Zehn Minuten später verließ sie das Bad, das Gesicht zu einer Maske der Neutralität geformt. Sie begann, den Flur zu wischen, das Handy in der Tasche, die Aufnahme-App bereit.
„Nara, kommen Sie bitte hoch“, rief Lina von der Treppe. Es war ein Befehl.
Oben im Büro saß Lina am Schreibtisch. Deeus lehnte an der Wand und versperrte den Fluchtweg. Die Tür schloss sich hinter ihr. Klick.
„Sie sind clever, nicht wahr, Nara?“, begann Lina. „Waren Sie heute Morgen in der Klinik? Haben Sie in meinen Schubladen gewühlt?“ Eine versteckte Kamera. Sie wussten alles.
„Das Baby stirbt“, sagte Nara, ihre Stimme leise, aber fest. „Sie töten es.“ „Nein“, sagte Lina. „Wir lösen ein Problem. Artur ist ein reicher, einsamer Mann. Und dieses Baby… dieses Baby ist ein Fehler. Eine tägliche Erinnerung an eine tote Frau.“ „Sie töten ein Kind für Geld?“ „Wie viel wollen Sie?“, fragte Lina. „100.000? Sie verschwinden.“ „Ich will kein Geld. Ich will, dass Sie aufhören.“
Lina lachte. „Liebe Nara, das ist schon zu weit gegangen. Wir müssen diese Unannehmlichkeit jetzt beheben.“
Deeus zog ein kleines Fläschchen aus der Tasche – dieselbe klare Flüssigkeit. „Sie nehmen das hier“, sagte Lina. „Nur eine hohe Dosis Diazepam. Sie schlafen ein… eine Überdosis. Tragisch.“
Nara zitterte, aber sie hielt stand. Sie zog ihr Handy hervor. „Alles ist aufgenommen!“, rief sie, eine verzweifelte Lüge. „Und es ist bereits per E-Mail an meine Cousine und die Polizei geschickt!“
In diesem Moment flog die Bürotür auf.
Artur stand im Rahmen, der Anzug zerknittert, die Augen rot. „Was zum Teufel geht hier vor?“, donnerte er. „Schatz!“, rief Lina, Tränen schossen ihr in die Augen. „Diese Frau ist verrückt…“ „Ich habe alles gehört“, unterbrach Artur sie, seine Stimme nun ein gebrochenes Flüstern. „Die Gegensprechanlage… Ich habe sie versehentlich eingeschaltet. Ich habe jedes Wort gehört.“
Er starrte Lina an, dann Deeus, dann Nara. Er ging ins Nebenzimmer und kam mit Benjamin auf dem Arm zurück. Er betrachtete das kleine, zerbrechliche Bündel, als sähe er es zum ersten Mal.
„Ihr habt versucht, meinen Sohn zu töten.“ Es war keine Frage. Es war eine Feststellung. Die Masken waren gefallen.
Sechs Monate später saß Nara im Garten der Villa und beobachtete, wie Benjamin seine ersten wackeligen Schritte auf dem Rasen machte. Er war ein gesundes Kleinkind geworden, mit rosigen Wangen und einem lauten Lachen.
Artur saß neben ihr. Er hatte sich eine Auszeit genommen, um der Vater zu werden, der er sein musste. Lina und Deeus waren verurteilt worden. 12 Jahre für sie, 8 für ihn.
„Haben Sie darüber nachgedacht, was Sie tun wollen?“, fragte Artur.
Nara war nicht länger die Putzfrau. Sie war Benjamins offizielle Betreuerin, mit einem richtigen Vertrag und einer Krankenversicherung.
„Vielleicht eine Ausbildung“, sagte sie. „Krankenpflege.“ „Ich bezahle sie“, sagte Artur sofort. „Sie haben meinen Sohn gerettet, Nara. Kein Geld der Welt kann das aufwiegen. Aber ich kann Ihnen zumindest die Werkzeuge geben, um aufzubauen, was immer Sie wollen.“
Nara blickte auf den Jungen, der hinfiel, aufstand und lachte. Etwas hatte sich in ihr verändert. Sie wusste jetzt, dass ihre Stimme zählte. Sie hatte gelernt, dass unsichtbar zu sein nicht bedeutete, machtlos zu sein. Und dass der größte Mut manchmal nicht darin besteht, zu schreien, sondern leise zu sprechen – aber niemals zu schweigen.