Als die ersten Sirenen zu hören waren, blieben Richard Sterling noch genau 18 Stunden, in denen er glauben konnte, unantastbar zu sein.

Stunden später, im Hinterzimmer von Torino’s, dem exklusivsten Restaurant der Stadt, saß Vincent Washington am Kopf eines langen Tisches. Es sah aus wie ein Geschäftsessen auf höchster Ebene, doch dies waren keine CEOs. Dies waren die Leutnants der Washington-Verbrecherfamilie.
Vincent leitete das Treffen mit ruhiger Autorität. Er war nicht nur erfolgreich. Er war der Boss. Der Mann, der die Hälfte der Unterwelt der Stadt kontrollierte. Sein Handy summte. Er sah auf das Display: „Ma“. Sofort stand er auf. „Entschuldigt mich.“ Der Raum verstummte. Wenn Vincent einen Anruf von seiner Mutter entgegennahm, hielt alles andere an.
Er ging ins Nebenzimmer. „Ma, was ist los?“ Ihre ruhige Stimme kam durch den Lautsprecher: „Ich hatte heute ein kleines Problem beim Mittagessen. Ein Mann… er hat mich geschlagen.“ Die Temperatur im Raum schien um zwanzig Grad zu fallen. „Er hat was?“ Vincents Stimme blieb kontrolliert, aber jeder im Nebenraum hörte die tödliche Veränderung. „Sein Name ist Richard Sterling. Eine Art Anwalt.“ Vincent schloss die Augen. Der alte Vincent, der auf der Straße aufgewachsen war, wollte sofortige, brutale Vergeltung. Aber Dorothy hatte ihn besser erzogen. „Ma, hör zu. Sprich nicht mit Reportern. Unterschreib nichts. Ich kümmere mich darum.“ „Vincent, Liebling, du musst dich da nicht einmischen…“ „Ma.“ Das Wort war endgültig. „Jemand hat Hand an dich gelegt. Das ist jetzt Geschäftliches.“
Er kehrte in den Speisesaal zurück. Acht Augenpaare blickten ihn erwartungsvoll an. „Planänderung“, verkündete Vincent. „Tommy, ich brauche alles über einen Anwalt namens Richard Sterling. Finanzen, Familie, Feinde, Schwächen. In zwei Stunden.“ „Welche Art von Anwalt, Boss?“ „Die Art, die glaubt, er könne meine Mutter schlagen und damit durchkommen.“ Stühle scharrten, Hände bewegten sich zu verborgenen Waffen. „Boss“, sagte Maria Duca, seine Stellvertreterin, „sagen Sie nur das Wort.“ Vincent hob eine Hand. „Wir machen das richtig. Ma will Gerechtigkeit, keine Rache. Wir benutzen das System. Aber wir stellen sicher, dass das System richtig funktioniert.“
Während Sterling im Country Club mit seiner Version der Geschichte prahlte, tätigte Vincent Anrufe. Der erste ging an Bezirksstaatsanwältin Margaret Carter. Sie war drei Blocks von Dorothys Haus aufgewachsen und hatte dank Dorothys Empfehlungsschreiben ihr Jurastipendium bekommen. „Maggie, hier ist Vincent. Es geht um meine Mutter.“ „Vincent, ich kann nicht…“ „Jemand hat sie angegriffen. Richard Sterling. Ich muss wissen, ob dieser Fall die gebührende Aufmerksamkeit erhält.“ Lange Stille. „Schick mir die Fallnummer. Ich sehe sie mir persönlich an.“
Der zweite Anruf ging an Polizeipräsident Frank Walsh. Dorothy hatte ihm geholfen, als er als junger Polizist mit PTBS zu kämpfen hatte. Der dritte an Richterin Patricia Martinez, der Dorothy ihren ersten Job vermittelt hatte.
Einer nach dem anderen kontaktierte Vincent Menschen, die bei Dorothy Washington in der Kreide standen – nicht mit Geld, sondern mit Dankbarkeit. Dorothy Washington hatte jahrzehntelang in die Zukunft von Menschen investiert. Vincent Washington kommandierte die kriminelle Unterwelt durch Angst. Aber Dorothy Washington kommandierte etwas Mächtigeres: Respekt in der legalen Welt.
Der Zusammenbruch erfolgte schnell. Am nächsten Morgen, als die Handyvideos viral gingen, wurde Sterling von seiner Kanzlei vorgeladen. Angesichts der „Moralitätsklausel“ und der Flut von Klienten, die absprangen, wurde er auf der Stelle gefeuert. Fast zeitgleich interessierten sich Bundesermittler für Sterlings frühere Fälle – ein Muster von unterdrückten Diskriminierungsklagen und zum Schweigen gebrachten Minderheiten. Sein sorgfältig aufgebauter Ruf zerfiel zu Staub.
Der Gerichtssaal war überfüllt. Sterling, nun mit einem Pflichtverteidiger, sah aus wie ein gebrochener Mann. Im Publikum saß Dorothy, aufrecht und würdevoll. In der hintersten Ecke saß Vincent und beobachtete alles.