Gegenwart: Gretas Wohnzimmer.
„Frau Müller“, begann David Kaufmann sanft. „Vor 17 Jahren haben Sie zwei Brüdern geholfen. Erinnern Sie sich noch an sie?“ „Ja“, flüsterte Greta. „Markus und Johann. Sie sagten mir ihre Namen, kurz bevor sie verschwanden. Ich habe jeden Tag an sie gedacht.“
Der Anwalt lächelte warmherzig und legte ein Foto auf den Tisch. Zwei erfolgreiche Geschäftsmänner in teuren Anzügen. Greta erkannte sofort die vertrauten Gesichtszüge. „Das sind sie! Was ist mit ihnen geschehen?“
„Das ist eine lange Geschichte“, sagte David. „Markus und Johann haben jahrelang nach Ihnen gesucht. Aber es gibt etwas Wichtiges, das Sie wissen müssen. Sie waren nicht die Waisenkinder, für die Sie sie hielten.“

Greta runzelte die Stirn. „Die beiden Jungen stammten aus einer der wohlhabendsten Familien Münchens, den von Westfalens. Ihr Vater war ein Immobilienmagnat.“ „Aber sie waren so verzweifelt! So hungrig!“ „Im Winter 2007 geriet die Familie in einen Finanzskandal. Das Vermögen wurde eingefroren, die Mutter kam in eine Klinik. Die Jungen flohen aus einem überfüllten Kinderheim und landeten auf der Straße. Sie kannten nur Luxus und waren völlig hilflos.“
Greta hielt den Atem an. „Das Ironische ist“, fuhr David fort, „dass zur selben Zeit ihre Großtante aus New York nach ihnen suchte. Sie fand sie schließlich – drei Monate, nachdem Sie sie das letzte Mal gesehen hatten – und nahm sie mit nach Amerika.“ „Sie wussten die ganze Zeit, wer sie waren?“, stammelte Greta.
David Kaufmann nickte ernst und legte ein zerknittertes Notizbuch auf den Tisch. „Markus führte damals Tagebuch. Sie waren intelligente Jungen. Sie sahen, wie Sie nach Feierabend für sie kochten. Sie versteckten sich und beobachteten, wie Ihr Chef Sie beschimpfte und Ihnen Geld abzog.“
Er schlug eine Seite auf. „15. Januar. Die nette Frau kam wieder. Johann sagt, ihre Schuhe sind kaputt und sie zittert vor Kälte. Warum hilft sie uns, wenn sie selbst so wenig hat?“ Tränen stiegen in Gretas Augen auf. David blätterte weiter. „20. Januar. Heute sahen wir sie streiten mit dem bösen Mann. Er schrie sie an wegen des Essens für uns. Sie weinte, aber sie kam trotzdem. Johann und ich haben beschlossen, wenn wir groß sind, werden wir ihr helfen.“
David sah sie an. „Sie waren Kinder aus privilegierten Verhältnissen. Sie verstanden Geld. Sie erkannten, dass Sie sich selbst schadeten. Das machte Ihre Güte in ihren Augen noch wertvoller. Hier… 15. Februar. Die Engelfrau verkaufte heute ihre Armbanduhr. Wir sahen sie beim Pfandleiher. Abends brachte sie uns extra viel Essen.“
Greta schluchzte leise. All die Jahre hatte sie geglaubt, ihre Opfer seien unbemerkt geblieben. „Als ihre Großtante sie fand“, schloss David, „waren ihre letzten Worte in München: ‚Wir müssen die Engelfrau finden.‘ Das wurde zu ihrer Lebensaufgabe.“
David griff nach seinem Telefon. „Sie warten übrigens draußen im Auto. Sie fürchteten, Sie könnten sich nicht mehr an sie erinnern.“ Greta nickte stumm, unfähig zu sprechen.
Als die Haustür aufging, blieb die Zeit stehen. Dort standen sie, Markus und Johann, erwachsene Männer. Aber in ihren Augen lag dieselbe Wärme. „Unser Engel“, flüsterte Markus, der Ältere, mit bebender Stimme. Die Umarmung, die folgte, war ein Tornado aus 17 Jahren aufgestauter Sehnsucht und Dankbarkeit. „Ich dachte, ich würde euch nie wiedersehen“, weinte Greta.
„Wir haben jeden Tag an Sie gedacht“, sagte Markus. „Sie waren unser moralischer Kompass. Wenn wir Entscheidungen treffen mussten, fragten wir uns: ‚Was würde Greta tun?‘“
Sie setzten sich. Markus öffnete eine elegante Mappe. „Greta, wir sind hier, um ein Versprechen einzulösen. Hiermit teilen wir Ihnen mit, dass Ihre Hypothek vollständig abbezahlt ist. Dieses Haus gehört Ihnen.“ Gretas Mund klappte auf. „Und das ist erst der Anfang“, lächelte Johann. „Wir haben einen Treuhandfonds eingerichtet, der Ihnen monatlich 5.000 € garantiert. Für den Rest Ihres Lebens. Sie müssen nie wieder arbeiten.“ „Aber das Wichtigste kommt noch“, sagte Markus ernst. „Wir gründen eine Stiftung hier in Deutschland. Die ‚Greta Müller Stiftung für Straßenkinder‘. Sie sollen die Ehrenvorsitzende werden. Wir haben 10 Millionen Euro als Startkapital bereitgestellt.“
„Wissen Sie, was das Ironischste ist?“, sagte Johann. „Die erste Filiale wird gegenüber dem ‚Goldenen Hirsch‘ eröffnet. Wir haben das Gebäude gekauft.“ Markus grinste. „Und raten Sie mal, wer dort als Berater arbeiten wird? Herr Klaus.“ „Klaus? Aber er hasste mich!“ „Menschen können sich ändern“, sagte Johann weise. „Als wir ihm letzten Monat die ganze Geschichte erzählten, brach er zusammen. Er bat um Vergebung. Er möchte den Rest seines Lebens damit verbringen, wiedergutzumachen, wie er Sie behandelt hat.“ David Kaufmann räusperte sich. „Herr Klaus hat übrigens seine gesamten Ersparnisse, 180.000 €, als erste private Spende für die Stiftung zur Verfügung gestellt. Er wartet draußen im dritten Wagen und hofft, dass Sie ihm vergeben.“
Johann nahm Gretas Hände. „Ihre kleine Geschichte ist zu einer Bewegung geworden. Dutzende unserer Geschäftspartner in Amerika begannen ihre eigenen Hilfsprojekte, nur weil sie von einer deutschen Kellnerin hörten, die ihr letztes Geld für fremde Kinder gab. Und jetzt wird sie zu einem Vermächtnis.“