütz hatte hier etwas geschaffen, das eigentlich unmöglich war. Ein japanisches Restaurant mitten im Thüringer Wald, so authentisch, dass selbst japanische Geschäftsleute hierher pilgerten. Die Prozedur war nichts für Schüchterne. „Wir müssen was?“, fragte Anna ungläubig. „Baden“, sagte Paul. „Außen pudelnackt, innen angefeuchtet. So ist die Tradition.“ Und so saßen sie kurz darauf in einem Zuber, bevor sie in Kimonos gehüllt zu Tisch gebeten wurden. Es war eine vierstündige Zeremonie. Sukiyaki, Sushi, Sashimi – Begriffe, die für den durchschnittlichen DDR-Bürger wie Zaubersprüche klangen. Zutaten, die tonnenweise aus Japan eingeflogen wurden. Es kostete ein Vermögen, fast 140 Mark, aber es war magisch. Die Mitarbeiter zelebrierten jeden Handgriff. Für einen Abend waren Anna und Paul nicht mehr in Suhl, sie waren in Kyoto.
Goldbroiler und Meeresrauschen
Die Rückreise Richtung Norden war geprägt von einfacheren Genüssen. In fast jeder Kreisstadt sahen sie die Schilder: Zum Goldbroiler. „Lass uns anhalten“, bat Anna. „Ich habe Lust auf Hähnchen.“ Die Bedienung im Pepita-Dirndl brachte ihnen zwei halbe Hähnchen. Es waren keine „Gummiadler“, jene mageren Vögel, über die man Witze machte. Nein, das hier waren KIM-Broiler, fleischig, knusprig, frisch vom Kombinat Industrielle Mast. Dazu Pommes und eine Scheibe Zitrone. Wir aßen mit den Fingern, fettig und glücklich. Es war das ultimative Familienessen der Republik.
Ein paar Stunden später, kurz vor Berlin, machten sie noch einen Halt bei einer Gastmahl des Meeres-Filiale. Rudolf Krobot, der berühmte Fernsehkoch, hatte diese Kette populär gemacht. „Fisch muss schwimmen“, sagte Paul und bestellte ein Radeberger dazu. Sie aßen Tessiner Fischschnitzel und die unvermeidliche, aber köstliche Fischsoljanka. Die maritime Deko mit den Fischernetzen und Aquarien wirkte beruhigend. Es war erstaunlich, wie vielfältig Fisch zubereitet werden konnte, wenn man die richtigen Tipps vom Fischkoch kannte.
Das große Finale: Currywurst und Koliba
Zurück in Berlin, der Kreis schloss sich. Doch bevor sie nach Hause fuhren, gab es noch zwei Pflichttermine. Erstens: Die Schönhauser Allee. Unter der Hochbahn ratterte die U-Bahn, und unten stand die Schlange bei Konopke. „Eine Curry ohne Darm, bitte.“ Die Wurst wurde nicht geschnitten, sie schwamm in der Soße, und das Brät war dank der Lauge knackig, obwohl kein Darm es hielt. Familie Ziervogel hatte aus der Not eine Legende gemacht. Anna biss hinein, und der scharfe Geschmack der Soße weckte ihre Lebensgeister.
Den Abschluss ihrer Reise wollten sie jedoch ruhig angehen. Sie fuhren nach Berlin-Grünau, ans Wasser. Dort stand das Restaurant Koliba. Es war eine Blockhütte, rustikal, gemütlich, mit Blick auf den See. Slowakische Spezialitäten standen auf der Karte. „Auf uns“, sagte Paul und hob sein Glas Rotwein. Sie bestellten Brimsenknödel und ein deftiges Wildgulasch. Die Holzbalken der Hütte strahlten Wärme aus. Es war der perfekte Ort, um die Woche Revue passieren zu lassen.
„Weißt du“, sagte Anna nachdenklich, während sie auf den See hinausblickte. „Man sagt immer, wir hätten nichts. Dass alles grau und gleich schmeckt. Aber wenn man genau hinsieht…“ „…dann findet man Sushi im Wald, Italien in Oberschöneweide und den Weltraum am Alexanderplatz“, vollendete Paul ihren Satz.
Sie dachten an den Prunk des Palasthotels, wo sie im Jade asiatisch und im Rôti d’Or französisch gegessen hatten – Orte, an denen man sich fühlte wie ein Westreisender, umgeben von glitzernden Kronleuchtern und dicken Teppichen. Sie dachten an den Trubel im Dresdner Pick-Nick, dem „dreckschen Löffel“, der trotz seines Rufes immer voll war, weil das Essen eben doch schmeckte und der Preis stimmte.
Die Gastronomie der DDR war wie das Land selbst: Ein Flickenteppich aus Improvisation, staatlichem Pomp, regionaler Tradition und dem unbändigen Willen, aus dem Vorhandenen das Beste zu machen.
„War es das wert?“, fragte Paul und tätschelte seine Brieftasche, die deutlich dünner war als vor einer Woche. Anna lachte und nahm seine Hand. „Jeder einzelne Pfennig, Paul. Jeder einzelne Pfennig.“
Sie saßen noch lange in der Koliba, während die Sonne über dem Wasser unterging. Draußen parkte der himmelblaue Trabi, der sie treu durch die kulinarische Landschaft der Republik getragen hatte. Sie waren satt, nicht nur vom Essen, sondern von Eindrücken. Ein Eisbecher in der Mokka-Milch-Bar, ein Broiler auf die Hand, ein Hauch von Luxus im Interhotel – Essen gehen in der DDR war eben weit mehr als nur Nahrungsaufnahme. Es war ein kleines Abenteuer, ein Stück Freiheit auf dem Teller.
Und während sie dort saßen, wussten sie, dass diese Erinnerungen bleiben würden. Länger als der Geschmack von Soljanka oder Mokka-Eis. Es waren Erinnerungen an eine Zeit, die einzigartig war, mit all ihren Ecken, Kanten und unerwarteten Köstlichkeiten.
„Nächstes Jahr“, sagte Paul verträumt, „fahren wir wieder nach Suhl. Ich glaube, ich habe meinen Kimono im Waffenschmied vergessen.“ Anna boxte ihn lachend in die Seite. „Träum weiter. Nächstes Jahr gibt es Grilletta im Garten.“
Aber wer wusste schon, was das nächste Jahr bringen würde. Für den Moment war alles perfekt. Hier, am See, mit einem vollen Bauch und dem Herzen voller Geschichten.